Buch lesen: «Die Naturforschenden», Seite 2

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EINE FOLGENSCHWERE BEGEGNUNG

Eine Gelegenheit, seine Überlegungen weiter zu diskutieren, bot ihm 1836 die Jahresversammlung der SNG in Solothurn. Dort traf de Charpentier auf den deutschen Naturforscher Karl Friedrich Schimper (1803-1867) und dessen Studienfreund, den Fossilienkundler Louis Agassiz (1801-1872), Inhaber des Lehrstuhls für Naturgeschichte an der Akademie in Neuenburg. Mit Letzterem stand de Charpentier seit 1833 in Briefwechsel.32 Er lud Agassiz ein, mit seiner Familie die Ferien in Bex zu verbringen. Solche Einladungen sprach de Charpentier regelmässig gegenüber anderen Naturforschern aus. Agassiz nahm das Angebot des waadtländischen Salinendirektors an. Im Lauf des Sommers vermochte ihn de Charpentier von seiner Vergletscherungstheorie zu überzeugen, obwohl Louis Agassiz dieser anfänglich ablehnend gegenüberstand.33 Schliesslich rief Agassiz auch Schimper nach Bex. Dieser hatte bereits 1833 einen Wechsel aus warmen und kalten Phasen im Lauf der Erdgeschichte vermutet.34 Im Winter 1836/37 entwickelten Schimper und Agassiz die Vergletscherungstheorie in Neuenburg auf eigene Art weiter. Dabei prägte Karl Friedrich Schimper für ihr neu formuliertes Konzept die eingängige Metapher Eiszeit.35

Im Juli 1837 fand die jährliche Versammlung der SNG in Neuenburg statt. Präsidiert wurde sie von Louis Agassiz, der die Gelegenheit nutzte, in seiner Eröffnungsansprache die gemeinsam mit Schimper weiterentwickelte neue Theorie vorzutragen. Zunächst knüpfte Agassiz an die Erkenntnisse von Venetz und de Charpentier an, indem er erklärte, die Gletscher, die man gegenwärtig in der Schweiz antreffe, seien einst viel grösser gewesen. Dann berichtete er von seinen eigenen Beobachtungen ortsfremder, scharfkantiger Gesteinsblöcke im Jura, aus denen er ableitete, jenes Gebirge sei ebenfalls vergletschert gewesen. Im Gegensatz zu de Charpentier verneinte er jedoch, dass die jurassischen Gesteinsblöcke durch einen alpinen Supergletscher dorthin transportiert worden seien. Agassiz stellte stattdessen die These auf, Europa sei vom Nordpol her mit einer bis zum Mittelmeer reichenden Eiskappe bedeckt gewesen. Als die Alpen bei ihrer Erhebung diesen Eisschild durchbrochen hätten, seien Gesteinstrümmer darauf bis zum Jura geglitten. Eine zeitweilige grössere Höhe der Alpen sah Agassiz im Gegensatz zu de Charpentier nicht als entscheidende Ursache für ein kühleres Klima an.36 Vielmehr habe sich am Ende jeder geologischen Periode ein plötzlicher globaler Temperatursturz ereignet, der «eine eisige Kälte produziert» und alles Leben ausgelöscht habe.37 Danach habe sich der Planet durch chemische Reaktionen im Erdinneren wieder erwärmt und sei von einer neuen Schöpfung besiedelt worden. Auf diese Weise seien jeweils ältere urtümlichere Lebensformen ausgelöscht worden, was wiederum Platz für neuere und, nach Auffassung von Agassiz und Schimper, höher entwickelte Lebensformen geschaffen habe. Da der Fossilienkundler Agassiz und der Botaniker Schimper die Vorstellung der Wandelbarkeit von Arten ablehnten, blieb ihnen nur die Annahme grosser globaler Katastrophen, um die Aufeinanderfolge zunehmend komplexer, nach ihrer Auffassung höher entwickelter Lebensformen im Lauf der Erdgeschichte zu erklären. Mit der Entdeckung Eiszeit schienen diese Katastrophen identifiziert zu sein.38 23 Jahre vor Charles Darwins wegweisendem Werk On the Origin of Species glaubten Agassiz und Schimper in den Eiszeiten eine Erklärung für die Abfolge verschiedener Lebensformen in der Geschichte unseres Planeten gefunden zu haben. Diese, von der romantischen Naturphilosophie beeinflusste, Erklärung für die Abfolge der Arten war zwar hochspekulativ. Sie war es jedoch, die in Agassiz’ und Schimpers Augen die meiste Aufmerksamkeit verdient hätte. Entsprechend frustriert dürfte Agassiz gewesen sein, als die Thematik der Artenfolge in den Hintergrund geriet und stattdessen die bereits von de Charpentier und Venetz bearbeitete Frage einer vorzeitlichen Vergletscherung in den Vordergrund rückte. Möglicherweise war dies ein Grund, weshalb Agassiz den Beitrag de Charpentiers zu seiner und Schimpers Theoriebildung nicht besonders hervorhob und es auch unterliess, dem Salinendirektor in den nachfolgenden Veröffentlichungen in der Bibliothèque universelle de Genève für dessen Einführungen und Hinweise zu danken. Stattdessen markierte Agassiz Distanz zur Theorie von Venetz und de Charpentier. Er stützte sich zwar auf deren genaue Beobachtungen von Moränen und Findlingen, hielt jedoch fest, dass er nicht beabsichtige, Venetz’ und de Charpentiers theoretische Überlegungen zu verteidigen.39


Abb. 5: De Charpentiers Rekonstruktion der Ausdehnung des eiszeitlichen Rhonegletschers aus dem Jahr 1841. Die blau eingefärbte Fläche stellt das vom Gletscher bedeckte Gebiet dar.

DER ESSAI SUR LES GLACIERS UND DAS ENDE EINER FREUNDSCHAFT

Während Agassiz und Schimper die Beobachtungen de Charpentiers für ihre eigene spekulative Theorie heranzogen, kritisierte der Genfer Jean-André Deluc (1763-1847) an der gleichen Jahresversammlung dessen Vergletscherungstheorie vehement.40 Für Jean de Charpentier war dies nach eigenem Bekunden Anstoss genug, seine Vergletscherungstheorie ab Herbst 1839 in einem Buch genauer auszuführen.41 In der Summe schienen sich die Dinge bis zu diesem Zeitpunkt im Sinn de Charpentiers zu entwickeln. Seine Beiträge zur Existenz eines alpinen Supergletschers hatten international Beachtung gefunden, seine Überfegungen konnte er mit den vorherrschenden Gebirgserhebungstheorien in Einklang bringen, und nun hatten mit Schimper und Agassiz sogar zwei Forscher ausserhalb der Erdwissenschaften seine Theorie, wenn auch in etwas eigenwilliger Ausdeutung, aufgegriffen. Allerdings sollte dieser für de Charpentier erfreuliche Zustand nicht lange anhalten.

Louis Agassiz hatte zwischenzeitlich eigene Forschungsanstrengungen unternommen und begonnen, seine Eiszeittheorie ebenfalls in einem Buch darzulegen, das im Herbst 1840 erschien. In seiner hastig niedergeschriebenen Darstellung überging er, wie er selbst einräumte, Schimpers Beitrag zur Eiszeittheorie. Dem noch an seinem Buch arbeitenden de Charpentier kam Agassiz einige Monate zuvor. Damit konnte er für sich in Anspruch nehmen, die erste grosse Darstellung zur Thematik veröffentlicht zu haben. Indem er sie als globale Eiszeittheorie formulierte und in den Rahmen seiner naturgeschichtlichen Überlegungen stellte, vermochte er ihr seinen Stempel aufzudrücken.

Dies verbitterte Jean de Charpentier. Er hatte offenbar erwartet, der junge Professor lasse ihm den Vortritt, da er es gewesen war, der Agassiz in die Gletscher- und Eiszeitforschung eingeführt hatte. Schliesslich erschien 1841 de Charpentiers Essai sur les glaciers et sur le terrain erratique du bassin du Rhône. Darin stand die Frage nach der Herkunft der Findlinge im Zentrum. Er setzte sie in Beziehung zu den durch Gletscherschliffe und Moränen geformten Landstrichen, die er als terrain erratique bezeichnete. Die Annahmen und Einwände der Vertreter der verschiedenen Schlamm- und Geröllfluttheorien widerlegte er in seiner Darstellung systematisch. Auch die These von Agassiz und Schimper, wonach die Alpen nach der Entstehung einer Poleiskappe entstanden seien, entkräftete er. De Charpentier zeigte, dass die Verteilung von Findlingen dem Verlauf der grossen Alpentäler folgt. Das wäre nicht der Fall gewesen, wenn die entstehenden Alpen ähnlich einem Löwenzahn, der Asphalt durchbricht, erst eine bestehende Eiskappe hätten durchbrechen müssen. Daneben zitierte de Charpentier auch seine Vorläufer, den Schotten John Playfair (1748-1819) und Johann Wolfgang von Goethe (1781-1832), die vor ihm den Transport von Findlingen mit Eis in Verbindung gebracht hatten. Nicht bekannt war de Charpentier offenbar Jens Esmark (1763-1839). Der dänisch-norwegische Geologe hatte bereits 1824 eine Eiszeittheorie publiziert, die von mehreren globalen Kältephasen mit einem jeweils massiven Anwachsen von Gletschern und Eisfeldern verursacht durch Schwankungen der Erdbahn ausging.42


Abb. 6: Jean de Charpentier gegen Ende seines Lebens. Lithografie.

Trotz gründlichen Beobachtungen und qualitätsvollen Abbildungen durch Zeichner aus dem Umfeld de Charpentiers erreichte sein Werk nicht die Bekanntheit von Agassiz’ Darstellung. Es war eben nur der zweite Titel zum Thema. Obendrein erschien sein Buch in Lausanne, was für dessen internationale Verbreitung nachteilig gewesen sein dürfte. Möglicherweise spielte bei der Wahl des Publikationsorts eine gewisse Verbundenheit mit dem Kanton Waadt eine Rolle, wie sie auch die Wahl seiner übrigen Forschungsgegenstände und Veröffentlichungen nahelegt. Dafür spricht, dass de Charpentier der Kantonsregierung ein spezielles Exemplar mit einer Widmung zukommen liess.43 Zudem war Jean de Charpentier nicht der Mann, der wie sein jüngerer Kollege durch entsprechende Vorträge und Artikel in Zeitungen und Journalen für Publizität sorgte. Gesellschaftliche Ambitionen gingen dem sächsischen Aristokraten allem Anschein nach ohnehin ab.44 Vor allem aber dürfte ihn seine Position als Salinendirektor zeitlich in Anspruch genommen haben.

Nach der Publikation seines Essai engagierte sich de Charpentier weiterhin in der Eiszeitforschung. 1842 veröffentlichte er einen Aufsatz über die Anwendbarkeit der Venetz’schen Hypothese, wie er sie nannte, auf Nordeuropa.45 Damit bezog er nun Gebiete ausserhalb des Alpenraums in seine Überlegungen ein und näherte sich den bereits von Venetz vorgebrachten Gedanken weiter an. An einem Kongress in Mailand wandte er sich 1844 gegen die These eines piemontesischen Geologen, die erratischen Blöcke in den Pyrenäen seien durch Flutwellen abgelagert worden.46 1846 und 1847 widersprach de Charpentier in zwei Aufsätzen, die er an die Société Géologique de France in Paris sandte, nochmals dieser Ansicht.47 Danach scheint die Frage nach dem Ursprung der erratischen Felsblöcke für ihn erledigt gewesen zu sein. In den folgenden Jahren befasste sich Jean de Charpentier wieder mit den Land- und Süsswasserschnecken.

DE CHARPENTIER ALS WEGBEREITER DER EISZEITFORSCHUNG

Als Naturforscher und Gelehrter, der fast die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch aktiv war, zeichnete sich Jean de Charpentier durch die erfolgreiche Leitung eines Salzbergwerks, vielseitige naturwissenschaftliche Interessen und seine internationale Vernetzung aus. Die von ihm mitbegründete SNG diente dem kontakt- und reisefreudigen de Charpentier als Plattform, um seine Beobachtungen und neuen Theorien vorzustellen und Kontakte zu anderen Naturforschern zu pflegen. Ebenso nutze er deren Verhandlungen für die Publikationen seiner Untersuchungen. Strebte er eine internationale Verbreitung seiner Arbeiten an, wählte er daneben auch andere Zeitschriften.

De Charpentiers Rolle als einer der Pioniere der Eiszeitforschung zeichnet sich durch eine gewisse Tragik aus. Obwohl sich Jean de Charpentier spätestens seit 1815 mit der Frage nach der Herkunft ortsfremder Felsblöcke konfrontiert sah, befasste er sich erst ab Anfang der 1830er-Jahre damit. Dabei erwies er sich als bestens mit den zeitgenössischen Theorien zur Erdgeschichte vertraut. Konsequent versuchte er, seine und Venetz’ Beobachtungen mit dem damals aktuellen Forschungsstand in Einklang zu bringen. Im Nachhinein betrachtet, bewegte er sich damit in bekannten Bahnen. Seinen Überlegungen fehlten weitgehend konzeptionelle Neuerungen. So gesehen erwiesen sich die unkonventionellen Gedanken seines Freundes Ignaz Venetz zu einer Vergletscherung Nordeuropas oder zu astronomischen Ursachen48 einer globalen Abkühlung des Klimas als weiterführender. Doch stellt sich die Frage, ob die These eines alpinen Supergletschers ohne diese Zugeständnisse an den vorherrschenden Interpretationsrahmen der damaligen Forschung überhaupt Beachtung gefunden hätte. Die vorangehenden Arbeiten von Esmark hatten ohne solche Anknüpfungspunkte kaum Widerhall in den deutsch- und französischsprachigen Ländern gefunden.

Schliesslich musste de Charpentier erleben, wie Louis Agassiz ihm durch sein Vorpreschen bei der Publikation seines Buchs die Schau stahl. Dadurch vermochte Agassiz die Eiszeittheorie entsprechend seinen naturgeschichtlichen Vorstellungen zu formulieren und mit seiner Person zu verknüpfen. Hier liesse sich die Frage stellen, wie gerecht die Forschung und die Zuschreibung wissenschaftlicher Leistungen sind. Jean de Charpentier seinerseits zeichnete sich durch ein hohes Mass an Integrität aus und achtete gewissenhaft darauf, die Verdienste anderer Naturforscher zu würdigen. Die Rolle seines Freundes Venetz als Anreger seiner Forschungen hob er zeitweise bis in den Titel seiner Publikationen hervor. Sorgfältige Beobachtungen und Feldstudien waren ein weiteres Merkmal seiner Arbeit als Forscher.

Bei aller Zeitgebundenheit Jean de Charpentiers dürfte seine wichtigste Leistung sein, dass der Gedanke grossräumiger Vergletscherungen in den deutsch- und französischsprachigen Ländern den Weg in die wissenschaftliche Agenda fand. Ebenso war er daran beteiligt, das Thema im englischen Sprachraum zu etablieren. So sind die pathetischen Verse in einem Gedicht des Geologen Arnold Escher von der Linth (1807-1872) über seinen Freund de Charpentier durchaus zutreffend: «Dieser wandte unsern Blick in die ferne Zeit hinaus, wo die hohe Gletschermasse reichte bis zur Bergterrasse […]. Der was anfangs schien vermessen, allen machte licht und klar.»49

FLAVIO HÄNER
WIE DIE NATUR IN DIE STÄDTE KAM
Augustin-Pyramus de Candolle und die Entstehung der naturhistorischen Museen in der Schweiz

Im frühen 19. Jahrhundert entstanden nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa neue Bauwerke, in denen Menschen die Natur studieren konnten, ohne dazu in die Natur hinausgehen zu müssen. Hierzu gehören die botanischen Gärten wie auch die ersten naturhistorischen Museen. Die Naturforschenden brachten hier die Gegenstände zusammen, die sie in der Natur gesammelt hatten, gaben ihnen Namen, klassifizierten und arrangierten sie. In den künstlich geschaffenen Räumen strebte man danach, die Natur als ein geordnetes System darzustellen. Doch die Einrichtung solcher Anstalten geschah nicht ohne Schwierigkeiten. Zum einen musste eine Vielzahl von Objekten aus der Natur in die Städte verfrachtet werden. Zum anderen mussten die Naturforschenden die Öffentlichkeit, also die Politik und auch die breite Gesellschaft, vom Nutzen und Zweck des Sammelns und Ausstellens von Objekten aus der Natur überzeugen. Gleichzeitig galt es, die Naturforschung überhaupt als eine eigenständige Wissenschaft zu etablieren.1

Eine der zentralen Figuren, die sich in der Schweiz für die Errichtung von botanischen Gärten, naturhistorischen Museen und damit für eine Modernisierung der Naturwissenschaften einsetzte, war der namhafte Genfer Botaniker Augustin-Pyramus de Candolle (1778-1841). In der Wissenschaftsgeschichte ist de Candolle vor allem für die Entwicklung eines neuen Klassifikationssystems für Pflanzen bekannt, auf das sich etwa auch Charles Darwin bezog.2 Hier soll seine Rolle bei der Entwicklung einer modernen naturwissenschaftlichen Infrastruktur in der Schweiz näher beleuchtet werden. Er und seine Zeitgenossen setzten sich dafür ein, dass sich die Naturforschung in der Schweiz von einem privaten Freizeitvergnügen wohlhabender Patrizier- und Magistratsfamilien zu einem öffentlichen und staatlich getragenen Projekt wandelte.

DIE SCHWEIZ, DER GARTEN EUROPAS

Vor dem Hintergrund der Romantik und der aufblühenden Naturphilosophie avancierte die Schweiz im 18. Jahrhundert zu einem der beliebtesten Reiseziele für Naturliebhaber aus ganz Europa. Die unwegsamen Gebirge mit eisbedeckten Gletschern wurden nicht mehr als Schreckbilder und öde Wildnis empfunden. Gemeinsam mit den tiefen Tälern, waldbedeckten Hügeln und unzähligen Flüssen, Bächen und Seen mit ihren Auen- und Uferlandschaften wurde die schweizerische Landschaft zunehmend als eine Art weltliches Paradies gedeutet. So hielt der deutsche Arzt und Geograf Johann Gottfried Ebel gegen Ende des Jahrhunderts in seinem Reisehandbuch über die Schweiz fest:


Abb. 1: Wild-romantische Schweizer Natur. Ein Stich aus einem Buch des deutschen Reisenden Christian Hirschfeld von 1776.

«Es gibt zuverlässig kein Land, keinen Teil unsers Erdbodens, der in so vielen Rücksichten merkwürdig und interessant wäre als die Schweiz […]. Alles Grosse, Ausserordentliche und Erstaunenswürdige, alles Schreckliche, Reizende, Heitere, Ruhige, Süsserquickende, was in der ganzen Natur zerstreut ist, scheint sich hier in einen kleinen Raum vereinigt zu haben, um dies Land zu dem Garten von Europa zu bilden, wohin alle Anbeter der Natur pilgern und wo sie für ihre Opfer in dem vollsten, reinsten Masse Belohnung und Befriedigung erhalten sollten.»3

Der Ruf der Schweiz als Naturparadies wurde vor allem in den grossen europäischen Metropolen gefestigt. So nannte man in Paris einen im Jahr 1794 neu eröffneten Landschaftspark mit Tiergehegen und damit einen der ersten öffentlichen zoologischen Gärten der Welt schlicht la vallée suisse.4 Doch auch in der Schweiz selber lernten wohlhabende Bürger ihr Land mit anderen Augen sehen. Eine besondere Rolle spielten dabei die Naturalienkabinette, wie etwa der deutsche Universalgelehrte Christian Cajus Lorenz Hirschfeld im Jahr 1777 erläuterte:

«Man kann den Schweizern das Lob nicht entziehen, dass sie nicht nur auf die Merkwürdigkeiten ihres Landes sehr aufmerksam sind, sondern auch den Fremden mit Vergnügen vorzeigen. Selbst viele Prediger in den entlegenen Berggegenden fangen an, sich aus der Sammlung und Untersuchung der Naturalien ihres Vaterlandes eine eben so nützliche als angenehme Beschäftigung zu machen.»5

Die gelehrten Reisenden fanden Naturalienkabinette nicht nur in den grossen Städten wie Basel, Bern, Zürich, Genf, Lausanne, Neuchâtel oder Luzern, sondern ebenso in kleineren Ortschaften wie Schaffhausen, Solothurn, Yverdon, Altdorf, Glarus oder La Ferrière. Ihre Besitzer waren Professoren, Ärzte, Apotheker, Pfarrer, Schullehrer, Künstler. Auch manch vermögender Bankier oder Fabrikbesitzer pflegte eine kleine Sammlung von Naturgegenständen.6 Andere spezialisierten sich gar auf den Handel mit Naturalien und Naturgegenständen. Das Sammeln, Handeln und Tauschen von Naturalien war aber nicht bloss eine vergnügliche Freizeitbeschäftigung. Die Sammlungen bildeten die unerlässliche Grundlage für das Studium der Natur. Dies geht aus dem Eintrag zu den Naturalienkabinetten in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert aus dem Jahr 1752 hervor:

«Die Wissenschaft der Naturgeschichte macht Fortschritte in dem Masse, wie sich die Kabinette vervollständigen; das Bauwerk wächst aber nur durch die Materialien, die es beherbergt, und es wird kein Ganzes bilden, bevor alle seine wesentlichen Bestandteile zusammengebracht sein werden […]. Erst in diesem Jahrhundert hat man sich mit dem notwendigen Eifer der Naturgeschichte angenommen und derart grosse Fortschritte in diesem Unternehmen gemacht. Es ist auch unser Jahrhundert, das sich durch die Gründung der vortrefflichsten Einrichtungen auszeichnet, der Naturhistorischen Kabinette.»7

Die ungezählten Naturalienkabinette, die im 18. Jahrhundert zumeist in den städtischen Räumen der damaligen Schweiz entstanden, waren in privatem Besitz. Sie für Studienzwecke zu verwenden, war meist ihren Besitzern vorbehalten.8 Doch Sammlungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war ein Gebot der Zeit, wie etwa die britische Schriftstellerin und Dichterin Helen Maria Williams (1761-1827) bei ihrem sechsmonatigen Aufenthalt in der Schweiz im Jahr 1794 bemerkte:

«Unter den Merkwürdigkeiten der Schweiz, welche die Aufmerksamkeit von Reisenden verdienen, sind die Naturhistorischen Kabinette nach der Meinung der Einheimischen von besonderem Rang. […] ein beachtliches und wertvolles Museum könnte einst aus diesen Sammlungen hervorgehen, wenn diese zusammengeführt und in den Dienst der Öffentlichkeit gestellt würden.»9

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