Nur den Tapferen

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Kapitel zwei

Genoveva blieb nichts anderes übrig, als im großen Saal des Schlosses den Wutausbruch ihres Mannes still mitanzusehen. In den Momenten, in denen er nicht wütend war, war Altfor mit seinen längeren, gewellten braunen Haaren, den dinarischen Zügen und tiefdunklen Augen eigentlich ein gutaussehender Mann. Doch für Genoveva blieb er der rotgesichtige und tobende Mann, als hätte er keine andere Seite als diese.

Sie wagte es nicht, sich zu rühren oder seinen Zorn auf sich zu ziehen, und da war sie gewiss nicht die einzige. Er war umringt von den einstigen Dienern und Anhängern des Herzogs, die allesamt schwiegen und von denen niemand der erste sein wollte, Altfors Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Selbst Moira schien sich zurückzuhalten, auch wenn sie gut sichtbar in größerer Nähe zu Genovevas Ehemann stand als Genoveva selbst, und das in jeglicher Hinsicht.

„Mein Vater ist tot!“ schrie Altfor als hätten nicht alle Anwesenden bereits erfahren, was in dem Kampfgraben geschehen war. „Erst mein Bruder und jetzt mein Vater, ermordet von einem Verräter und keiner von euch hat Antworten für mich.“

Diese Wut fühlte sich für Genoveva gefährlich an, denn zu heftig und wirr versuchte sie, anstelle von Royce einen anderen Sündenbock zu finden. Sie wünschte, dass Royce jetzt hier gewesen wäre und gleichzeitig war sie froh, dass er es nicht war.

Ihr Herz war erfüllt von Schmerz, weil er nicht da war, und sie wünschte, dass sie etwas anderes hätte tun können als neben ihrem Ehemann zu stehen und ihm vom Rand des Grabens aus beim Kämpfen zuzusehen. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, jetzt bei Royce zu sein, und Genoveva wusste, dass sie diesen Teil Altfor auf keinen Fall sehen lassen durfte. Altfor war viel zu wütend, und sie hatte sehr klar gespürt, wie sich dieser Ärger ganz leicht gegen sie richten konnte.

„Wird in dieser Situation niemand etwas unternehmen?“ fragte Altfor.

„Genau das wollte ich gerade fragen, Neffe“, sprach er harte Stimme.

Der Mann der jetzt in den Raum trat, schürte in Genoveva den gleichen Drang, sich zurückziehen zu wollen, wie ihn Altfor hervorrief. In Altfors Fall wollte sie sich der Hitze seiner Wut entziehen, doch von diesem Mann ging eine Kälte aus, die so kalt wie Eis zu sein schien. Er war etwa zwanzig Jahre älter als Altfor und hatte lichtes Haar und eine schlanke Gestalt. Er bewegte sich mit etwas fort, das auf den ersten Blick wie ein Stock aussah. Doch dann erblickte Genoveva den Griff, der aus der Hülle ragte und erkannte, dass es sich dabei um ein noch in seiner Scheide steckendes Langschwert handelte. Etwas an der Art, wie er sich darauf stützte sagte Genoveva, dass es eine Verletzung und nicht sein Alter sein musste, die ihn dazu zwang.

„Onkel Alistair“, sagte Altfor. „Wir hatten… mit dir hatten wir nicht gerechnet.“

Die Ankunft des Neulings schien auch in ihm ein gewisses Unbehagen auszulösen, und das überraschte Genoveva. Er schien stets alles ganz und gar unter Kontrolle zu haben, doch die Gegenwart dieses Mannes schien ihn komplett aus der Fassung zu bringen.

„Sicherlich nicht“, sagte der schlanke Mann. Seine Hand streifte über das Langschwert, auf dem er lehnte. „Da du mich nicht zu deiner Hochzeit eingeladen hast, hast du wahrscheinlich geglaubt, dass ich auf meinem Gutshof bleiben und die Stadt meiden würde, damit du unbehelligt nach dem Tod meines Bruders dein Unwesen treiben kannst.“ Er blickte zu Genoveva. Als hätte er die Augen eines Habichts, schien sein Blick sie sofort in der Menge auszumachen. „Glückwunsch zur Eheschließung, Mädchen. Es ist nicht zu übersehen, dass mein Neffe einen Sinn für das Stumpfsinnige hat.“

„Ich… so sprichst du nicht mit mir“, sagte Altfor. Er schien sich erst dann daran zu erinnern, dass er auch für Genoveva sprechen sollte. „Oder meiner Frau. Ich bin der Herzog!“

Alistair trat vor Genoveva, und jetzt zog er das Schwert aus der Scheide. Es sah ganz leicht in seinen Händen aus, breit und messerscharf. Genoveva erstarrte und wagte es kaum zu atmen als Altfors Onkel die Klinge in gefährliche Nähe zu ihrem Hals hob.

„Ich könnte diesem Mädchen den Hals durchschneiden und keiner deiner Männer würde mich daran hindern“, sagte Alistair. „Und du erst recht nicht.“

Genoveva brauchte gar nicht erst zu Altfor zu blicken, um zu wissen, dass er die Wahrheit sprach. Er gehörte nicht zu der Sorte Ehemann, die sich genug um ihre Frau scherte, um sie zu verteidigen. Keiner der Höflinge würde ihr helfen, und Moira… Moira blickte sie an als würde sie halb hoffen, dass Alistair seine Drohung wahr machte.

Genoveva musste sich selbst retten. „Warum würdet ihr mich umbringen wollen, mein Lord?“ fragte sie.

„Warum sollte ich das nicht?“ fragte er. „Ich meine ja, du bist hübsch: blondes Haar, grüne Augen, schlanke Gestalt, welcher Mann würde das nicht wollen? Doch sind Bauernmädchen nun wirklich nicht gerade schwer zu ersetzen.“

„Ich hatte geglaubt, dass meine Ehe mich über den Bauernstand gehoben hat“, sagte Genoveva mit fester Stimme trotz der Klinge vor ihrem Hals. „Habe ich etwas getan, dass Euch erzürnt hat?“

„Ich weiß es nicht, Mädchen, hast du das?“ fragte er, und seine Augen schienen in Genovevas nach einer Antwort zu suchen. „Eine Nachricht wurde auf den Weg gebracht. Sie sollte Auskunft darüber geben, welche Richtung der Junge, der meinen Bruder ermordet hat, eingeschlagen hat. Doch hat sie weder mich noch irgendjemand anderen erreicht bevor es zu spät war. Kannst du mir irgendetwas dazu sagen?“

Genoveva wusste genau, was geschehen war, denn sie selbst war es gewesen, die die Nachricht mit Verspätung weitergeleitet hatte. Das war alles gewesen, was sie hatte tun können, und dennoch fühlte es sich nicht genug an angesichts dessen, was sie für Royce empfand. Sie schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen und tat unschuldig, denn das war die einzige Verteidigung, die ihr jetzt blieb.

„Mein Lord, ich verstehe nicht, was Ihr meint“, sagte sie. „Ihr habt selbst gesagt, dass ich nur ein Bauernmädchen sei; wie sollte ich eine solche Nachricht abfangen können?“

Sie fiel instinktiv auf die Knie, langsam, sodass sie sicherstellte, sich nicht selbst aufzuspießen.

„Eure Familie hat mir die Ehre gegeben“, sagte sie. „Euer Neffe, der Herzog, hat mich erwählt. Ich bin zu seiner Frau geworden und habe einen höheren Rang erworben. Ich führe ein Leben, das ich mir niemals hätte träumen lassen. Warum würde ich das in Gefahr bringen? Wenn Ihr wahrhaftig glaubt, dass ich eine Verräterin bin, dann schlagt zu mein Lord. Schlagt zu.“

Genoveva trug ihre Unschuld wie ein Schutzschild, und sie hoffte, dass es genügen würde, den Schwerthieb abzuwenden, der andernfalls gleich folgen würde. Sie hoffte es und hoffte es nicht, denn ein Stich ins Herz wäre wohl all dem gleichgekommen, was sie angesichts dessen, was mit Royce schiefgelaufen war, empfand. Sie hob den Kopf und blickte Altfors Onkel direkt in die Augen. Sie würde den Blick nicht senken und ihm nicht den kleinsten Hinweis auf das, was sie getan hatte, geben. Er zog das Schwert zurück als wollte er zum finalen Hieb ausholen… dann senkte er die Klinge.

„Es scheint mir, Altfor, dass deine Frau mehr Mumm hat als du.“

Genoveva konnte endlich aufatmen. Sie erhob sich während ihr Mann auf sie zu schritt.

„Onkel, genug mit den Spielchen. Ich bin der Herzog hier, und mein Vater – “

„Mein Bruder war dumm genug, dir seine Ländereien zu vermachen, doch glaubst du doch nicht ernsthaft, dass dich das zu einem wahren Herzog macht“, sagte Alistair. „Das braucht Führungskraft, Disziplin und den Respekt deiner Männer. Nichts davon besitzt du.“

„Ich könnte meinen Männern befehlen, dich in den Kerker zu werfen“, zischte Altfor.

„Das könnte ich auch“, erwiderte Alistair. „Wem glaubst du, werden sie gehorchen? Dem verhassten Sohn meines Bruders oder dem Bruder, der Armeen angeführt hat? Demjenigen, der die Spur des Mörders verloren hat oder demjenigen, der die Todesfront bei Haldermark gehalten hat? Einem Jungen oder einem Mann?“

Genoveva konnte die Antwort auf diese Frage erraten, und ihr gefiel nicht, welche Wendung das Ganze zu nehmen drohte. Ob sie es mochte oder nicht, sie war Altfors Frau, und wenn sein Onkel entschied, sich von seinem Neffen zu trennen, dann machte sie sich keine Illusionen über ihr eigenes Schicksal. Sie trat rasch zu ihrem Ehemann und legte ihre Hand auf seinen Arm. Was nach außen wie eine Geste der Unterstützung aussah, sollte ihn eigentlich davon abhalten, überstürzt zu handeln.

„Dieses Herzogtum geht den Bach runter“, sagte Alistair. „Mein Bruder hat Fehler gemacht, und solange diese nicht behoben sind, werde ich dafür sorgen, dass alles seine Ordnung hat. Erhebt irgendjemand unter den hier anwesenden Männern Einspruch gegen diesen Anspruch?“

Genoveva bemerkte die Klinge in seiner Hand, die offensichtlich darauf wartete, dass der erste Mann den Mund auftat. Das musste natürlich Altfor sein.

„Ich soll dir Gefolgschaft schwören?“ fragte Altfor. „Du erwartest, dass ich vor dir niederknie nachdem mein Vater mich zum Herzog gemacht hat?“

„Man kann auf zwei Arten Herzog werden“, zischte Alistair. „Auf Befehl des Herrschenden oder durch eigene Kraft. Trifft eines davon auf dich zu, Neffe? Oder wirst du niederknien?“

Genoveva kniete sich noch vor ihrem Ehemann nieder. Sie zog an seinem Arm, um ihn nach unten neben sich zu ziehen. Sie sorgte sich nicht um Altfors Wohlergehen, nicht nach allem, was er getan hatte, doch gerade hing ihr eigenes Wohlergehen von seinem ab.

„Nun gut, Onkel“, sagte Altfor, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich werde gehorchen. Es sieht so aus, als hätte ich keine Wahl.“

„Nein“, stimmte Alistair zu. „Die hast du nicht.“

Sein Blick streifte durch den Raum, und alle anderen knieten nacheinander nieder. Genoveva sah, wie Höflinge und Diener auf die Knie gingen. Sie sah, wie selbst Moira auf die Knie fiel, und ein kleiner, wütender Teil von ihr fragte sich, ob ihre sogenannte Freundin ihr Glück versuchen würde, Altfors Onkel zu verführen, so wie sie es in Altfors Fall getan hatte.

 

„Schon besser“, sagte Lord Alistair. „Jetzt will ich, dass sich weitere Männer auf den Weg machen, den Mörder meines Bruders zu finden. Wir werden ein Exempel statuieren. Keine Spielchen dieses Mal, bringt ihm einfach den Tod, den er verdient.“

Ein Bote in der Tracht des Hauses kam hereingerannt. Genoveva konnte sehen, wie er zwischen Altfor und Lord Alistair hin und her blickte und offenbar Schwierigkeiten hatte, zu entscheiden, wem der beiden er seine Nachricht überbringen sollte. Schließlich traf er die für Genoveva offensichtliche Entscheidung und wandte sich an Altfors Onkel.

„Mein Lord, vergebt mir“, sagte er, „aber in den Straßen unten gibt es Aufstände. Die Menschen in den Ländereien des alten Herzogs erheben sich. Wir brauchen Euch.“

„Um Bauern abzuschlachten?“ fragte Lord Alistair mit einem Schnauben. „Na gut. Versammle die Männer, die wir bei der Suche entbehren können, und sag ihnen, dass sie mich im Hof treffen sollen. Wir werden diesem Pack zeigen, wozu ein echter Herzog im Stande ist!“

Er marschierte sich auf sein in der Hülle steckendes Langschwert stützend aus dem Raum hinaus. Genoveva wagte es, erleichtert aufzuatmen als er fort war. Doch ihre Erleichterung war voreilig. Altfor war dabei, wieder aufzustehen, und seine Wut war greifbar.

„Raus mich euch, alle raus!“ schrie er dem versammelten Hof entgegen. „Raus, und helft meinem Onkel, diese Revolte niederzuschlagen oder helft bei der Suche nach diesem Verräter, aber steht nicht hier herum und lasst euch von mir noch einmal bitten!“

Sie machten sich daran, hinauszugehen, und Genoveva erhob sich, um sich ihnen anzuschließen, doch da spürte die Altfors Hand auf ihrer Schulter, die sie zurückhielt.

„Du nicht, Frau.“

Während Genoveva wartete, leerte sich der Saal und ließ neben ihr nur ein paar Wachen und schlimmer noch Moira zurück. Diese stand in einer Ecke, und ihr Blick versuchte nicht einmal, Mitgefühl auszudrücken.

„Du“, sagte Altfor, „sag mit sofort, welche Rolle du in Royces Verschwinden gespielt hast.“

„Ich… ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte Genoveva. „Ich war die ganze Zeit hier. Wie hätte ich – “

„Halt den Mund“, unterbrach Altfor sie. „Wenn ich dabei nicht wie ein Mann aussehen würde, der seine Frau nicht unter Kontrolle hat, würde ich dir eine Tracht Prügel dafür verpassen, dass du mich für so dumm hältst. Natürlich hast du etwas damit zu tun; niemand sonst hier steht dem Verräter so nah wie du.“

„Die Straße ist voll von Menschen, die das Gegenteil beweisen“, sagte Genoveva und sprang auf die Beine. Vor Altfor hatte sie weniger Angst als vor dessen Onkel.

Nein, das entsprach nicht der Wahrheit. Sie hatte Angst vor ihm, aber es war eine andere Art der Angst. Von Altfor fürchtete sie einen plötzlichen Ausbruch an Gewalt und Grausamkeit, doch klein beizugeben würde einen solchen Ausbruch auch nicht abwenden.

„Die Straße?“ fragte Altfor. „Willst du mich nun auch noch mit dem Mob verhöhnen? Ich dachte, du hättest deine Lektion gelernt, doch das ist offenbar nicht der Fall.“

Jetzt packte Genoveva tatsächlich die Angst, denn Altfors Augen versprachen, dass ihr etwas noch schlimmeres als Gewalt drohte.

„Du wähnst dich in Sicherheit, weil du glaubst, dass ich meiner Frau nichts antun werde“, sagte Altfor. „Doch habe ich dir bereits klargemacht, was geschehen wird, wenn du dich mir widersetzt. Deinen geliebten Royce wird man finden, und dann wir man ihn töten. Wenn es nach mir geht, wird es ein langsamer Tod werden, viel langsamer als alles, was mein Onkel sich vorstellt.“

Dieser Teil macht Genoveva keine Angst, auch wenn der Gedanke, dass Royce ein Leid getan wurde, sie wie ein physischer Schlag traf. Dass er sich Altfors Einfluss hatte entziehen können, dafür hatte sie gesorgt. Er oder Lord Alistair hatten keine Chance, ihn zu kriegen.

„Dann sind da noch seine Brüder“, sagte Altfor und Genoveva stockte der Atem.

„Du hast mir gesagt, dass du sie verschonen würdest, wenn ich dich heirate“, sagte sie.

„Aber jetzt bist du meine Frau, und zwar eine widerspenstige“, konterte Altfor. „Die drei sind sowieso schon auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung. Sie werden auf dem Todeshügel in kleinen Käfigen aufgehängt und ausgehungert werden bis man sie den Ungeheuren zum Fraß vorwirft.“

„Nein“, sagte Genoveva. „Du hast es versprochen.“

„Und du hast versprochen, eine folgsame Frau zu sein!“ rief Altfor ihr entgegen. „Doch was tust du? Du hilfst dem Jungen, den du schon lange hättest vergessen sollen!“

„Du… ich habe gar nichts getan“, insistierte Genoveva, denn es zuzugeben, hätte ihre Lage nur noch verschlimmert. Altfor war Teil des Adels, und er konnte ihr ohne Beweise und Gerichtsprozess nicht einfach etwas antun.

„Oh, du willst weiterhin dieses Spielchen spielen“, sagte Altfor. „Dann wird sich der Preis, den du dafür zahlst, noch erhöhen. Du interessierst dich viel zu sehr für das, was dort draußen in der Welt vor sich geht, also werde ich dir die Subjekte deines Interesse nehmen.“

„Was… was soll das heißen?“ fragte Genoveva.

„Deine Schwester war eine kurze nette Unterhaltung als du mir das erste Mal nicht gehorcht hast. Jetzt wird sie für das, was du getan hast, mit dem Leben bezahlen. Genauso wie deine Eltern und jeder andere in der Hütte, die du Zuhause nennst.“

„Nein!“ schrie Genoveva und griff nach dem kleinen Messer, das sie bei sich trug. Angesichts der schrecklichen Dinge, die ihr Mann vorhatte zu tun, fiel in diesem Moment alle Zurückhaltung und Vorsicht von ihr ab. Sie würde alles tun, um ihre Schwester zu beschützen. Alles.

Doch Altfor war schnell, seine Hand schloss sich über der ihren und schleuderte das Messer zu Boden. Er stieß sie grob zurück, sodass sie auf dem Boden landete während er über ihr thronte. Er blickte finster zu ihr hinab, und nur die Hand Moiras, die ihn zurückzog, hielt ihn davon ab, schlimmeres zu tun.

„Vergesst nicht, dass sie zum Adel gehört solange sie Eure Frau ist“, flüsterte Moira. „Wenn Ihr ihr etwas antut, dann wird man Euch wie einen Kriminellen behandeln.“

„Glaube nicht, dass du mir sagen kannst, was ich tun soll“, sagte Altfor zu Moira, die sich nun noch näher zu ihm beugte.

„Ich sage Euch nicht, was Ihr tun sollt, ich gebe Euch nur einen Rat, mein Lord, mein Herzog. Mit einer Frau und irgendwann einem Erben und dem Recht auf Eurer Seite könnt Ihr viel mehr erreichen.“

„Und warum sollte das für dich eine Rolle spielen?“ fragte Altfor und blickte zu ihr.

Wenn Moira diese Frage verletzte, dann zeigte sie es nicht. Der Blick, den sie der noch immer auf dem Boden liegenden Genoveva zuwarf, war vielmehr triumphierend.

„Weil Euer Bruder, mein Ehemann, fort ist, und ich lieber die Liebhaberin eines mächtigen Mannes bin als eine Frau ohne Macht“, sagte Moira. „Und Ihr… Ihr seid der mächtigste Mann, den ich jemals getroffen habe.“

„Und deshalb sollte ich dich meiner Frau vorziehen?“ fragte Altfor. „Warum sollte ich einen Ableger meines Bruders wollen?“

Selbst Genoveva kam das wie ein grausames Spiel vor nachdem sie ihn bereits mit Moira erwischt hatte.

Doch was immer Moira wirklich empfand, versteckte sie sorgfältig.

„Komm mit mir“, schlug sie vor, „und ich werde deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen während deine Männer alle jene töten, die es verdient haben. Deine Männer, nicht die deines Onkels.“

Das räumte den letzten Zweifel aus, und Altfor zog sie zu sich, um sie zu küssen, auch wenn Genoveva und zwei weitere Wachen ihnen dabei zusahen. Er griff Moiras Arm und zog sie in Richtung des Ausgangs der großen Halle. Genoveva sah, wie Moira einen letzten Blick zurück warf, und die Grausamkeit in ihrem Lächeln schickte einen kalten Schauer über Genovevas Rücken.

Doch Genoveva war das in diesem Moment egal. Es war ihr egal, dass Altfor sie gleich auf eine Weise betrügen würde, wie er sie schon viele Male betrogen haben musste. Ihr war es egal, dass sein Onkel sie beinahe getötet hatte oder dass die beiden sie als Unannehmlichkeit empfanden.

Das einzige, worum sie sich jetzt sorgte, war die Sicherheit ihrer Schwester, und sie musste einen Weg finden, ihr zu helfen bevor es zu spät war. Altfor hatte vor, sie zu töten, und sie hatte keine Ahnung, wann genau es geschehen würde.

Kapitel drei

Royce rannte durch den Wald und spürte, wie die Äste unter seinen Füßen knackten. Er hielt die Hülle seines Schwertes an seiner Seite umklammert, sodass es nicht gegen einen der Bäume schlug. Ohne das Pferd, das er gestohlen hatte, war er nicht schnell genug. Aber musste er schneller sein.

Angetrieben von Gedanken an die Menschen, die ihm am Herzen lagen, rannte er noch schneller. Die Rote Insel hatte ihn gelehrt, weiter zu rennen egal wie schnell das Herz in seiner Brust hämmerte oder seine Beine schmerzten. Er hatte den Hürdenlauf auf der Insel überlebt. Sich selbst dazu zu zwingen, schneller und weiter zu rennen, war dagegen ein Klacks.

Die Schnelligkeit und Stärke, die er besaß, halfen ihm dabei. Bäume sausten auf beiden Seiten an ihm vorbei, Äste schrammten über seine Arme, doch Royce ignorierte all das. Er hörte, wie die Tiere des Waldes vor dem etwas, das da durch ihr Territorium rannte, davonhuschten, und er wusste, dass er einen anderen Weg finden musste, schneller voranzukommen. Wenn er weiterhin so viel Lärm machte, dann würde er jeden Soldaten des Herzogtums auf den Plan rufen.

„Lass sie nur kommen“, flüsterte Royce sich selbst zu. „Ich werde sie alle töten.“

Ein Teil von ihm wollte genau das und noch mehr tun. Ihm war es gelungen, den Herzog zu töten, der ihn und seine Freunde in den Kampfgraben geschickt hatte; er hatte es geschafft, die Wachen zu töten, die ihn angegriffen hatten… doch wusste er auch, dass er es unmöglich mit einem ganzen Land aus Feinden aufnehmen konnte. Selbst die stärksten, schnellsten und gefährlichsten Männer konnten es allein nicht mit mehr als ein paar Feinden gleichzeitig aufnehmen, denn es gab schlicht zu viele Winkel, durch die die feindlichen Klingen zu ihnen dringen konnten.

„Ich werde einen Weg finden, etwas zu unternehmen“, sagte Royce. Er wurde etwas langsamer und bewegte sich jetzt mit mehr Vorsicht durch den Wald. Er versuchte, die Ruhe des Waldes auf diesem Wege so wenig wie möglich zu stören. Er konnte nun die Vögel und Tiere hören. Was ihm zuvor wie eine riesige leere Stille vorgekommen war, entpuppte sich jetzt als eine Landschaft aus Geräuschen, die alles auszufüllen schienen.

Was konnte er tun? Sein erster Instinkt war es gewesen, so schnell wie möglich loszulaufen, dorthin, wo kein Mensch mehr lebte und das Reich der Picti begann. Er hatte darüber nachgedacht, zu verschwinden, einfach zu verschwinden, denn was hielt ihn noch in dieser Welt?

Seine Gedanken flogen kurz zu Genoveva und dem Moment, in dem sie vom Rand des Grabens scheinbar vollkommen gleichgültig zu ihm hinabgestarrt hatte. Er drängte dieses Bild zur Seite, denn er wollte jetzt nicht an Genoveva denken. Was sie getan hatte, schmerzte zu sehr. Warum sollte er also nicht dorthin verschwinden, wo kein Mensch mehr lebte?

Ein Grund war Mark. Sein Freund war im Graben verwundet worden, doch ob Mark tatsächlich tot war, hatte Royce nicht feststellen können. Ein Teil von ihm wollte glauben, dass Mark irgendwie überlebt hatte, schließlich hatte man die Spiele ziemlich abrupt abgebrochen. Würde der Adel nicht einen weiteren Kampf mit ihm sehen wollen, wenn dies möglich war? Würden sie seinen Freund nicht so lange wie möglich zu ihrer eigenen Vergnügung ausbeuten wollen?

„Er muss noch am Leben sein“, sagte Royce, „er muss es einfach.“

Selbst in seinen eigenen Ohren klang das so, als wollte er sich damit selbst überzeugen. Royce schüttelte den Kopf, und während er versuchte, sich zu orientieren, setzte er seinen Weg durch den Wald fort. Er hatte das Gefühl erst etwas unternehmen zu können, wenn er zuhause angekommen war. Er würde das Dorf finden, und dann, wenn er einmal in Sicherheit war, würde er einen Plan machen. Er würde entscheiden, ob er die Flucht ergreifen, Mark finden oder eine Armee, die es mit der des Herzogs aufnehmen konnte, zusammenstellen sollte.

„Vielleicht denke ich mir auch einfach irgendwas aus“, sagte Royce während er weiter rannte. Er bewegte sich jetzt mit der Geschwindigkeit eines flüchtenden Tieres fort. Dabei lief er leicht gebückt und hielt sich an das dicke Blattwerk der Bäume ohne dabei Geschwindigkeit einzubüßen.

Er kannte den Wald und all die Pfade, denn er hatte mehr Zeit als genug mit seinen Brüdern hier verbracht. Sie hatten einander durch den Wald getrieben und kleine Tiere gejagt. Jetzt war er der einzige, der getrieben und gejagt wurde und versuchte, einen Weg zu finden, sich aus seiner Lage zu befreien. Er war sich ziemlich sicher, dass er sich in der Nähe eines Jagdreviers befand, das ihn an der Hütte eines Köhlers vorbei zu einem kleinen Fluss und schließlich zu seinem Dorf führen würde.

 

Royce schlug diese Route durch das Unterholz ein und wurde durch ein entferntes Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Es war nicht laut, aber es war da: das Geräusch von Füßen, die sich mühelos über den unebenen Boden bewegten. Ihm wäre das gar nicht aufgefallen, wenn er nicht mit seinen Brüdern so viel Zeit in diesen Wäldern verbracht hätte oder auf der Roten Insel gelernt hätte, dass überall Gefahren lauern konnten.

„Warte ich hier oder soll ich mich verstecken?“ fragte er sich selbst. Er konnte nur eine einzige Person hören, und diese klang nicht einmal wie ein Soldat. Die Schritte eines Soldaten wurden vom Klacken ihrer Stiefel begleitet, dem Klappern der Rüstung und dem Schaben von Speergriffen über den Boden. Diese Schritte waren jedoch ganz anders. Wahrscheinlich war es nur ein Bauer oder Weidmann.

Dennoch verließ Royce den Pfad und hockte sich in den Schatten eines Baumes, dorthin, wo Wurzeln eine Art natürlichen Schild bildeten, der wahrscheinlich Tieren beim Einbruch der Nacht Schutz bot. Einige der Äste hingen so tief, dass Royce sie zu sich herabziehen konnte, um so die Sicht auf ihn zu blockieren während er selbst den Weg im Auge behalten konnte. Er ging in die Hocke und stellte sich mucksmäuschenstill ohne dabei seine Hand zu weit vom Griff seines Schwertes zu entfernen.

Als Royce die Person erblickte, die sich ihm über den Pfad näherte, wäre er beinahe aus seinem Versteck getreten. Der Mann schien weder bewaffnet zu sein noch eine Rüstung zu tragen. Die dunkelgraue Seide, in die er gehüllt war, verschleierte jegliche Körperkontur. Auch seine Füße steckten in grauen Sandalen, deren Schnüre ihm bis über die Knöchel reichten. Doch etwas hielt ihn zurück, und als der Mann noch näher kam, konnte Royce sehen, dass seine von violetten und roten Kreisen und Symbolen überzogene tätowierte Haut ebenso grau war, so als hätte jemand keine andere Unterlage zur Verfügung gehabt, einen verrückten Text niederzuschreiben.

Royce hatte keine Ahnung, was all diese Zeichen zu bedeuten hatten, doch etwas an diesem Mann erschien ihm auf eine nicht zu bestimmende Art gefährlich. Plötzlich war er froh, dass er sein Versteck nicht verlassen hatte. Er hatte das Gefühl, dass, wenn er auf dem Pfad geblieben wäre, ein Konflikt nicht ausgeblieben wäre.

Er spürte, wie seine Hand den Griff des Schwertes fester umfasste, der Drang zurück auf den Pfad zu springen war ungebrochen. Royce zwang sich, seine Hand locker zu lassen und erinnerte sich an die tödlichen Fallen auf der Roten Insel. Diejenigen Jungen, die gedankenlos losgerannt waren, hatten ihr Leben verloren, noch bevor Royce hatte versuchen können, sie in Sicherheit zu bringen. Das hier fühlte sich genauso an. Er hatte keine Angst, doch gleichzeitig konnte er spüren, dass dieser Mann alles andere als harmlos war.

Das Klügste, was er jetzt tun konnte, war, weiter still im Dickicht sitzen zu bleiben und die Luft anzuhalten.

Doch da blieb der Mann stehen und legte den Kopf schief, als hätte er etwas gehört. Royce sah, wie der Fremde sich hinkniete und die Stirn runzelte nachdem er mehrere Gegenstände aus seiner Tasche gezogen und sie auf den Boden geworfen hatte.

„Du hast Glück gehabt“, sagte der Fremde ohne dabei aufzusehen. „Ich töte nur jene, die das Schicksal mir aufträgt, zu töten, und die Runen sagen mir, dass die Zeit für unseren Kampf jetzt noch nicht gekommen ist, Fremder.“

Royce schwieg weiterhin während der Fremde seine Steine wieder einsammelte.

„Es gibt einen Jungen, der sterben muss, weil das Schicksal es verfügt hat“, sagte der Mann. „Dennoch sollst du meinen Namen erfahren und wissen, dass uns das Schicksal letzten Endes alle holt. Ich bin Dust, ein Angarthim von den Todesorten. Du solltest jetzt gehen. Die Runen sagen, dass viel Tod deinen Weg begleiten wird. Oh, und lauf nicht auf diesem Wege zum Dorf“, fügte er wie einen nachträglichen Gedanken hinzu. „Ein großer Trupp Soldaten war gerade auf dem Weg dorthin als ich aufbrach.“

Er stand auf, klopfte sich ab und ließ Royce, der noch immer in seinem Versteck hockte, zurück. Royce atmete schwer, auch wenn er nichts weiter getan hatte, als sich zu verstecken. Diese Fremde hatte etwas an sich, das ihm über die Haut zu kriechen schien, etwas stimmte mit ihm nicht, doch war Royce nicht im Stande zu sagen, was genau.

Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, hätte Royce wohl noch länger dort gehockt, um sicherzugehen, dass von dem Mann keine weitere Gefahr ausging. Doch in dieser Situation hatten die Worte des Fremden mehr Gewicht. Wenn Soldaten auf dem Weg zu seinem Dorf waren, dann konnte das nur eines bedeuten…

Er rannte wieder los, schneller als je zuvor. Zu seiner Rechten tauchte nun die Hütte des Köhlers auf. Rauch stieg hinter der Hütte auf, sodass davon auszugehen war, dass er bei der Arbeit war. Ein Pferd, das so aussah als wäre es gewohnt, einen Karren zu ziehen und nicht geritten zu werden, stand an einem kleinen Pfahl angebunden vor dem Haus. Im Haus war es still, und an jedem anderen Tag hätte Royce sich vielleicht darüber gewundert oder hätte nach dem Köhler gerufen, um ihn zu überzeugen, ihm sein Pferd zu leihen.

Doch heute hatte er dafür keine Zeit. Er durchschnitt den Strick, sprang auf und gab dem Pferd die Sporen. Es kam ihm beinahe wie ein Wunder vor, dass das Tier wusste, was von ihm erwartet wurde. Es galoppierte los während Royce sich an seinen Hals klammerte und hoffte, dass es noch nicht zu spät sei.

* * *

Die Sonne war schon fast untergegangen als Royce den Waldesrand erreichte. Die Abendröte des Himmels schien wie mit einer blutigen Hand nach der Welt greifen zu wollen. Einen Moment lang blendete das Rot der untergehenden Sonne Royce so sehr, dass es so aussah als würde der Boden vor ihm in Flammen stehen.

Dann erkannte er, dass das Flammenrot kein Streich der Sonne war. Sein Dorf brannte.

Teile des Dorfes brannten lichterloh, Strohdächer wurden von den Flammen verschlungen, sodass der gesamte Horizont zu brennen schien. Der Rest des Dorfes war bereits ausgebrannt und qualmte. Die verkohlten Holzbalken sahen aus als wären sie die traurigen Skelette verlorener Gebäude. Eines begann vor Royces Augen zu wanken, zu ächzen und schließlich geräuschvoll in sich zusammen zu fallen.

„Nein“, murmelte er. Er stieg ab und führte das gestohlene Pferd weiter durch das Dorf. „Nein, ich darf nicht zu spät gekommen sein.“

Doch das war er. Die Feuer dort mussten schon eine ganze Weile brennen, denn nur die größten Gebäude, wo die Flammen am längsten wütend konnten, hatten sie jetzt noch in ihrem Griff. Der Rest des Dorfes lag in Schutt und Asche, sodass klar war, dass der Zeitpunkt, an dem Royce noch etwas gegen die Flammen hätte ausrichten können, viel zu weit in der Vergangenheit lag als dass er bereits hätte hier sein können. Der Mann im Wald hatte gesagt, dass die Soldaten gekommen waren als er sich gerade auf den Weg gemacht hat, doch hatte Royce nicht bedacht, wie große die Entfernung war, die der Mann bereits zurückgelegt haben musste und wie viel Zeit seit seinem Aufbruch aus dem Dorf vergangen war.

Schließlich konnte er das Unausweichliche nicht länger vermeiden und blickte auf den Boden zu den Leichen. Dort lagen so viele von ihnen: Männer und Frauen, jung und alt, getötet ohne Gnade und ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht. Einige Körper lagen in den Ruinen und waren genauso schwarz, wie das Holz, das sie umgab; andere lagen mit klaffenden Wunden, die davon zeugten, wie sie gestorben waren, in den Straßen. Royce sah, wie einige von ihnen von vorne angegriffen worden waren als sie zu kämpfen versucht hatten, andere hatte man von hinter erschlagen als sie davonlaufen wollten. Er sah, wie mehrere ermordete junge Frauen auf der einen Seite lagen. Hatten sie bis zu dem Moment, in dem jemand ihnen die Hälse durchgeschnitten hatte, geglaubt, dass dies nur ein weiterer Raubzug des Adels war, der sich holte, was immer er wollte?