Buch lesen: «Sieger, Besiegter, Sohn », Seite 3

Schriftart:

KAPITEL SECHS

Ceres trat aus dem kleinen Boot ans Ufer. Die Tatsache, dass solch ein Ort so tief unter der Erde existieren konnte, erfüllt sie mit Ehrfurcht. Sie wusste, dass die Kräfte der Uralten im Spiel waren, aber sie konnte nicht verstehen, warum sie ihn geschaffen hatten. Warum würden sie einen Garten inmitten eines Alptraums bauen?

Auch wenn sie nicht viel über die Uralten wusste, so überraschte sie die Tatsache eigentlich nicht, dass ein Alptraum ein hinreichender Grund für sie war, einen solchen Garten zu schaffen.

Dann gab es da noch den Dom, der aus einem güldenen Licht zu sein schien. Ceres näherte sich ihm. Wenn es hier eine Antwort gab, dann würde sie sie irgendwo innerhalb des Doms finden.

Das Licht wurde von einem feinen Regenmantel durchdrungen, und dahinter konnte Ceres zwei Gestalten erkennen. Sie hoffte, dass es nicht zwei weitere halbtote Zauberer sein würden. Ceres war sich nicht sicher, ob sie noch die Kraft besitzen würde, es mit ihnen aufzunehmen.

Ceres trat in das Licht, und sie machte sich bereit, zurückgeschleudert zu werden. Doch sie spürte nur kurz einen Widerstand, und dann war sie auf der anderen Seite und blickte sich innerhalb des Domes um.

Das Innere sah aus wie ein prächtiger Raum, mit Teppichen und Divans, Statuen und Ornamenten, die von der Decke des Doms zu hängen schienen. Dort fand sie auch anderes vor: Glaswaren und Bücher, die auf die Kunst eines Zauberers hindeuteten.

Zwei Gestalten standen inmitten des Raums. Der Mann strahlte die gleiche Anmut und Friedseligkeit aus, die Ceres an ihrer Mutter beobachtet hatte, und er trug die blassen Gewänder, die sie in den Erinnerungen an die Uralten gesehen hatte. Die Frau trug die dunklen Kleider eines Zauberers, doch im Gegensatz zu den anderen schien sie noch immer jung und ohne erkennbare Spuren der Zeit.

Als Ceres sie ansah, bemerkte sie, dass ihre Erscheinungen so wie die Erinnerungen an die Vergangenheit leicht durchsichtig waren.

„Sie sind nicht echt“, sagte sie.

Der Mann lachte. „Hörst du das, Lin? Wir sind nicht echt.“

Die Frau griff nach seinem Arm. „Ein verständliches Missverständnis. Nach all der Zeit sehen wir wahrscheinlich nur noch wie blasse Schatten unserer Selbst aus.“

Das überraschte Ceres ein wenig. Wie automatisch streckte sie ihren Arm nach dem Mann aus. Ihre Hand glitt durch seine Brust hindurch. Da erkannte sie, was sie gerade getan hatte.

„Tut mir leid“, sagte sie.

„Schon gut“, sagte der Mann. „Ich kann mir vorstellen, dass das ein bisschen seltsam sein muss.“

„Was seid ihr?“ fragte sie. „Ich habe die Zauberer dort oben gesehen, und ihr seid nicht wie sie, ihr seid aber auch keine der Erinnerungen, denn die sind nichts als bloße Bilder.“

„Wir sind etwas... anderes“, sagte die Frau. „Ich bin Lin, und das hier ist Alteus.“

„Ich bin Ceres.“

Ceres bemerkte, wie nah die beiden beieinander standen; wie Lins Hand auf Alteus’ Schulter ruhte. Die beiden sahen aus, als wären sie schwer verliebt. Würden Thanos und sie jemals so enden? Wahrscheinlich zumindest nicht derart durchsichtig.

„Die Schlacht tobte“, sagte Alteus, „und wir konnten sie nicht aufhalten. Was die Zauberer vorhatten, war falsch.“

„Einige von euch waren nicht besser“, sagte Lin mit leichtem Lächeln als hätten sie diese Unterhaltung schon viele Male gehabt. „Es ist alles so schnell gegangen. Die Uralten haben die Zauberer so wie sie waren eingesperrt und ihre Magie hat Vergangenheit und Zukunft zu vermischen begonnen, und Alteus und ich...“

„Aus euch ist etwas anderes geworden“, endete Ceres. Empfindende Erinnerungen. Geister der Vergangenheit, die einander berühren konnten, wenn auch sonst nichts anderes.

„Ich hab irgendwie das Gefühl, dass du dir deinen Weg nicht bis hierher gebahnt hast, um etwas über uns herauszufinden“, sagte Alteus.

Ceres schluckte. Das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte einen Gegenstand erwartet, vielleicht etwas wie einen Verbindungspunkt, der die Magie in den Gewölben über ihr am Leben hielt. Dennoch hatte der Uralte vor ihr Recht: sie war aus einem bestimmten Grund hierhergekommen.

„In meinen Adern fließt das Blut der Uralten“, sagte sie.

Sie sah Alteus nicken. „Das kann ich sehen.“

„Aber etwas in ihr hält es zurück“, sagte Lin. „Schränkt es ein.“

„Jemand hat mich vergiftet“, sagte Ceres. „Sie hat mir meine Kräfte genommen. Meine Mutter konnte sie für eine kurze Weile wiederherstellen, aber das hat nicht angehalten.“

„Daskalos’ Gift“, sagte Lin leicht angewidert.

„Unheilvoll“, sagte Alteus.

„Aber nicht unumkehrbar“, fügte Lin hinzu. Sie blickte zu Ceres. „Wenn sie es wert ist. Es tut mir leid, aber dazu bräuchte man enorme Kräfte. Wir haben gesehen, was es anrichten kann.“

„Und da wir nun mal sind wie wir sind, bräuchte es einiges, um die Wirkung rückgängig zu machen“, sagte Alteus.

Lin griff nach seinem Arm. „Vielleicht ist es an der Zeit, etwas Neues zu entdecken. Wir sind schon seit Hunderten von Jahren hier. Auch wenn es uns hier an nichts fehlt, vielleicht sollten wir sehen, was als nächstes kommt.“

Ceres starrte sie an, als sie das hörte und vergegenwärtigte sich, was diese Worte bedeuten würden.

„Wartet, mich zu heilen, würde euch töten?“ Sie schüttelte den Kopf, doch dann tauchten Gedanken an Thanos vor ihrem inneren Auge auf und an die anderen auf Haylon. Wenn sie es nicht schaffte, dann würden auch sie sterben. „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, gab sie zu. „Ich will nicht, dass jemand für mich stirbt, aber viele Menschen werden sterben, wenn ich meine Kräfte nicht zurückgewinne.“

Sie sah, wie die beiden Geister sich ansahen.

„Das ist doch ein guter Anfang“, sagte Alteus. „Denn er bedeutet, dass es einen Grund gibt. Erzähl uns den Rest. Erzähl uns alles, was dazu geführt hat, dass du jetzt hier stehst.“

Ceres gab sich alle Mühe. Sie berichtete ihnen von der Rebellion und dem Krieg. Von der Besatzung, die diesem gefolgt war und ihrer Hilflosigkeit. Von dem Angriff auf Haylon, der alle diejenigen, die sie liebte, in Gefahr brachte.

„Ich verstehe“, sagte Lin und streckte ihre Hand nach Ceres aus. Zu Ceres’ Überraschung konnte sie einen leichten Druck spüren. „Das erinnert mich ein klein wenig an unseren Krieg.“

„Die Vergangenheit hallt in der Gegenwart wieder“, sagte Alteus. „Aber es gibt so manchen Widerhall, der nicht wiederholt werden kann. Wir müssen wissen, ob sie das versteht.“

Ceres sah Lin nicken.

„Das stimmt“, sagte der Geist. „Eine Frage also an dich Ceres. Mal sehen, ob du verstehst. Warum ist das alles noch immer hier? Warum sind die Zauberer hier noch immer gefangen? Warum haben die Uralten sie nicht zerstört?“

Diese Fragen fühlten sich wie ein Test an, und Ceres hatte das Gefühl, dass, wenn sie ihnen keine zufriedenstellende Antwort geben konnte, sie von ihrer Seite keine Hilfe empfangen würde. In Anbetracht dessen, was es sie kosten würde, war Ceres erstaunt, dass sie es überhaupt in Erwägung zogen.

„Hätten die Uralten sie denn überhaupt zerstören können?“ fragte Ceres.

Alteus schwieg für einen Moment, und dann nickte er. „Das war es nicht. Denk mal über die Welt nach.“

Ceres dachte nach. Sie dachte an die Auswirkungen des Kriegs. An die Verwüstung in Felldust und die der Insel über ihr. Daran, wie wenige Uralte noch auf dieser Welt existierten. An die Besatzung und die Menschen, die im Kampf für das Reich ihr Leben gelassen hatten.

„Ich denke, ihr habt sie nicht zerstört, weil es euch zu viel gekostet hätte“, sagte Ceres. „Worin besteht der Sinn im Siegen, wenn danach nichts mehr übrig ist?“ Sie vermutete, dass es jedoch mehr als nur das war. „Ich war Teil der Rebellion. Wir haben gegen etwas gekämpft, das groß und böse war, das das Leben von Menschen zerstört hat, doch wie viele Menschen sind bei diesem Versuch gestorben? Es kann nicht die Lösung sein, jeden abzuschlachten.“

Sie sah, wie Lin und Alteus Blicke austauschten. Dann nickten sie.

„Zuerst haben wir die Rebellion der Zauberer gewähren lassen“, sagte Alteus. „Wir glaubten, dass sie zu nichts führen würde. Dann ist sie größer geworden, und wir haben zu kämpfen begonnen, doch in diesem Kampf haben wir genauso viel Zerstörung angerichtet wie sie. Wir hatten die Macht, ganze Landschaften zu verwüsten, und wir haben sie genutzt. Oh ja, und wie wir sie genutzt haben.“

„Du hast gesehen, was dieser Insel angetan worden ist“, sagte Lin. „Wenn ich dich heile, falls ich dich heile, dann wirst du diese Art von Kraft besitzen. Was wirst du mit ihr anstellen, Ceres?“

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie ihr eine eindeutige Antwort hätte geben können. Das Reich zu Fall zu bringen. Sie hätte den Adel zerstört. Jetzt wollte sie nur noch, dass die Menschen ein glückliches Leben in Sicherheit leben konnten; das schien doch nicht zu viel verlangt.

„Ich will einfach nur die Menschen retten, die ich liebe“, sagte sie. „Ich will niemanden zerstören. Doch vielleicht... muss ich das. Ich hasse es, ich will einfach nur Frieden.“

Ceres überraschte diese Antwort selbst. Sie wollte nicht noch mehr Gewalt. Sie musste es einfach tun, um zu verhindern, dass unschuldige Menschen hingerichtet würden. Das brachte ihr ein weiteres Kopfnicken ein.

„Eine gute Antwort“, sagte Lin „Komm her.“

Die ehemalige Zauberin trat an die gläsernen Phiolen und alchemistischen Geräte heran. Auch sie schienen nur Illusionen zu sein. Sie hantierte mit ihnen herum, mischte und verschob eins um das andere. Alteus ging ihr zur Hand, und die beiden schienen in einer Art stillem Einverständnis zusammenzuarbeiten, dass man nur beherrschte, wenn man viele Jahre zusammen verbracht hatte. Sie füllten Lösungen in neue Behältnisse, fügten Zutaten hinzu und konsultierten verschiedene Schriften.

Ceres beobachtete sie, und sie musste zugeben, dass sie nicht einmal die Hälfte von dem, was sie da taten, verstand. Als die schließlich mit einer Glasphiole vor ihr standen, dann schien ihr das beinahe unbefriedigend.

„Trink das“, sagte Lin. Sie streckte sie Ceres entgegen. Sie schien keine Substanz zu haben und doch umfasste Ceres’ Hand solides Glas, als sie sie entgegennahm. Sie hielt sie in die Höhe und sah, dass das Glitzern der goldenen Flüssigkeit dem Farbton des Doms, der sie umgab, entsprach.

Ceres trank und es kam ihr vor, als würde sie Sternenlicht zu sich nehmen.

Es schien sie zu durchfluten. Dort, wo es sich in ihr auszubreiten begann, entspannten sich ihre Muskeln, starben die Schmerzen, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie da waren. Sie spürte auch, wie etwas in ihr zu wachsen begann. Es breitete sich wie ein Wurzelsystem in ihr aus, während sich die Kanäle, durch die ihre Kraft einst geflossen war, regenerierten.

Ceres hatte sich seit Beginn der Invasion nicht mehr so gut gefühlt. Es fühlte sich an, als wäre eine tiefe Friedseligkeit in ihr eingekehrt.

„War es das?“ fragte Ceres.

Alteus und Lin nahmen sich bei den Händen.

„Noch nicht ganz“, sagte Alteus.

Der Dom um Ceres schien zu implodieren und jeder Umriss schien sich dabei in reines Licht zu verwandeln. Das Licht schien sich an der Stelle zu konzentrieren, wo der Uralte und die Zauberin standen, bis Ceres auch sie nicht mehr ausmachen konnte.

„Wir sind gespannt, wie es weitergehen wird“, sagte Lin. „Auf Wiedersehen, Ceres.“

Das Licht schoss auf sie zu, füllte Ceres aus, sodass die Kanäle in ihrem Körper wie frisch durchflutete Aquaedukte überzufließen schienen. Es floss immer weiter in sie hinein und füllte sie immer mehr aus, sodass sich mehr Kraft in Ceres zu stauen begann als jemals zuvor. Zum ersten Mal verstand sie, wie tief die Kräfte der Uralten wirklich reichten.

Sie stand da, die Kraft pulsierte in ihr, und sie wusste, dass die Zeit gekommen war.

Die Zeit des Krieges war gekommen.

KAPITEL SIEBEN

Jeva spürte, wie ihre Anspannung mit jedem Schritt, der sie der Versammlungshalle näher brachte, wuchs. Die Menschen am Versammlungsort starrten sie auf eine Weise an, die sie sonst nur von fremden Menschen kannte, die ihresgleichen anstarrten: als wäre sie eine seltsame, fremde vielleicht sogar gefährliche Person. Das war kein Gefühl, das Jeva mochte.

Lag das nur daran, dass sie hier nur selten die Male der Priesterschaft zu Gesicht bekamen oder war es etwas anderes? Dann schallten ihr die ersten Beschimpfungen und Anschuldigungen der Menge entgegen, und Jeva begann zu verstehen.

„Verräterin!“

„Du hast deinen Stamm auf die Schlachtbank geführt!“

Ein junger Mann trat mit einem Hochmut aus der Menge heraus, den man nur bei jungen Männern finden konnte. Er stolzierte umher als gehörte ihm der Pfad, der zu dem Haus der Toten führte. Als Jeva ihm auszuweichen versuchte, baute er sich vor ihr auf und blockierte den Weg.

Jeva hätte ihm dafür eine verpassen können, aber sie hatte jetzt besseres zu tun.

„Geh mir aus dem Weg“, sagte sie. „Ich bin nicht gekommen, um meine Kräfte zu messen.“

„Sind dir die Gewohnheiten unseres Volkes denn vollkommen fremd geworden?“, fragte er. „Du hast deinen Stamm in den Tod nach Delos gelockt. Wie viele sind zurückgekehrt?“

Jeva konnte die Wut in seinen Worten hören. Es war die Art von Wut, die auch ihr Volk empfand, wenn sie jemanden verloren, der ihnen nahestand. Ihm zu antworten, dass sie sich auf den Weg zu den Ahnen gemacht hatte und er darüber glücklich sein sollte, würde nichts Gutes verheißen. Jeva war sich auf jeden Fall nicht einmal mehr sicher, ob sie das noch glauben konnte. Sie hatte das sinnlose Sterben des Kriegs gesehen.

„Aber du bist zurückgekommen“, sagte der junge Mann. „Du hast einen deiner Stämme zerstört, und dann bist du auch noch zurückgekehrt, du Feigling!“

An jedem anderen Tag hätte Jeva ihn dafür getötet, doch in Wahrheit spielte das Quäken solch eines Idioten keine Rolle, nicht im Vergleich zu all dem, was gerade an anderer Stelle geschah. Sie versuchte erneut an ihm vorbeizugehen.

Jeva hielt inne, als er ein Messer zog.

„Das willst du nicht versuchen, Junge“, sagte sie.

„Sag mir nicht, was ich will oder nicht!“ schrie er und griff sie an.

Jeva wich dem Hieb instinktiv aus und brachte ihre Klingenkette zum Einsatz. Eine der Ketten wand sich um seinen Hals und zurrte sich fest als Jeva sich mit geübter Schnelligkeit fortzubewegen begann. Blut spritzte als der junge Mann nach seinen Wunden tastend auf die Knie fiel.

„Verdammt“, sagte Jeva sanft. „Warum musst du mir das antun, du Trottel?“

Natürlich blieb keine Zeit für eine Antwort. Darauf gab es nie irgendeine Antwort. Jeva flüsterte die Worte eines Gebets für die Toten über den jungen Mann gebeugt, dann richtete sie sich auf und hob ihn hoch. Andere Dorfbewohner folgten ihr, als sie ihren Weg fortsetzte. Jeva konnte die Anspannung fühlen, die an die Stelle der anfänglichen Ausgelassenheit getreten war. Sie folgten ihr wie eine Ehrengarde oder das Geleit einer Gefangenen auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung.

Als sie das Haus der Toten erreichte, erwarteten sie dort bereits die Ältesten. Jeva tapste barfüßig hinein, kniete vor dem ewigen Feuer nieder und warf die Leiche ihres Angreifers hinein. Sie stand da und sah zu, wie sie Feuer fing, während sie einen Blick auf diejenigen Leute warf, die sie zu überzeugen gekommen war.

„Du bist mit Blut an deinen Händen zu uns gekommen“, sagte einer der Sprecher der Toten. Er trat auf sie zu und wedelte dabei mit seinen Seilen umher. „Die Toten haben uns gesagt, dass jemand kommen würde, aber nicht, dass es auf diese Weise geschehen würde.“

Jeva blickte ihn an und fragte sich, ob er die Wahrheit sprach. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie das nicht in Frage gestellt hätte.

„Er hat mich angegriffen“, sagte Jeva. „Er war jedoch nicht so schnell, wie er geglaubt hatte.“

Die anderen nickten. Solche Dinge konnten in den rauen Gegenden dieser Welt geschehen. Jeva ließ sich nichts von dem Schuldgefühl, das sie plagte, in ihrem Gesicht anmerken.

„Du bist gekommen, um uns etwas zu fragen“, sagte der Sprecher.

Jeva nickte. „Das bin ich.“

„Dann stell uns deine Frage.“

Jeva sammelte ihre Gedanken. „Ich bin gekommen, um euch für die Insel Haylon um Hilfe zu bitten. Eine große Flotte wird sie auf Geheiß des Ersten Steins angreifen. Ich denke, dass unser Volk ihnen entscheidend zur Seite stehen kann.“

Ein Stimmengewirr brach aus. Fragen und Forderungen, Anschuldigungen und Meinungen schienen in einem großen Pulk zu verschwimmen.

„Sie will, dass wir für sie sterben.“

„Das haben wir schon einmal gehört!“

„Warum sollten wir für Menschen kämpfen, die wir gar nicht kennen?“

Jeva ertrug all das geduldig. Wenn sie es vermasselte, dann würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit diesen Raum nicht lebendig wieder verlassen. Sie hätte einen gewissen inneren Frieden dabei empfinden sollen, aber sie musste eben auch daran denken, wie Thanos sie unter Einsatz seines Lebens gerettet hatte und an all die Menschen, die auf Haylon festsaßen. Sie durfte sie nicht enttäuschen.

„Wir sollten sie den Toten übergeben nach allem, was sie getan hat!“ rief einer.

Der Sprecher der Toten stellte sich neben Jeva und hob die Hände, um so um Ruhe zu bitten.

„Wir wissen, worum uns unsere Schwester hier bittet“, sagte der Sprecher. „Es ist jetzt nicht an der Zeit, darüber zu sprechen. Wir sind nur die Lebenden. Jetzt sollten wir hören, was die Toten dazu zu sagen haben.“

Er griff sich an seinen Gürtel und zog ein Täschchen hervor, das eine Mischung aus heiligen Pulvern und der Asche der Ahnen enthielt. Er warf es in das Feuer und die Flammen loderten auf.

„Atme Schwester“, sagte der Sprecher. „Atme und sieh.“

Jeva atmete den Rauch ein. Sie sog ihn tief in ihre Lungen ein. Die Flammen tanzten in dem Graben unter ihr, und Jeva erblickte zum ersten Mal in vielen Jahren die Toten.

Zuerst erschien ihr der Geist des Mannes, den sie getötet hatte. Er erhob sich aus seiner brennenden Leiche und lief durch die Flammen auf sie zu.

„Du hast mich getötet“, sagte er leicht erschrocken. „Du hast mich getötet!“

Er schlug sie, und obwohl die Toten nicht in der Lage sein sollten, den Lebendigen etwas anzuhaben, spürte Jeva die volle Wucht seines Angriffs. Er schlug zu und trat erwartungsvoll dreinblickend zurück.

Dann kamen die anderen Toten zu Jeva, und sie waren kaum freundlicher zu ihr als der junge Mann, den sie getötet hatte. Sie waren alle dort: diejenigen, die sie selbst getötet hatte und jene, die sie auf Haylon ihrem Tod überlassen hatte. Einer nach dem anderen trat an sie heran, und einer nach dem anderen schlug nach Jeva, sodass sie zu taumeln begann und sich schließlich flach auf dem Boden liegend wiederfand. Und sie sorgten dafür, dass sie auch dort blieb.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor sie von ihr abließen, erst jetzt konnte Jeva wieder den Blick heben. Sie blickte auf Haylon, die Insel war von Schiffen umzingelt und die Schlacht tobte.

Sie sah, wie die Schiffe des Knochenvolks die der Angreifer rammten, Löcher in sie schlugen, sodass ihre Krieger sich an das Ufer retten mussten. Sie sah sie kämpfen und töten und sterben. Jeva sah, wie sie, so wie vor kurzem in Delos, wie die Fliegen starben.

„Wenn du sie nach Haylon führst, dann werden sie sterben“, sagte eine Stimme, die so klang als würde sie sich aus den Stimmen Tausender Ahnen zusammensetzen. „Sie werden sterben, so wie wir gestorben sind.“

„Werden sie gewinnen?“ fragte Jeva.

Es gab eine kurze Pause bevor die Stimmen antworteten. „Es ist möglich, dass die Insel gerettet werden kann.“

Es wäre also keine leere Geste. Es würde nicht so werden wie in Delos.

„Es wäre das Ende unseres Volkes“, sagte die Stimme. „Einige werden überleben, aber unsere Stämme werden es nicht. Unsere Traditionen werden es nicht. So viele werden sich uns anschließen und dich im Tode erwarten.“

Das schürte Jevas Angst. Sie hatte die Wut, die Schläge derjenigen gespürt, die gestorben waren. War es das wert? Konnte sie es ihrem ganzen Volk antun?

„Und du würdest sterben“, fuhr die Stimme fort. „Künde das unserem Volk, und du wirst mit deinem Leben bezahlen.“

Langsam kam sie wieder zu Bewusstsein. Sie lag auf dem Boden vor dem Feuer. Jeva fasste sich mit einer Hand ins Gesicht und bemerkte Blut an ihren Fingern, auch wenn sie nicht wusste, ob es die Anstrengung ihrer Vision war oder das Resultat der Gewalt der Toten gegen sie. Sie zwang sich aufzustehen und über die versammelte Menge zu blicken.

„Erzähl uns, was du gesehen hast, Schwester“, sagte der Sprecher der Toten.

Jeva blickte ihn an und versuchte zu erahnen, wie viel, falls überhaupt, er gesehen haben musste. Konnte sie in diesem Moment lügen? Konnte sie der versammelten Menge sagen, dass die Toten ihren Plan begrüßten?

Jeva wusste, dass sie die Lügen nicht zu weit treiben durfte, auch nicht für Thanos.

„Ich habe Tod gesehen“, „euren Tod, meinen Tod. Den Tod unseres gesamten Volkes, wenn wir in die Schlacht ziehen.“

Ein Murmeln griff um sich. Ihr Volk hatte keine Angst vor dem Tod, aber die Zerstörung all ihrer Traditionen war etwas anderes.

„Ihr habt mich gebeten, im Namen der Toten zu sprechen“, sagte Jeva, „und sie haben gesagt, dass durch die Leben unseres Stamms auf Haylon ein Sieg errungen werden kann.“ Sie atmete tief durch und überlegte, was Thanos jetzt getan hätte. „Ich will nicht im Namen der Toten sprechen. Ich will im Namen der Lebenden sprechen.“

Das Gemurmel veränderte sich und wurde noch verworrener. Auch nahmen die Stimmen in einigen Ecken einen wütenden Ton an.

„Ich weiß, was ihr denkt“, sagte Jeva. „Ihr denkt, dass ich ein Sakrileg begehe. Aber dort draußen wartet eine ganze Insel voller Menschen auf unsere Hilfe. Ich habe die Toten gesehen, und sie haben mich für ihren Tod verflucht. Wisst ihr, was mir das sagt? Dass das Leben wichtig ist! Dass die Leben all jener, die ohne unsere Hilfe sterben werden, wichtig sind. Wenn wir ihnen nicht helfen, dann lassen wir das Böse gewähren. Wir lassen zu, dass friedfertige Menschen abgeschlachtet werden. Ich werde das nicht zulassen, nicht, weil die Toten es sagen, sondern die Lebenden!“

Das verursachte einen Aufruhr in der Halle. Der Sprecher der Toten blickte erst auf die Menge und dann zu Jeva. Er drängte sie zur Tür.

„Du solltest jetzt gehen“, sagte er. „Geh, bevor sie dich wegen Blasphemie töten.“

Doch Jeva blieb. Die Toten hatten ihr bereits gesagt, dass sie für diesen Versuch sterben würde. Wenn das der Preis für ihre Hilfe war, dann würde sie ihn bezahlen. Sie stand wie eine Insel der Ruhe inmitten des Tumults. Als ein Mann auf sie zugerannt kam, verpasste sie ihm einen Tritt. Sie blieb, wo sie war, denn mehr konnte sie in diesem Augenblick nicht tun. Sie wartete auf den Moment, in dem einer von ihnen sie schließlich töten würde.

Jeva musste jedoch verwirrt erkennen, dass dies nicht geschah. Der Lärm im Raum ließ nach, und die Menschen blieben vor ihr stehen und blickten sie an. Einer nach dem anderen fiel auf die Knie. Dann trat der Sprecher der Toten vor.

„Es sieht so aus, als würden wir mit dir nach Haylon ziehen, Schwester.“

Jeva blinzelte. „Ich... verstehe nicht.“

Sie hätte längst tot sein sollen. Die Toten hatten ihr gesagt, dass sie ihr Leben würde opfern müssen.

„Hast du unsere Traditionen denn so völlig vergessen?“ fragte der Priester. „Du hast uns einen Tod angeboten, der es wert sein wird. Wieso sollten wir das ablehnen?“

Jeva fiel neben den anderen auf die Knie. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte den Tod erwartet und hatte das Leben bekommen. Jetzt musste es nur noch für etwas eingesetzt werden.

„Wir kommen, Thanos“, versprach sie.

5,79 €
Altersbeschränkung:
16+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
10 Oktober 2019
Umfang:
261 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9781640292352
Download-Format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip