Buch lesen: «Camerarius Polyhistor», Seite 12

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III. Camerarius’ Verteidigung von HerodotsHerodot Frömmigkeit

Ein weiterer Aspekt, den Camerarius im Prooemium thematisiert, ist Plutarchs Vorwurf der Pietätlosigkeit HerodotsHerodot: PlutarchPlutarch hatte kurz dargelegt, dass HerodotHerodot blasphêmia in den Mund eines großartigen Mannes gelegt habe, indem er Solon von Athen sagen ließ, dass das Göttliche (τὸ θεῖον) phthoneros sei (phthoneros wird normalerweise mit „neidisch“, „eifersüchtig“ oder invidiosus übersetzt):1PlutarchPlutarchHerod.

τοῖς δὲ θεοῖς λοιδορούμενος ἐν τῷ Σόλωνος προσωπείῳ ταῦτ' εἴρηκεν· „ὦ Κροῖσε, ἐπιστάμενόν με τὸ θεῖον πᾶν ἐὸν φθονερόν τε καὶ ταραχῶδες ἐπειρωτᾷς ἀνθρωπηίων πραγμάτων πέρι“· ἃ γὰρ αὐτὸς ἐφρόνει περὶ τῶν θεῶν τῷ Σόλωνι προστριβόμενος κακοήθειαν τῇ βλασφημίᾳ προστίθησι.

HerodotHerodot, die Götter beschimpfend, sagt durch die Person des Solon das Folgende: „Kroisos, du befragst mich zum menschlichen Glück, der ich wisse, dass das Göttliche ganz neidisch (phthoneros) und verworren sei“. Herodot lässt Solon darlegen, was er selbst über die Götter denkt, wobei er seiner Böswilligkeit Pietätlosigkeit hinzufügt.

Dies war eine besonders schwerwiegende Anklage in humanistischer Zeit,2 weil es nicht nur Platoniker wie PlutarchPlutarch waren, die die Vorstellung des φθόνος θεῶν als Frevel beurteilten,3PlatonAristotelesOrigenescontr. Cels.PlotinProklosPlutarch sondern auch Christen. Von den Kirchenvätern bis zu Thomas von AquinThomas von Aquin folgten christliche Autoren PlatonPlaton hierin wie in vielem anderem und machten deutlich, dass der Affekt des phthonos mit dem christlichen Gott, der die Menschen liebe, unvereinbar sei.4Theophilus (Bischof von Antiochia)Ad AutolycumIrenaeus von Lyonadv. haer.Athanasiuscontr. gent.Clemens von Alexandriastrom.

Dass HerodotHerodot von christlicher Seite so explizit der Gotteslästerung beschuldigt wurde, konnte der Theologe und Reformator Camerarius freilich nicht ignorieren. Er bemühte sich daher um eine akzeptable Lösung, indem er Solons Rede über die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge als „hervorragendes Urteil“ (praeclara sententia) verstand und Plutarchs Angriff gegen den phthonos der Götter als Überreaktion charakterisierte, die aus Plutarchs mit christlichem Glauben unvereinbarer Ansicht resultiere, dass die Götter keine Gefühle hätten. Die theologischen Ideen, die Plutarchs Angriff auf Herodot motivierten – so impliziert es Camerarius –, stünden im Gegensatz zum christlichen Ansatz, Gott stets auf eine menschliche Art und Weise zu beschreiben. Mit diesem Argument vereinnahmt Camerarius Herodot für den christlichen Glauben und stellt ihn gegen Plutarchs angeblich unchristlichen Glauben an die apatheia theôn („die Gefühllosigkeit der Götter“). Die Tatsache, dass sich Plutarchs Vorwurf auf eine zentrale Lehre der christlichen Theologie bezieht, übergeht Camerarius kommentarlos. Damit schafft er überaus tendenziös eine Kluft zwischen PlutarchPlutarch und dem christlichen Sprechen über Gott und stellt Herodot auf die Seite der Christen. Später bemerkt Camerarius, dass XenophonXenophon, ein Muster griechischer Frömmigkeit, ähnliche Ideen wie HerodotsHerodot Solon in seinen HellenicaXenophonHel. äußere, so z.B. „Gott liebt es, die Großen klein und die Kleinen groß zu machen.“5HerodotXenophon In dieser Redewendung könnten Camerarius und seine Leser möglicherweise biblische Beiklänge gehört haben, so etwa eine Stelle des Lukas-Evangeliums, die Verse der Psalmen wiedergeben, die LutherLuther, Martin mit den folgenden Worter übersetzt hatte: „Er stösset die Gewaltigen vom stuel / Vnd erhebt die Elenden. / Die Hungerigen füllet er mit Güttern / Vnd lesst die Reichen leer“.6Luther, Martin Es ist evident, dass Camerarius hier auf die Klage der blasphêmia zu antworten sucht. Sein Gegenargument ist ausgeklügelt und für denjenigen, der wenig über den platonischen und christlichen Hintergrund weiß, einleuchtend. Die theologischen Probleme gehen jedoch viel tiefer; das Thema sollte in den folgenden Jahrhunderten wieder relevant werden.

Camerarius’ Ansichten zum Thema wurden von anderen lutherischen Gelehrten wiederholt. David ChytraeusChytraeus, David z.B., der mit Camerarius in Tübingen im Jahr 1539 (bis Camerarius’ Abfahrt für Leipzig) und später mit MelanchthonMelanchthon, Philipp in Wittenberg (ab 1544) studierte7Chytraeus, DavidHerodotChytraeus, DavidMelanchthon, PhilippChytraeus, DavidChytraeus, DavidCamerarius d.Ä., JoachimProoemium in Historias HerodotiChytraeus, DavidChytraeus, DavidChytraeus, David und als Professor in Rostock mehrere Vorlesungen, Kommentare und Bücher über HerodotHerodot schrieb, übernimmt Camerarius’ Argumente über den φθόνος θεῶν in seinem Kommentar zum ersten Buch HerodotsHerodot.8Chytraeus, David

Das Problem der Frömmigkeit HerodotsHerodot war auch für spätere Humanisten virulent: Henri EstienneEstienne, Henri hat in seiner Apologia pro HerodotoEstienne, HenriApologia pro Herodoto mehrere Seiten über HerodotsHerodot quasi-christlichen Glauben geschrieben; er erwähnt jedoch weder den phthonos theôn noch die Verteidigung des Camerarius. Isaac CasaubonCasaubon, Isaac unterstrich Camerarius’ Argument über den phthonos theôn in seinem eigenen HerodotHerodot Exemplar,9 erwähnte ihn in seinen Herodot-Vorlesungen in Paris 1601/2 aber nicht. Hier waren die Äußerungen des Camerarius offenbar bekannt, genügten dem Anspruch der Calvinistischen Humanisten aber wohl nicht.

IV. Schlussbetrachtung

Es ist insgesamt bemerkenswert, dass sich im ProoemiumCamerarius d.Ä., JoachimProoemium in Historias Herodoti kaum HerodotHerodot-Deutungen nachweisen lassen, die schon bei Philipp MelanchthonMelanchthon, Philipp und später bei David ChytraeusChytraeus, David zu finden sind. MelanchthonMelanchthon, Philipp, der Zeit seines Lebens mit Camerarius befreundet war, und ChytraeusChytraeus, David haben in ihren Herodotstudien ausführlich aufzuzeigen versucht, wie griechische Literatur und Geschichte mit der moralischen Lehre des biblischen Dekalogs übereinstimmt, wie die Ereignisse, die Herodot berichtet, biblische Weissagungen bestätigen und wie viele Berührungspunkte (grammatikalisch wie sachlich) mit dem Alten und Neuen Testamenten bestehen. Diese Betrachtung HerodotsHerodot wird am prominentesten von David ChytraeusChytraeus, David vertreten, doch geht sie nachweislich zurück auf Philipp MelanchthonsMelanchthon, Philipp moralische und pädagogische Deutung der griechischen Literatur.1 Trotz der engen persönlichen, theologischen und literarischen Vertrautheit, die es zwischen MelanchthonMelanchthon, Philipp und Camerarius von 1521 fast vier Jahrzehnte lang (bis zum Tode MelanchthonsMelanchthon, Philipp 1560) gab, ist Camerarius MelanchthonMelanchthon, Philipp nicht darin gefolgt, Herodot mit dem moralischen und sachlichen Gehalt der Bibel explizit in Beziehung zu setzen.2HomerMelanchthon, PhilippMelanchthon, Philipp

Camerarius hat, wie wir gesehen haben, im 16. Jahrhundert das Projekt der Verteidigung HerodotsHerodot angestoßen und damit die Grundlagen des Diskurses gelegt, den Henri EstienneEstienne, Henri im Jahr 1566 weiterentwickelte. Sein ProoemiumCamerarius d.Ä., JoachimProoemium in Historias Herodoti fand große Verbreitung und wurde vielfach zitiert, schon weil es in jeder wissenschaftlichen Herodot-Edition mehr als 200 Jahre lang immer wieder abgedruckt wurde. Wenn seine Antworten auch nicht jeden überzeugt haben, so haben sie die Debatte doch mehr als ein Jahrhundert lang bestimmt.

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Camerarius and Sophocles

Cressida Ryan (Oxford)

Joachim Camerarius’ work on SophoclesSophokles may not be as unknown as his work on other authors, but, even within the realm of Sophoclean scholarship, his contribution remains under-discussed.1 Michael Lurje laments that the history of interpretation has been ignored in work on classical reception, sitting uncomfortably forgotten between textual criticism, the history of scholarship, the classical tradition and classical reception.2 In this article I begin to bridge these gaps by suggesting ways in which Camerarius’ work on SophoclesSophokles offers a window into understanding the cultural milieu in which he was working. This is the first step in a larger project setting his work on Greek tragedy within its European context, and what is presented here is necessarily limited, but suggests some new ways to appreciate sixteenth-century scholarship.

The first part of this article examines some of the paratextual elements of Camerarius’ work on Sophocles. In the second part I use his commentary on Oedipus at ColonusSophoklesO.C. (henceforth OC) and translation of AjaxSophoklesAi. to discuss his approach to Greek tragedy in more detail. I concentrate on the OC in order to demonstrate how Camerarius’ work shows the increasing importance of this lesser-studied play to the history of the Sophoclean scholarship. I include the AjaxSophoklesAi. because it is one of the two plays he translated into Latin, and raises some of themes of this article most clearly, particularly concerning tragedy’s supposed potential Christian moral compass.3SophoklesEl.

Texts under consideration

Before discussing the texts further, I first introduce Camerarius’ Sophoclean scholarship and summarise its (lack of) impact on modern editions. The editio princeps of SophoclesSophokles was Aldus ManutiusManutius, Aldus’ 1502 Venetian edition. This marked a major step forward in the dissemination of the text of SophoclesSophokles, but perhaps not in the development of what text was disseminated.1SophoklesManutius, Aldus The often disparaging comments reveal, in part, the tendency to view sixteenth-century volumes in the light of modern critical editions, and with an eye to recovering some kind of original text, rather than as products of their times displaying a contextual scholarship beyond textual preservation. Camerarius’ three published engagements with SophoclesSophokles demonstrate a more nuanced interaction with the text, its translation, and literary theory.

Camerarius published two main volumes dealing with SophoclesSophokles, straddling what is perceived of as a major sixteenth-century development in Sophoclean textual studies, that is, TurnebusTurnebus, Adrianus’ use of the Triclinian recension (Paris gr. 2711) in his 1552/53 edition.2 To this end, his work on SophoclesSophokles is particularly interesting in demonstrating the effect of increasing manuscript studies on the development of a text. Given his own rapidly changing intellectual and religious climate, his thirty year involvement with the text of SophoclesSophokles may also provide a way of understanding the history of ideas in sixteenth-century Germany. This article begins to examine some of the ways such an understanding might be construed.

Camerarius’ first Sophoclean text is his 1534 Σοφοκλέους τραγῳδίαι ἑπτὰ. Sophoclis tragoediæ septem cum commentarijs interpretationum argumenti Thebaidos fabularum Sophoclis, authore I. CamerarioCamerarius d.Ä., JoachimCommentarii Thebaidos fabularum Sophoclis. The volume includes the epigrams and hypotheses common to Greek texts of SophoclesSophokles, and then an unannotated text of the seven extant plays, followed by a commentary on the Theban plays.3Burton, JohnPentalogia

His next, in 1556, was a commentary: Commentatio explicationum omnium tragœdiarum SophoclisCamerarius d.Ä., JoachimCommentatio explicationum omnium tragœdiarum Sophoclis, cum exemplo duplicis conuersionis, I. Camerarii. This includes Latin translations of AjaxSophoklesAi. and ElectraSophoklesEl., but no Greek text. There is a prefatory epistola outlining some of his thoughts on SophoclesSophokles and the volume he is writing.4

Finally, his commentary and translations were included in Stephanus’ 1568 edition: ΣΟΦΟΚΛΟΕΥΣ ΑἹ ἙΠΤᾺ ΤΡΑΓῼΔΊΑΙ – Sophoclis tragoediae septem, una cum omnibus Graecis scholiis, & cum Latinis Ioach. Camerarij. Annotationes Henrici Stephani in Sophoclem & Euripidem, seorsum excusae, simul prodeunt.5Sophokles The translations are line for line renditions of the Sophoclean text. To this extent, they follow the school of ad verbum translation, rather than being more literary reappropriations.6SophoklesEl. As I have argued elsewhere, however, such clear distinctions are not always helpful, and much of the second part of this article is devoted to discussing how the differences in what is generally a close and carefully worked translation can give us an insight into its overall tenor.7

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