Die Muse von Florenz

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Kapitel 6

Auf dem Balkon des obersten Stocks der Casa Serrati kauerte Juliana mit geschlossenen Augen auf einer Bank. Obwohl ihre Tränen inzwischen versiegt waren, brodelte es in ihr. Ein einziger mitfühlender Blick Antonios würde genügen, um ihre Fassung bedrohlich ins Schwanken zu bringen. Sie war ihm dankbar für sein Schweigen, während unter ihnen der Lärm der Gäste weiter anschwoll. Offenbar hatte sich auch ihr Vater wieder dazugesellt, deutlich hörte sie ihn. Ob Mutter ihn begleitete? Julianas Blick glitt unsicher zu Antonio, dessen Wams staubig und zerknittert war. Unbemerkt von den Gästen war es ihm gelungen, sie aus dem Salon zu schaffen. Sie hatte am ganzen Leib gezittert. Vater musste den Verstand verloren haben, Darios Büste zu zerstören. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen ob der Erinnerung, ihre Kehle schnürte sich zu. Schreckliche Bilder gewannen an Schärfe. Gewaltsam bannte sie ihren Blick auf den von mannshohen Zinnen umkränzten Turm des Palazzo della Signoria, zu dessen Füßen sich zur Mittagszeit die Piazza in einem goldenen Meer aus Sonne erstreckte. Sie sehnte sich danach, dort auf den Stufen zu sitzen, sich ihren Tagträumen hinzugeben. Einfach zu vergessen, wovon sie gerade Zeugin geworden war.

Heute hatte sie unerwartet ein weiteres Bild ihres Vaters gewonnen, der sich in seinem eigenen Haus schamlos und verächtlich gezeigt hatte. Zwar war ihr Vater im Ratssaal nicht sanfter in seinem Gehabe, doch ein aufrechter Vertreter des Gesetzes und ein leidenschaftlicher Verteidiger dessen, was er in seinen langen Reden gerne heraufbeschwor: das Vertrauen auf den Fortschritt, auf Veränderungen zum Wohl aller, die in Florenz lebten. Besonders seiner Künstler, deren Schaffenslust viele Neugierige in die Stadt lockte. Diese Leidenschaft, begabte Talente zu unterstützen, hatte Vater bislang auch in der Dombauhütte begleitet. Warum trieb ihn seit einiger Zeit ein unerklärlicher Hass auf Künstler, deren Verträge durch seine Hände gingen, deren Auskommen von seinem Wohlwollen abhing? Jede Änderung wurde in den seitenlangen Verträgen penibel festgehalten, ohne Beeinflussung anderer zu Papier gebracht, und dennoch gab es offenbar Unstimmigkeiten, die Vaters Geistesklarheit bedrohten.

Vergebens versuchte Juliana, den Hass in den Augen ihres Vaters zu vergessen, mit dem er ihre Mutter bedacht hatte. Diese ungezügelte Wut, mit der er auf die Büste eingeschlagen hatte, als symbolisierte sie den Teufel selbst. Ihr linkischer Versuch, noch hastig den Schaden zu begrenzen, den Bernardo an dieser Büste angerichtet hatte, erschien ihr nun sinnlos. Sie hatte diese Büste retten wollen, ohne zu ahnen, dass just Darios Hände über den einst makellosen Stein geglitten waren.

»Was hattet Ihr dort zu suchen, Juliana?«

In der langen Zeit, die Antonio geschwiegen hatte, galten ihre Gedanken Dario. Antonios unterschwelliger Vorwurf stach ihr ins Herz. »Ich wollte sehen, wovon die Menschen sich erzählen, Vaters Etablissement der Künste mit eigenen Augen erleben.« Ohnmächtig, ihre Enttäuschung in Worte zu fassen, sank sie wieder auf die Bank. »Wusstet Ihr, was passieren würde? Vater benimmt sich … seltsam.« Sie scheute sich davor, Giovannis Verdacht zu wiederholen. Verbarg sie wie Mutter ihre Augen vor Vaters Veränderung und ignorierte, was tatsächlich vor sich ging? Aus Angst, die gewohnten Bahnen ihres behüteten Lebens zu zerstören?

»Es war nicht für Eure Augen bestimmt, glaubt mir. Ich mache mir die größten Vorwürfe, Euch zu spät entdeckt zu haben. Dabei hätte ich mir denken können, dass Ihr in der Nähe seid. Unfolgsam wie ein Kind.«

Juliana schnaubte und wollte ihm widersprechen, doch dann besann sie sich mühsam eines Besseren und hob ihren Fächer vors Gesicht. Antonio musste nicht sehen, wie sehr seine Worte sie verletzten. Unbeholfen nahm er neben ihr Platz und räusperte sich mehrmals, bis ihn der Mut verließ. Juliana lächelte traurig. Manchmal vergaß sie, dass er nur zwei Jahre älter war als sie. Seine Klugheit und Besonnenheit waren der Grund, warum Vater von dem jungen Mann eingenommen war. Es gab oft genug diesen unbeholfenen, gar schüchternen Antonio, den sie nicht mochte. Von diesen Gedanken ahnte der junge Mann mit dem verträumten Blick nichts. Nachdenklich kehrte er ihr den Rücken und verharrte schweigend an der Balustrade. Sein schwarzes Haar glänzte im Sonnenlicht. Wäre er ihrem Vater nicht so blind ergeben, wäre Antonio durchaus ein Freund, dem man sich anvertrauen könnte. Nun aber, mit dem Wissen, dass seine Anwesenheit ihrer beider Leben verändern sollte, spürte sie eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen. Langsam erhob sie sich und blieb neben Antonio stehen, der angestrengt in die Tiefe blickte. Fand er auf der staubigen Straße vor der Casa Serrati Antworten?

»Findet Ihr Statuen nackter Frauen schön? Ist es das, was Männer anzieht?« Ihre Wangen brannten, doch die Frage drängte sich ihr so stark auf. Sie konnte nicht anders. Nach dem Gespräch »unter Frauen«, so hatte Mutter diese peinliche Prozedur genannt, war sie vollends verwirrt gewesen. Dem Manne zu Willen sein! Warum musste sie schweigen, wenn ihr nach anderem der Sinn stünde? Wenn sie an Darios Lippen dachte … Sie schluckte, der Fächer schlug gegen ihre Nasenspitze.

Heftig schüttelte Antonio den Kopf. »Ihr seid töricht! Das ist Fleischeslust, nicht Liebe!« Seine Hände zitterten. »Ihr seid zu jung, um das zu verstehen.«

»Aber nicht zu jung, um Euch zu heiraten?«

Er verstummte. Juliana hielt Antonio am Oberarm fest und zwang ihn, sie anzusehen. »Ich weiß von Vaters Absichten, mich zu vermählen. Mit Euch!« Verzweifelt hing sie an Antonios Arm. »Ich mag unerfahren sein, nicht blind. Warum hat mein Vater Mutter vor seinen Gästen beleidigt? Die beiden lieben sich!« Sein Blick ruhte auf ihrer Hand. Juliana dämmerte, dass sie zu weit gegangen war. »Verzeiht«, murmelte sie erstickt und floh mit weichen Knien in den Schatten zurück. Hastig hielt sie ihren Fächer höher, damit er ihre glühenden Wangen verbarg. Was war nur in sie gefahren, dass sie Antonio so nahegekommen war?

Lag es an den seltsamen Geräuschen und dem Stöhnen, das aus dem Salon unter ihnen hochdrang? Es verstörte sie zutiefst. Urteilte sie gar zu voreilig über die tollwütigen Menschen unter ihnen, die offenbar übereinander herfielen und sich ungeniert liebten? Deshalb verbot man ihr, dabei zu sein. Hatte Mutter darum dieses seltsame Gespräch vorbereitet? Das, was an Julianas Ohren drang, zeugte jedoch weder von Liebe noch von Hingabe. Die Rufe der Frauen erklangen voller Schmerz, ohne Freude. Qualvolle erstickte Schreie, dazwischen ein Grunzen, das sie anwiderte. Nein, so hatte sie sich die Verbundenheit zwischen Mann und Frau nicht vorgestellt, von der Mutter ihr erzählte. Sie hielt sich die Ohren zu und wollte weglaufen.

Antonio hielt sie zurück. Sanft strich er über ihren Rücken, sprach ihr Mut zu. Es tat gut, sich beschützt zu wissen. »Bewahrt Eure Unschuld, Juliana, solange Ihr könnt«, flüsterte er. Als sie entsetzt aufsah, sprach er hastig weiter. »Ich meinte Eure Gabe, die Dinge ungeschönt zu betrachten und auszusprechen, was Euch auf dem Herzen liegt.«

Antonios sanfte und anerkennende Worte beschämten sie. Oft hatte sie sich mit Assunita über den unbeholfenen Gehilfen lustig gemacht oder ihn nachgeäfft, wenn er den Befehlen ihres Vaters zu eifrig folgte. Dabei erkannte sie erst jetzt, dass sie dem jungen Mann, der seit einigen Monaten unter demselben Dach lebte, Unrecht getan hatte. Juliana schoss erneut das Blut in den Kopf. Sie dachte an das Gespräch mit ihrer Mutter zurück. Voller Hoffnung hatte Mutter von Antonio gesprochen. Ihr Blick ruhte dabei auf Juliana, die sich immer unwohler gefühlt hatte. Mochte Antonio ein Bewunderer ihres Vaters sein, so hieß er nicht alles redlich, was dieser tat. Vielmehr verurteilte auch Antonio, was geschehen war.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, lächelte er. »Welcher Frevel. Ferdinando Serrati ist ein kluger Mann und umgibt sich mit den schönsten Skulpturen und Bildern. Dabei erkennt er nicht, welch kostbaren Schatz er vor sich hat und zerstört.« Plötzlich presste er seine Lippen auf ihren Mund. Juliana glitt vor Schreck der Fächer aus der Hand.

*

Längst hatte Juliana die schützenden Mauern der Casa Serrati hinter sich gelassen und verharrte atemlos im Schatten eines schmalen Gässchens nahe dem Fluss. Sollte sie umkehren und der Anweisung ihres Vaters folgen, der magischen Grenze des Arnos fernzubleiben? Vielleicht waren ihrem Vater die leuchtenden Augen, die roten Wangen nicht entgangen, mit denen sie neuerdings heimkam. Wahrscheinlich bemerkte er ihr Verschwinden nicht einmal. Seit dem denkwürdigen Empfang verschanzte er sich immer öfter in seinem Arbeitszimmer und verließ es nur, um sich zu Bett zu begeben. Dabei fand er weniger Schlaf als früher, wie Maria ihr anvertraut hatte.

Die Aussprache mit Antonio hatte sie verwirrt. Manchmal sehnte sie sich danach, ihn fern der Casa zu treffen, und fürchtete zugleich, ihm zum ersten Mal nach diesem Kuss in die Augen sehen zu müssen. Noch immer meinte sie, seine Lippen zu spüren, doch das Kribbeln, von dem Assunita ihr kichernd erzählt hatte, war ausgeblieben. Auch Antonio vermied es, ihr zu begegnen. Seit Tagen war er von frühmorgens bis abends unterwegs. Auch er würde ihr Fortbleiben kaum bemerken. Seit jenem verhängnisvollen Tag im Arbeitszimmer, in dem sie das sonderbare Gespräch ihrer Eltern belauscht hatte, war sie hellhöriger. Hatte Vater mit dem Gedanken geliebäugelt, ihre Stadt zu verlassen? Mit Mutter konnte sie nicht darüber sprechen, ohne ihr unerlaubtes Eindringen einzugestehen. Die ungetrübte Freude, ihre Eltern glücklich zu wissen, war verschwunden. Dina schien ihrem Mann verziehen zu haben. Dafür überhäufte Ferdinando sie mit kostbarem Schmuck und edler Seide. Seinen beiden Frauen, Dina und Juliana, galten seine steten Gedanken, betonte er emsiger denn je, und sein Getue um sie beide nahm zu. Keinem Künstler in der Toskana gelänge es, eine Statue von vergleichbarer Anmut und Schönheit zu schaffen. Danach war er wieder für Tage in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Auch Julianas Hoffnung, Vaters Zorn auf Dario verflöge, erlosch bald. Nicht nur Dario bot ihrem Vater die Stirn, auch sein Freund, der capomaestro Brunelleschi, konnte nicht umhin, seine Enttäuschung kundzutun. Nacht für Nacht streifte ihr Vater unruhig durchs Haus und fand kaum Schlaf. Tiefe Augenringe verrieten den unruhigen Geist, der in ihm wachte. In den wenigen Gesprächen, die sich ergaben, schreckte er ständig auf und wirkte verwirrt. Dina behielt ihre Sorge für sich, dennoch spürte Juliana, dass sich in der Casa Serrati etwas verändert hatte. Erfüllten einst Zuneigung und fröhlicher Gesang die Casa, flüsterten die Mägde selbst tagsüber in der Küche, aus Angst, den Zorn des notario auf sich zu ziehen.

 

Außerhalb der Hausmauern bescherte Brunelleschis Arbeit weiterhin ein stetes Hin und Her. Viele reiche Florentiner wollten Teil dieses Bauwerks sein und zahlten sogar dafür, dass manche Backsteine ihren Namen auf ewig trugen. Für Brunelleschis Förderer fand Vater immer schlimmere Verhöhnungen. Weitere Künstler zogen sich zurück und boten ihrem Vater die Stirn. Inzwischen nannte er sie Backsteinbäcker. Für mehr reiche ihr Talent ohnehin nicht. Schworen diese Menschen lieber Dario ihre Treue und verzichteten auf die Gulden, ohne die sie kein Material oder etwas zu essen kaufen konnten? Wie stark glaubten sie an eine Umkehr des notario, während Juliana immer unsicherer wurde, was ihren Vater betraf.

Heute war sie glücklich, Vaters wankelmütiger Aufmerksamkeit entflohen zu sein. Sie wartete inzwischen nicht mehr auf Assunita, auf deren Begleitung ihr Vater großen Wert legte, sondern nutzte jede Gelegenheit, ihrem Zuhause zu entkommen. Nur erwischen lassen durfte sie sich nicht.

An der Stelle, wo die geschwungenen Brückenbögen der Ponte Vecchio die beiden Seiten der Stadt miteinander verbanden, geschah etwas Sonderbares mit ihr. Wenn der Wind nicht drehte und der unerträgliche Gestank des Gerbersuds nicht in ihre Nasenlöcher drang, fühlte sie sich mehr wie eine Florentinerin als anderswo. Hier vergaß sie für kurze Zeit, wessen Tochter sie war. Welche Erwartungen auf ihr ruhten. Sie fühlte sich frei. In ihrem Denken, ihren Träumen, ihren Wünschen. Die Vorfreude, vom anderen Ufer aus die Stadt in ihrer vollen Schönheit betrachten zu können, fern der Casa Serrati, ließ sie hasten. Von Weitem roch sie das träge Wasser, das der Arno mit sich führte und in dem die Färber ihre Tuche reinigten. Aufgeregt wie ein Kind rutschte sie auf der anderen Uferseite das ausgedörrte Gras am Ufer hinab, lauschte mit verzücktem Lächeln dem kunterbunten Spektakel der Stimmen derjenigen, die über ihrem Kopf in den unzähligen Handwerkerläden einkauften, Waren feilboten oder nur müßig spazierten. Selbst im Schatten war es an diesem frühsommerlichen Tag heiß. Doch lieber ertrug Juliana die Schweißperlen über ihren Schläfen und die schmalen Rinnsale, die der Stoff ihres Surcots aufsog, als in die Finsternis und Stille der Casa Serrati zurückzugehen.

Erschöpft vor Durst und Hunger sank sie auf den staubigen Boden und lehnte sich gegen die kühle Mauer des Brückenpfeilers. Eine Ewigkeit betrachtete sie, wie sich die Fassaden der Häuser, die den Fluss auf beiden Seiten säumten, auf der Wasseroberfläche spiegelten. Nichts zeugte von dem harten Los, das manche auf der anderen Seite des Flusses, altro Arno, ertrugen, fern vom Prunk der Patrizier und der reich verzierten und mit teuren Möbeln ausgestatteten Palazzi. Ohne Wehklagen, ohne Hoffnung auf ein besseres Leben. Ob Dario ebenso an Hunger litt wie so viele, die ihr Leben der Kunst verschrieben hatten? Gewiss erleichterte er sich sein Dasein nicht, indem er sich der Einladung eines einflussreichen Mannes widersetzte.

Trotz der Hitze schauderte sie bei dem Gedanken, was in Dario vorging, wenn er erfuhr, was mit der Büste geschehen war. Ihr Blick wanderte zum gegenüberliegenden Ufer zurück. An manchen Stellen der Fassaden bröckelte die Farbe ab. Die Bewohner, deren Geld kaum für das Essen reichte, hatten wichtigere Sorgen als einen neuen Anstrich. Beschämt senkte Juliana den Kopf. Wieder einmal erkannte sie, welches gute Leben frei von Sorgen oder Geldnot sie genoss. Dennoch war es ihr nicht genug. Nicht mehr. Hier lebte sie, aber es sollte bald vorbei sein mit dem Leben im goldenen Käfig. Traurig strich sie über ihren Surcot. Die seidenen Hüllen waren ein Symbol väterlicher Fürsorge, das sie erdrückte. Die Schnüre glichen unerbittlichen Ketten, die an ihr zerrten. Juliana neidete den Waschmädchen am Arno ihr unbekümmertes Dasein. Sie mussten nicht Rechenschaft über jeden ihrer Schritte ablegen, Buße tun für Gedanken wie diese, die Juliana seit dem Frühjahr immer eindringlicher marterten. Schwatzend standen die jungen Frauen in ihren einfachen Kleidern knietief im Fluss. Sie schürzten die Röcke und scherten sich nicht um die abschätzigen oder anrüchigen Blicke anderer. Sie konnten tun, wonach ihnen der Sinn stand, frei sein.

Mit einem tiefen Seufzer zerrte Juliana an dem engen Oberteil, das ihr mehr denn je die Luft zum Atmen nahm. Tränenblind starrte sie auf den dunklen Schatten der Brücke. Es war entschieden. Kiesel kullerten zu ihren Füßen und rissen sie aus ihren trüben Gedanken. Eine vertraute Stimme erklang und Augenblicke später saß Assunita neben ihr.

»Hör auf, dich zu bemitleiden«, schimpfte ihre Freundin. »Ist es nicht zu früh am Tag, um Trübsal zu blasen?«

Trotz der harten Worte umspielte ein Lächeln Julianas Mund. Seit Tagen wich sie ihrer Freundin aus, hatte Angst, ihr anzuvertrauen, was sie belastete, sie sorgte. Dabei erkannte Assunita auf den ersten Blick wohl, dass Juliana etwas betrübte.

Sanft strich die Freundin über Julianas Hand. »Was hat er dir angetan, Liebchen? Du magst es nicht gern hören, aber dein Vater liebt dich. Vielleicht zeigt er es nur auf andere Weise.«

Juliana konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Wütend schleuderte sie eine Handvoll Sand ungestüm ins Wasser, als könne sie damit etwas verändern. »Das Gericht hat beschieden, mich im nächsten Frühjahr in andere Obhut zu übergeben.« Mit Wehmut dachte sie an das Gespräch mit ihrer Mutter zurück, das selbst Marias sonst so wachsamen Augen und Ohren entgangen war.

Assunitas Augen weiteten sich, dann verstand sie und lächelte verzagt. »Du wirst Antonio lieben lernen. Es braucht Zeit, und ich werde dir beistehen, so gut ich kann.«

Juliana war so aufgebracht, dass sie die tröstenden Worte ihrer Freundin kaum vernahm. »Er nimmt mir alles, was mir lieb geworden ist, und gibt vor, mein Bestes im Sinn zu haben.«

»Du bist durcheinander und meinst, er tut dir Böses, doch Antonio wird sich hüten, dich einzusperren.«

»Ich gehe sicher fort! Nach Genua. Antonio wird nicht hierbleiben. In dieser Stadt, die mich auf dumme Gedanken bringt. Genua! Was tue ich dort? Assunita, ich weiß nicht, was ich machen soll!« Julianas Stimme brach. Es war nur ein Kuss gewesen, und was immer Antonio dabei empfunden hatte, reichte aus, um das Einverständnis ihres Vaters einzuholen und um Julianas Hand anzuhalten. Sie wollte nicht fort, niemals. Allein die Vorstellung, ihre geliebte Heimat, die vertrauten Gassen, die cupola zu verlassen, raubte ihr den Atem. Von der Ponte Vecchio aus sichtbar bohrten sich die Kirchenspitzen der sechs Stadtviertel in den azurblauen Himmel und prägten das Stadtbild. Morgens, wenn die Stadt schlief, saß Juliana gern am Fenster und lauschte dem Klang der Glocken. Auf der anderen Seite des Flusses wuchsen Hügel, von dicken Stadtmauern begrenzt, gesäumt von Olivenbäumen mit silbrig glänzenden Blättern.

»Du musst mit Antonio sprechen. Er versteht gewiss, wenn du in der Nähe deiner Eltern bleiben willst.« Assunitas Versuch, Juliana aufzumuntern, misslang. Ihrer Freundin kamen selbst die Tränen. »Was soll ich ohne dich tun? Wem kann ich mich anvertrauen, wenn du nicht mehr da bist? Oh, Juliana, du darfst nicht gehen!« Ungestüm schlang Assunita ihre Arme um Juliana.

Juliana lächelte traurig. Obwohl ihr Assunitas Nähe wegen der Hitze unerträglich war, zögerte sie, sich aus der Umarmung zu lösen. Sie würde Assunita vermissen. Ihre Freundin verstand vieles, was Juliana nicht auszusprechen wagte. »Er hat mich geküsst. Antonio«, flüsterte sie deshalb in das dichte Haar der Freundin. »Ich habe getan, was du gesagt hast, Assunita. Ich habe die Augen geschlossen, stillgehalten, dennoch habe ich nichts gespürt. Warum nimmt er mich zur Frau, wenn ich ihn nicht liebe?« Längst flüsterte sie nicht mehr.

»Sei still, Juliana! Willst du, dass man uns entdeckt? Verheult und verschwitzt. Das gäbe ein schönes Gerede, glaub mir.« Assunita zog ein zerknittertes Taschentuch hervor. Sanft trocknete sie damit ihre und Julianas Tränen.

Beim nächsten Spiel der Glocken klopfte Juliana sich den Staub ab und stand auf. »Ich muss zurück, bevor die Balken herabstürzen.«

Assunita grinste verschmitzt über die Anspielung auf die behütete Festung. »Ob sie auch ungebetene Verehrer fernhalten? Verlier nicht den Mut, Juliana. Dir bleibt noch Zeit, dich deinem Schicksal zu ergeben«, sagte sie und blickte traurig auf den Boden.

Widerwillig entzog sich Juliana der lieb gewordenen Betrachtung der Stadt, in der sich so viel veränderte. Ihr Leben sollte bald nicht mehr so unbeschwert sein.

»Warte! Ich weiß, wohin Dario sich zurückgezogen hat. Man munkelt, er arbeitet an einem großen Auftrag. Niemand weiß, von wem er beauftragt wurde, und Dario selbst macht ein Geheimnis darum. Oder er meidet alle, um seine Wunden zu lecken.« Erst Julianas strenger Blick mahnte Assunita, weniger Hohn zu zeigen. »Sei vorsichtig, wenn du ihn in Orsanmichele aufsuchst, und sag ihm nicht, wer du bist!«

»Ich werde mich hüten, mich als des Teufels Kind vorzustellen.« Juliana nickte nachdenklich. Sie konnte sich gegen den Willen ihres Vaters nicht durchsetzen, doch herauszufinden, wie es um den aufrührerischen Künstler bestellt war, würde sie fertigbringen. Mit einem leisen Seufzer stieß sie sich von der Mauer ab und winkte Assunita zu. Diese hatte ihre Hände auf den Bauch gelegt und schaute verträumt auf das glitzernde Wasser des Flusses. Juliana konnte es nicht benennen, etwas hatte sich an Assunita verändert. War sie eifersüchtig auf Julianas Bestreben, ihrem Schicksal zu entfliehen?

Nach einem letzten Blick auf die Freundin kletterte Juliana flink die Böschung hinauf und tauchte in das Gewühl der Händler ein. Hastig eilte sie an botteghe und kleinen Läden vorbei. Sie schenkte zerlumpten, ausgehungerten Bettlern, die die kleinen Gässchen und Straßen zur Ponte Vecchio verstopften, ein mildes Lächeln und ein paar Gulden. Zumindest einige arme Seelen konnte sie beglücken.