Buch lesen: «Die Russische Revolution 1917», Seite 3

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Juden in größerer Anzahl lebten im Russischen Reich erst seit der Annexion von Gebieten im Westen, insbesondere seit den Teilungen Polens. Kleinere Gruppen wohnten im Kaukasus – die „Bergjuden“ – und in Zentralasien. Seit Ende des 18. Jahrhunderts bis in den Ersten Weltkrieg hinein durften die Juden in Westrussland, von einigen Ausnahmen abgesehen, ihren „Ansiedlungsrayon“ – einen breiten Streifen von Litauen bis zum Schwarzen Meer – nicht verlassen. Während des 19. Jahrhunderts wurden sie mehr und mehr diskriminiert. Auf diese Weise wollte der Staat sie von ihrer traditionellen Kultur abbringen, „zivilisieren“ und dann „integrieren“. Nur während der Reformzeit unter Zar Alexander II. schien sich eine Wende zum Besseren anzubahnen. Nach seiner Ermordung 1881 zerschlugen sich jedoch alle Hoffnungen. Vielerorts wurden russische Bauern und Kleinbürger mit der Behauptung, Juden stünden hinter dem Terroranschlag, zu gewalttätigen Ausschreitungen – Pogromen – aufgehetzt. [<<30] Dieses Muster wiederholte sich immer wieder in den folgenden Jahrzehnten, verstärkt durch die in konservativen Kreisen propagierte Judengegnerschaft.

Mehr und mehr Juden zweifelten deshalb an der Möglichkeit einer Integration. Die meisten gaben ihre Kultur nicht auf. Andere orientierten sich an nationalistischen oder sozialistischen Ideen. Persönlichkeiten wie Šlojme Zanvil Rapoport, der sich als Schriftsteller Semën Akimovič An-skij nannte, brachten den Zwiespalt zwischen Altem und Neuem zum Ausdruck. Er schrieb Erzählungen, Romane und Dramen in Russisch und Jiddisch, engagierte sich politisch als Sekretär Petr L. Lavrovs in der Sozialrevolutionären Partei, dann im Jüdischen Arbeiterbund. Unersetzliche Schätze jüdischen Volkslebens sammelte er durch Expeditionen in den „Ansiedlungsrayon“. Sein Ziel war es, in der Begegnung von Kulturen die jüdische Tradition mit den neuen Lebenswelten zu verbinden und dadurch eine neue Tradition und ein neues Volksbewusstsein zu schaffen. Er sah sich „an der Grenze zwischen zwei Welten“,9 zwischen Russisch und Jiddisch, Juden und Slaven, Juden und Christen, Mystik und Rationalismus. Nicht zufällig thematisierte sein bekanntestes Werk, das Drama „Dibuk“ („Der böse Geist“) mit dem Untertitel „Zwischen zwei Welten“, in dem er eine alte jüdische Legende verarbeitete, ein ruheloses Wesen zwischen Toten und Lebenden, das „neue Wege“ suchte.10

Die Vielfalt der Lebenswelten und die unterschiedlichen Interessen der Akteure konnten von den zarischen Regierungen immer weniger angemessen aufgegriffen und in eine überzeugende Politik umgesetzt werden. Erschwert wurden alle Bemühungen zusätzlich durch die Integration des russischen Imperiums in das Weltsystem. Russland besaß keine Kolonien außerhalb des Reiches – dafür kolonisierte es in den eigenen Regionen –, aber befand sich dennoch politisch, militärisch, ökonomisch und kulturell in globalen Verflechtungen, mit denen es sich auseinandersetzen musste. Die Erschließung des Raumes – namentlich durch die Eisenbahnen, aber auch durch neue Kommunikationsmedien wie Telegrafie und Post – diente als Teil der Kolonisierung der Festigung des Reiches und folgte zugleich militärstrategischen Überlegungen, machtpolitischen Interessen sowie dem Anschluss an den Weltmarkt und den „Weltverkehr“, erweiterte jedoch auch die Raumerfahrung zahlreicher Men [<<31] schen.11 Desgleichen wiesen die Migrationsströme – etwa Einwanderungen aus asiatischen Gebieten und Auswanderungen von Polen, Muslimen sowie Juden – auf die Eingliederung Russlands in internationale Vernetzungen hin. Als Imperium stand das Zarenreich in außenpolitischen Bündnissystemen und strebte nach Bewahrung seiner Großmachtstellung, nach der Festschreibung von Interessengebieten und nach machtpolitischer Expansion, die den Wunsch nach Ausweitung von wirtschaftlichen Marktbeziehungen einschloss. Damit war es von internationalen Konflikten betroffen.

Eine Reaktion darauf ist auch in Russlands Beitrag zum Völkerrecht zu sehen: Die Landkriegsordnung und die Einrichtung einer Schiedsgerichtsbarkeit, die 1899 in der Friedenskonferenz von Den Haag verabschiedet wurden, gingen nicht zuletzt auf russische Initiative zurück. Die Konzeptionen hatte der liberale Jurist Fedor F. Martens entworfen. Sie stellten einen bedeutenden Versuch dar, ein neues globales System zur Verhinderung von Kriegen und zumindest zur „Humanisierung“ der Kriegsführung zu schaffen. Eine entschiedene Abrüstung oder eine grundlegende Abwendung von einem durch militärische Stärke geprägten Denken blieben allerdings nach wie vor in weiter Ferne. Von der Einbindung in das kulturelle Weltsystem zeugten vielfältige Kontakte der Schriftsteller und Künstler, ein wachsender Austausch von Theaterkonzeptionen und Kunstausstellungen oder auch eine Internationalisierung des Sports, etwa mit der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Stockholm 1912.

Die internationale Verflechtung beeinflusste wesentlich die Wirtschaftspolitik. So gewann eine Industrialisierungskonzeption die Oberhand, die der Förderung der Produktionsmittelindustrie durch den Staat mittels Aufträgen und Heranziehung von Auslandskapital uneingeschränkten Vorrang gab, nicht zuletzt, um den Eisenbahnbau und die militärische Rüstung voranzutreiben. Dass schließlich am Vorabend des Ersten Weltkrieges rund die Hälfte der Neuinvestitionen aus dem Ausland kam, zeigt beispielhaft das Ausmaß der internationalen Verbindungen. Doch eine entschlossene und geradlinige Umsetzung der Konzeption gelang nicht. Die Richtungskämpfe zwischen „Petersburger“ und „Moskauer“ Unternehmern sowie zwischen Industriellen und Agrariern, die sich auch in Auseinandersetzungen innerhalb des Staatsapparates niederschlugen, verwässerten die entsprechenden politischen Maßnahmen. Die strukturelle Vielschichtigkeit Russlands führte zu einem „verkrüppelten Kapitalismus“.12 [<<32]

Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verschärften sich die Widersprüche und Gegensätze wegen einer für den Getreideexport ungünstigen weltwirtschaftlichen Konjunktur sowie sich zuspitzender sozialer Konflikte in Industrie und Landwirtschaft. Hinzu kamen Unruhen unter Nationalitäten und Studierenden sowie Versuche oppositioneller Bewegungen, sich insbesondere über die zemstva auch legal zu organisieren. Zusätzlichen Druck brachten außenpolitische Probleme, die mit der Expansion des Russischen Reiches in die Mandschurei zusammenhingen. Sie gipfelten 1904/05 im Krieg mit Japan. Die zarische Regierung erhoffte sich einen schnellen Sieg, um damit von den inneren Schwierigkeiten abzulenken, musste jedoch eine demütigende Niederlage hinnehmen. Dieser Prestigeverlust verstärkte die Unzufriedenheit im Land. Zudem führte der Krieg zu Versorgungsengpässen bei der Zivilbevölkerung.

Die Vereinigung der russischen Fabrikarbeiter St. Petersburg, die unter Leitung des ursprünglich regierungsfreundlichen Priesters Georgij A. Gapon stand, verlangte eine Verbesserung der materiellen Lage und mehr Mitsprachemöglichkeiten. Im Dezember 1904 streikten die Arbeiter der Putilov-Werke in St. Petersburg. Als die Betriebsleitung auf ihre Forderungen nicht einging, kam es zu einer Radikalisierung. Die Arbeiter – unterstützt von Sozialrevolutionären, Sozialdemokraten und Liberalen – beschlossen, Bittschriften zu verfassen und sie dem Zaren zu überreichen. Die zentrale Petition, die rund 150.000 Menschen unterschrieben, war in respektvollem, aber doch deutlichem Ton gehalten: „Wir, Arbeiter und Bewohner der verschiedenen Stände St. Petersburgs, unsere Frauen und Kinder und hilflosen Greise und Eltern kommen zu Dir, Herrscher, und suchen Gerechtigkeit und Schutz. Wir sind zum Bettler geworden, man unterdrückt uns, belastet uns mit unerträglicher Arbeit, man schmäht uns, man erkennt uns nicht als Menschen an, man behandelt uns als Sklaven, welche ihr bitteres Los ertragen und schweigen müssen. Wir haben geduldig ausgehalten, aber man treibt uns immer weiter in den Abgrund der Armut, der Rechtlosigkeit und der Unwissenheit, uns erstickt Despotismus und Willkür und wir ersticken. Herrscher, wir haben keine Kraft mehr. Die Grenze der Geduld ist erreicht. Für uns ist der Zeitpunkt gekommen, wo das Sterben besser ist als die Fortsetzung der unerträglichen Qualen.“ Für unbedingt notwendig hielten die Bittsteller die Erklärung der Menschenrechte, die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, die Verantwortlichkeit der Minister vor dem Volk – statt wie bisher nur vor dem Zaren –, eine Amnestie für die Verbannten, Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungs- und Rechtswesens, des [<<33] Steuer- und Finanzsystems sowie grundlegende Änderungen in der Arbeitsverfassung, darunter die Einführung des Acht-Stunden-Tages, einen angemessenen Arbeitslohn und Mitspracherechte der Arbeiter in den Betrieben.13

Am 9. Januar 1905 zogen die Demonstranten friedlich mit ihren Bittschriften zum Winterpalais. Sie trugen Zarenbilder und Ikonen mit sich. Die Offiziere der Wachmannschaften waren jedoch angesichts der Menschenmenge überfordert und gaben den Schießbefehl. Panik entstand, weit über einhundert Tote waren zu beklagen. Dieser „Blutsonntag“, dem am 16. Januar in Warschau ein zweiter folgte, löste eine Streikwelle aus, die in eine revolutionäre Massenbewegung überging.

Bis zum Herbst 1905 weitete sich die Revolution über Russland aus. Fast alle oppositionellen Kräfte, von gemäßigten Liberalen bis zu radikalen Sozialisten, verbanden sich, um Demokratie, soziale Verbesserungen und Rechte für die nationalen Minderheiten zu erreichen. Die Bewegung gipfelte im Oktober in einem Generalstreik, den ein Rat, ein Sowjet, leitete. Drucker und Eisenbahner legten die Kommunikationsnetze des Reiches lahm und nutzten sie für ihre eigenen Zwecke. Der Zar und seine Regierung mussten mehr und mehr zurückweichen. Als der Zar jedoch mit seinem Oktobermanifest eine gesetzgebende Duma, ein Parlament, ankündigte, begann die Geschlossenheit seiner Gegner zu bröckeln. Die Arbeiterschaft, die sich vermehrt in Sowjets organisierte, kämpfte weiter und ging im Dezember in Moskau sogar zum bewaffneten Aufstand über. Dieser wurde blutig niedergeschlagen. Eine Vereinigung mit rebellierenden nationalen Gruppierungen und mit der erst jetzt erstarkenden Bauernbewegung gelang nicht. Unter Einsatz aller Gewaltmittel konnte die Regierung Schritt für Schritt wieder Herrin der Lage werden. Die verschiedenen Strömungen im „Volk“ waren nicht zusammengeflossen, und die Verbindung zur „Gesellschaft“ – zu den Gebildeten und Besitzenden – hatte sich als brüchig erwiesen. Dadurch, dass ein Teil der Liberalen auf die Seite des Zaren übergegangen war, entstanden nun sogar eine tiefe Kluft und Misstrauen gegenüber dem Verhalten der „Gesellschaft“.

Auffallend war das Verhalten vieler Soldaten. Einzelne Truppenteile stellten sich auf die Seite der Aufständischen oder meuterten und gingen später doch wieder gegen die Streikenden vor. Manchmal kam es zu mehrfachem Seitenwechsel. Offenbar waren dafür weniger politische Anschauungen ausschlaggebend, sondern die Orientierung an der jeweiligen Autorität. Dieses Schwanken deutete an, wie brüchig die an den Zaren gebundene Ordnung geworden war. [<<34]

Trotz des Scheiterns der Revolution war das Machtgefüge nicht mehr das gleiche wie vorher. Am 23. April 1906 verordnete der Zar die „Grundgesetze“, eine Verfassung, durch die ein Zweikammersystem mit dem Reichsrat als Oberhaus und der Duma als Unterhaus geschaffen wurde. Die Duma erhielt Rechte bei der Aufstellung des Staatshaushaltes und in der Gesetzgebung. Die Wahlen zur ersten Duma bescherten den Parteien, die das zarische System unterstützten, eine vernichtende Niederlage. Der Zar löste deshalb das Parlament sofort wieder auf. Als die Wahl zur zweiten Duma ein ähnliches Ergebnis brachte, entschloss sich der Zar 1907 zu einem Staatsstreich, indem er nicht nur die erneute Auflösung verfügte, sondern zugleich ein neues Wahlgesetz erließ. Dieses begünstigte die Konservativen in einer Weise, dass sie zwangsläufig die Mehrheit in den folgenden Dumas erringen mussten. Die „eingeschränkte Autokratie“ hielt sich offenbar für stark genug, sich bei Bedarf über die Verfassung hinwegzusetzen. So war die Zeit zwischen 1905 und 1917 von widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet: Leichten Fortschritten bei den Mitspracherechten des Parlaments, bei der Stärkung liberaler Elemente und bei der Politisierung der Bevölkerung standen Versuche entgegen, diese Entwicklung zu blockieren und den früheren Zustand wiederherzustellen.

Nachdem der Schock über den Verlauf der Revolution von 1905 überwunden war, verbreitete sich in weiten Kreisen der Bevölkerung durchaus eine Aufbruchstimmung. Immer mehr Menschen waren bereit, sich zu engagieren, für Reformschritte zu kämpfen, der Autokratie weitere Zugeständnisse abzuringen, ohne sich durch Unterdrückungsmaßnahmen einschüchtern zu lassen. Was sich schon im 19. Jahrhundert in vielen Städten und Regionen gezeigt hatte, setzte sich nun in zunehmendem Maße fort. Vereine, Gesellschaften und Klubs schossen überall aus dem Boden und vernetzten sich vielfach. Menschen aus unterschiedlichen Schichten ergriffen die Initiative, um benachteiligten sozialen Gruppen zu helfen, Missstände in der Gesellschaft zu beseitigen, Analphabetentum, Alkoholismus und Kriminalität zu bekämpfen. Universitätsprofessoren stellten sich mutig und selbstbewusst staatlichen Aktionen gegen aufbegehrende Studierende entgegen. Juristen und Ingenieure bildeten Fachorganisationen, die Pläne für die Zukunft erörterten, und verstanden sich als Teil der internationalen Gemeinschaft. Die russische Kultur erreichte in vielen Bereichen eine neue Blüte. Innerhalb der intelligencija kam es zu einer intensiven Diskussion über die Perspektiven des Landes und über das eigene Verhalten, entweder die Revolution zu unterstützen oder den Wandel über eine Erneuerung von innen her zu suchen. Strömungen einer religiösen Sinnsuche wurden spürbar, in denen sich manchmal messianistische mit sozialistischen Ideen verbanden und die selbst innerhalb der orthodoxen Kirche Resonanz fanden. Ein breitgefächertes Parteiensystem bildete sich aus. Es enthielt alle [<<35] Schattierungen von reaktionären, nationalistischen und antisemitischen Gruppierungen bis hin zu aufstandsbereiten Sozialisten. Durch die Diskussionen in der Duma wie in der Öffentlichkeit – es herrschte eine beschränkte Pressefreiheit – differenzierten sich die Parteien in verschiedene Fraktionen oder gar Abspaltungen.

In der Regierung und im Staatsapparat blieben die öffentlichen Aktivitäten durchaus nicht ohne Resonanz. Reformanregungen wurden hin und wieder aufgegriffen. Auch des drängendsten Problems, der Agrarfrage, nahm sich die Regierung an. Mit mehreren Gesetzen versuchte sie seit Ende 1906, eine wirtschaftlich kräftige bäuerliche Oberschicht zu schaffen, den Einfluss der obščina zu mindern sowie die überschüssige Dorfbevölkerung nach Sibirien und Zentralasien umzusiedeln, soweit sie nicht Arbeit in der Industrie fand. Erfolge waren nicht zu übersehen, erfüllten aber bis zum Ersten Weltkrieg noch nicht die Erwartungen. Zudem zeigten sich neue Probleme: Die nach Osten wandernden Kolonisten gerieten in Konflikte mit den Einheimischen, und der industrielle Aufschwung vollzog sich, trotz einer gewaltigen Dynamik seit 1908, nicht schnell genug, um eine Beschäftigung größerer Massen von Arbeitskräften aus den Dörfern zu ermöglichen. Weitergehende Maßnahmen scheiterten ohnehin am Widerstand beharrender Kräfte.

In vielen Bereichen kam es nach der Niederschlagung der Revolution sogar zu einer Gegenbewegung der Konservativen, die Reformen – etwa in der Arbeitergesetzgebung – wieder rückgängig machten. In der Wirtschaftspolitik verstärkte sich der Zickzackkurs zwischen den verschiedenen Interessen der Industriellen und Agrarier. Beide standen zwar in einem Bündnis mit dem Staat, um das System gegen eine neue Revolution zu sichern. Doch zugleich blockierten sie sich gegenseitig, wie es sich auch in anderen Politikfeldern offenbarte. Außenpolitische Konzeptionen schwankten zwischen einer aggressiven Vertretung der Großmachtrolle und einer friedensbewahrenden Politik, um alle Kraft den innenpolitischen Problemen zuwenden zu können. Intrigen am Hof und Einflüsse solcher Persönlichkeiten wie des „Wundertäters“ Grigorij E. Rasputin, der die Bluterkrankheit des Thronfolgers zu heilen versprach, prägten das Bild der Staatsspitze. Die Handlungsfähigkeit der Regierung nahm zusehends ab. Zugleich radikalisierten sich die Gegner des Systems. Die neu in die Städte zuwandernden „Bauern-Arbeiter“ gingen mehr und mehr auf die Seite der Revolutionäre über. 1912 setzten umfangreiche Streiks ein. Die Wellen von Unruhen, Arbeitsniederlegungen und Protestdemonstrationen erreichten 1913 einen bisher nicht gekannten Höhepunkt und rissen bis 1914 nicht mehr ab.

Der Erste Weltkrieg unterbrach ab August 1914 diesen neuen Aufschwung der Arbeiterbewegung. Die russische Führung war in ihrer Haltung zunächst nicht einheitlich gewesen. Doch schließlich hatte sich die Kriegspartei durchgesetzt. Sie wollte [<<36] Serbien in seinem Konflikt mit Österreich-Ungarn nicht im Stich lassen, aber auch die Position Russlands im internationalen Kräftefeld verbessern. Mit seinen Alliierten Frankreich und Großbritannien stand Russland nun gegen die „Mittelmächte“ Österreich-Ungarn und Deutschland. Weite Kreise der Bevölkerung hofften in patriotischer Begeisterung, dass Russland rasch siegen und als wichtigstes Kriegsziel die freie Durchfahrt durch die Dardanellen erreichen werde. Vernichtende Niederlagen in der Anfangsphase, namentlich gegen die deutschen Truppen in Ostpreußen, und dann die hohen Opferzahlen sowie die lange Kriegsdauer verschlechterten jedoch die Stimmung bei den Soldaten wie in der Zivilbevölkerung. 1916 stabilisierte sich zwar die militärische Lage. Dennoch kam es nicht zu einem Umschwung in der öffentlichen Meinung. Stattdessen wuchs die Entfremdung vom Zaren, der 1915 den Oberbefehl über die russischen Truppen übernommen hatte, und von der politischen Ordnung, die er repräsentierte.

Abb 13 Auf dieser in Frankreich gedruckten Ansichtskarte präsentiert sich Zar Nikolaj II. als Feldherr von Gottes Gnaden. Die Aufnahme entstand vermutlich in seinem Hauptquartier bei Mogilev im September 1915: Als Oberbefehlshaber schwört er mit einer kleinen Ikone in seiner rechten Hand kniende Soldaten auf den Krieg ein. Fotograf unbekannt. [Bildnachweis]


Die schon zuvor erkennbaren Tendenzen verschärften sich. Nach wie vor verstand die Wirtschaftspolitik die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes nicht zu nutzen. Die Rüstungsproduktion blieb zumindest bis 1916 weit hinter den Anforderungen zurück, die der „industrielle Krieg“ mit seinem Schwergewicht auf Technik und Material stellte.14 Dass sie sich dann stabilisierte, ging auf Kosten derjenigen Branchen, die Güter für die Zivilbevölkerung herstellten. Aufgrund der Überlastung brach die Wirtschaft, von wenigen Bereichen abgesehen, 1917 zusammen. Auch die Lebensmittelversorgung wurde immer schlechter. Der Mangel an Arbeitskräften auf dem Land wirkte sich nachteilig aus, mehr jedoch das planlose Regierungshandeln. Weder eine schwankende Preispolitik, die die Interessen der Gutsbesitzer begünstigte und zu Spekulation und Engpässen führte, noch eine kaum zu verwirklichende Zwangsablieferung von Getreide, wie sie im Dezember 1916 verkündet wurde, konnten Abhilfe schaffen.

Abb 14 Auch Frauen sollen „alles für den Krieg“ geben, wie die Losung dieser Postkarte lautet. Zugleich enthält sie die Aufforderung, die Kriegsanleihe zu 5 ½ Prozent Zinsen zu zeichnen. Illustrator unbekannt. [Bildnachweis]


Eine wirksame Lenkung der Kriegswirtschaft gelang nicht: Regierung, Unternehmer und Agrarier schafften es weder allein noch zusammen, eine planmäßige Organisation aufzubauen. Stattdessen verstärkten sich die gegenseitigen Blockaden. Privatinteressen von Unternehmern und Agrariern hatten hohen Einfluss. Ökonomische Möglichkeiten und politische Organisationskraft kamen immer weniger zur Deckung. Schwerwiegende Folgen sollte es haben, dass sich eine beträchtliche Zahl „Moskauer“ Unternehmer, die in politischer Opposition zum Zarismus gestanden hatten, wirtschaftlich integrieren ließ, um höhere Profite zu erzielen. Dieser Übergang eines weiteren Teils [<<37] der „Gesellschaft“ auf die Seite des Zaren erschütterte nicht nur das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit und Standfestigkeit dieser Unternehmer, sondern vertiefte die Kluft zum „Volk“. Das System war in eine Sackgasse geraten.

In der Duma hatten nur die linken Parteien gegen den Kriegseintritt protestiert. Bald spaltete sich aber auch die Arbeiterbewegung quer durch die verschiedenen Gruppen in „Landesverteidiger“ oder „Patrioten“ und „Internationalisten“ oder „Defätisten“. Die kompromisslose Ablehnung des Krieges durch die Bolschewiki – den radikalen Flügel der Sozialdemokratie –, deren Dumaabgeordnete Anfang 1915 zu lebenslanger Verbannung verurteilt worden waren, verschaffte ihnen zunehmend Anklang unter Teilen der kriegsmüden Bevölkerung.

Die oppositionellen Kräfte in der Duma, mit Ausnahme der Sozialisten, versuchten, durch einen Zusammenschluss im „Progressiven Block“ 1915 die Grundlage für eine politische Wende zu schaffen. Sie forderten liberale Reformen sowie eine personelle Erneuerung der Regierung, die das Vertrauen des Volkes haben und deshalb dem Parlament verantwortlich sein müsse. Doch diese Organisation der „Gesellschaft“ war ähnlich wie andere Zusammenschlüsse in sich nicht einig, scheute ein Bündnis [<<38] mit den Linken und fürchtete Massenaktionen. Verschwörungen zur Absetzung des Zaren wurden geplant, aber nicht verwirklicht. Hingegen suchten Zar und Regierung den Ausnahmezustand während des Krieges zu nutzen, um ihre Stellung zu stärken. Letztlich mangelte es aber auch ihnen an Entschlusskraft. Mehr und mehr ging ihre Autorität verloren. Als am 1. November 1916 die Duma nach zweimonatiger Pause zusammentrat, hielt Pavel N. Miljukov, der Führer der liberalen Konstitutionell-Demokratischen Partei, eine Anklagerede gegen das Regime. Nach jedem Fehler, den er aufzählte, stellte er die rhetorische Frage: „Ist es Dummheit, oder ist es Verrat?“

Ein Aufstand von Nomadenstämmen in Zentralasien Mitte 1916 machte deutlich, wie schwach die Kräfte, die das Imperium im Innern zusammenhielten, geworden waren. Er wurde blutig niedergeschlagen. Der Fraktionsvorsitzende der Partei der [<<39] Trudoviki, Aleksandr F. Kerenskij, fragte während einer Dumasitzung am 13. Dezember 1916, wie die zarische Regierung das Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915 als „Verbrechen gegen die Menschheit und Zivilisation“ oder die deutschen Kriegsverbrechen in Belgien 1914 in ähnlicher Weise verurteilen könne, wenn sie selbst derart gewaltsam handele. Das sei eine „Schande“ für Russland, schallte es ihm aus der Duma entgegen.15 Vom Anspruch des Zarenreiches, eine „zivilisatorische Mission“ mit ihrer Kolonisierung des Landes zu erfüllen, war nichts mehr übrig geblieben.

Doch nicht nur in der Duma rumorte es. Die dortige Kritik an der Regierung und am Zarenhof erhöhte die Erregung in der Öffentlichkeit. Die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Nahrungsmittelknappheit, die spürbare Unzufriedenheit unter den Bauern und die zunehmenden Spannungen in der Arbeiterschaft fachten sie weiter an. Seit Herbst 1916 gewannen Streiks und andere Massenaktionen wieder an Umfang und Schärfe. Die Arbeiterschaft radikalisierte sich zusehends. Diese Alarmzeichen nahmen die Regierung und ein Großteil der „Gesellschaft“ nicht ernst genug. Ende Januar 1917 ließ die Regierung führende Arbeitervertreter verhaften und meinte, damit genug Stärke gezeigt zu haben. Aber sie konnte den Widerstand gegen ihre Politik nicht mehr aufhalten. [<<40]

1 Anton Čechov: Der Kirschgarten. Komödie in vier Akten. Übersetzt und hg. von Peter Urban. Zürich 1973, 9–10, folgende Zitate 54, 40, 38.

2 Maxim Gorki: Foma Gordejew. Eine Beichte. Das Werk der Artamonows. Hg. von Helene Imendörffer. München 1978, 112.

3 Das Zitat heißt im Original: „mužik porčenyj“. Swetlana Geier übersetzt m. E. nicht ganz zutreffend mit „dummer Bauer“: Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Frankfurt a. M. 2006, 508. Vgl. hingegen Fjodor M. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Aus dem Russischen übertragen von Hans Ruoff und Richard Hoffmann. München 1978, 424.

4 Anton Tschechow: Die Bauern. Deutsch von Hertha von Schulz. In: ders.: Meistererzählungen. Hg. von Wolf Düwel. Berlin 1984, 390–428, hier 427.

5 Leo Tolstoi: Ein Schicksal. Erzählung. Der Schwägerin Leo Tolstoi’s Frau T. A. Kuzminskaia von einer Bäuerin diktiert und von ihm durchgesehen und korrigiert. Übersetzt und hg. von C. Salomon. Zürich 1924.

6 Zitiert in: Stefan Plaggenborg: Bauernwelt und Modernisierung in der ausgehenden Zarenzeit. In: Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Russland in der Spätphase des Zarenreiches. Hg. von Heiko Haumann und Stefan Plaggenborg. Frankfurt a. M. u. a. 1994, 138–164, hier 146.

7 Leo N. Tolstoj: Der Morgen eines Gutsbesitzers. In: ders.: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Gisela Drohla. 2. Band. Frankfurt a. M. 1990, 9–75, hier 68.

8 Hier in Ivan A. Bunins autobiografischem Roman: Iwan Bunin: Das Leben Arsenjews. Eine Jugend im alten Russland. Aus dem Russischen von Georg Schwarz. Frankfurt a. M. 1982, 12. Bunin entstammte allerdings einer Kleinadelsfamilie.

9 Zitiert in: Annette Werberger: Grenzgänge, Zwischenwelten, Dritte – Der jüdische Schriftsteller und Ethnograf S. Anskij. In: Transversal 5/1 (2004) 62–79, hier 68.

10 An-ski: Der Dibbuk. Dramatische jüdische Legende in vier Bildern. Hg. von Horst Bieneck. Frankfurt a. M. 1989, Zitat 51. Leider greift diese neue Übertragung von Salcia Landmann und Horst Bienek teilweise stark in den ursprünglichen Text ein.

11 So wertete der zarische Finanzminister Sergej Ju. Vitte die Transsibirische Eisenbahn als „Weltverkehrsstraße“: S. J. Witte: Erinnerungen. Berlin 1923, 35.

12 Heiko Haumann: Kapitalismus im zaristischen Staat 1906–1917. Organisationsformen, Machtverhältnisse und Leistungsbilanz im Industrialisierungsprozess. Königstein 1980, 69, 152, im Anschluss an Karl Marx, der 1847 vom „verkrüppelten Entwicklungsgang der deutschen Bürgerklasse“ sprach (Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 4. Berlin 1969, 346).

13 Quellen zur Geschichte Russlands. Hg. von Hans-Heinrich Nolte, Bernhard Schalhorn und Bernd Bonwetsch. Stuttgart 2014, 252–254.

14 Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, 425.

15 Jörn Happel: Die Schande Russlands: Globale Perspektiven auf den Aufstand in Zentralasien 1916. In: Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851–1991. Hg. von Martin Aust. Frankfurt a. M., New York 2013, 182–203, hier 187, 189.

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