Die Muse von Florenz

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Kapitel 7

Nur wenige Gassen weiter, unter Torbögen und engen Vorbauten hindurch, bog Juliana auf die große Piazza della Signoria ab. Erbarmungslos flutete grelles, heißes Licht den Platz und zwang sie innezuhalten, um zu Atem zu gelangen. Die plätschernden Brunnen in der Mitte des Platzes verhießen Abkühlung, doch Juliana fieberte der Begegnung mit Dario entgegen. Deshalb verschwendete sie keinen Blick an die anmutigen marmornen Figuren, zu deren Füßen sie oftmals rastete. Je näher sie dem anderen Ende der Piazza und damit auch Dario kam, desto unsicherer wurde sie. Sollte sie so tun, als hätte sie zufällig davon erfahren, wo er sich aufhielt? Vielleicht reagierte Dario ebenso unbeherrscht wie ihr Vater? Was erwartete sie bei dem empfindsamen Künstler zu finden? Verständnis für einen Mann, dessen Liebe über die Grenzen hinausgeschossen war? Sie durfte ihm auf keinen Fall erzählen, dass ihr Vater blindwütig auf die Büste eingeschlagen und Dario Unfähigkeit unterstellt hatte, seine Werke zu vollenden. Sie verlangsamte ihre Schritte. Hatte Vater nicht verlangt, dass Dario das Geld für die Büste zurückzahlen solle? Was ging es sie an? Immerhin hatte Vater genug Lakaien um sich geschart, die seinen Reden mit großem Eifer lauschten. Sollte einer von ihnen die Vorhut spielen, nicht sie. So stand sie vor den Toren des Palazzo della Signoria und focht einen Kampf mit sich aus.

Ein Tross von Ratsherren hetzte an ihr vorbei, in einen heftigen Disput vertieft. Ein großer Mann mit überraschend sanfter Stimme weckte Julianas Aufmerksamkeit. Nicht er, sondern vielmehr seine Kleidung. Er musste reichlich schwitzen unter diesem purpurfarbenen Mantel mit Hermelinpelz. Verzückt blickte sie auf die goldenen Kreuze, die den Mantel schmückten. Der Gonfaloniere, das höchste Mitglied der Signoria!

»Ihr könnt nicht bestimmen, wie hoch die Familien ihre Türme bauen!«, begehrte ein jüngerer Mann neben dem Gonfaloniere auf und schwenkte seinen Hut, um sich mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

»Dieses Edikt wurde aus gutem Grund ausgeschrieben, Cornelio. Vergesst nicht, warum Ihr in den Rat gewählt wurdet und wem Ihr diese Ehre zu verdanken habt«, zischte der ältere Mann, während er herumtollenden Kindern mit den Fäusten drohte. »Genug jetzt! Verschwindet, Bälger!« An den Jüngeren gewandt sagte er: »Spart Euch diesen Ehrgeiz für die Sitzung auf oder tut, was ich Euch rate: Schweigt.«

Letzteres war offensichtlich ein unwillkommener Rat. »Und ich sage Euch, der capomaestro lässt sich von niemandem in die Knie zwingen. Nennt mich töricht, mein guter Onkel – von dieser Kuppel wird man lange sprechen.«

Dem Alten verschlug es die Sprache. Auch Juliana schluckte heftig. Kaum jemand wagte, ihrem Vater zu widersprechen, aber dieser Mann tat es beim Gonfaloniere, dem einflussreichsten Mann in Florenz. Die Unverfrorenheit des jungen Mannes erschien Juliana gleichermaßen unklug und leichtsinnig. Ein Glockenschlag erklang. Sie besann sich darauf, nicht länger an Ort und Stelle zu grübeln. Von Glockenschlag zu Glockenschlag verdunkelten sich die Gassen abseits der Piazza, dass sie meinte, die Nacht wäre da. Diese vermaledeiten Türme! Waren sie wahrhaftig nicht hoch genug? Verärgert schüttelte sie den Kopf. Jede Piazza übertrumpfte die andere an Größe. Jede Brücke musste breiter, imposanter sein. Die Unersättlichkeit, die so mancher Florentiner für sich beanspruchte, egal, ob es um die schönen Dinge des Lebens oder das Ausmaß einer Machtdemonstration ging, ermüdete sie immer mehr. Oft genug hatte ihr Vater bei Tisch erzählt, worüber sich die Patrizier stritten. Mal ging es um höhere Steuern oder die Kleiderordnung, die Streitigkeiten um die Höhe der Türme erhitzten die Gemüter jedoch am meisten. Vater fand darin auch Gutes, zumal die betroffenen Parteien seinen Rat suchten und dafür mit vielen Gulden teuer bezahlten. Oft saß er jedoch zwischen den Stühlen, durfte weder des einen oder anderen Partei ergreifen. Die einen, denen beinahe über Nacht das Sonnenlicht abgesprochen wurde, stritten gegen die anderen, die ihre Rivalen durch diese Geste herausforderten. Jeder seiner endlosen Vorträge endete mit der steten Mahnung, dieses oder jenes Gesetz zu beachten. Wenn Dina ihn sanft rügte, dass er sich beim Abendessen befand und nicht auf einer Ratsversammlung, nickte er zerstreut mit dem Kopf und bat sie mit einem Handkuss um Vergebung. Diese Zärtlichkeiten zu beobachten, hatte Juliana bislang verwirrt. Ihre Wangen brannten ob der Erinnerung an jenen Tag auf der Loggia, an Antonios Kuss. Erst die scharfen Worte vom Gonfaloniere versetzten sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück.

»Wenn man den notario wahrhaftig aus seinem Amt enthebt, liegt es da nicht an uns, einen geeigneten Nachfolger zu ernennen?«

»Schweigt Ihr endlich? Ich kenne Ferdinando, das würde er niemals tun.« Der ältere Patrizier schlug dem ungestümen Ratsherrn neben sich auf die Schulter.

Der junge Mann nickte zerknirscht.

»Mäßigt Euren Zorn, junger Freund, es gibt heute in der Tat Wichtigeres als den Ehrgeiz unserer Familie! Falls die Verträge tatsächlich im Treu und Glauben falsch ausgestellt sind, wird sich der notario dafür verantworten müssen.«

Es bestand kein Zweifel! Die Ratsherren hatten von ihrem Vater gesprochen. Trieb er sein seltsames Verhalten so weit, dass man ihn seines Amtes entheben wollte?

Mit einem letzten Blick auf den Palazzo della Signoria floh Juliana in die schattige Gasse hinein. Nach einem wachsamen Blick, ob ihr jemand gefolgt war, näherte sie sich der Rückseite eines Hauses. Unbemerkt schlüpfte sie durch eine schmale Pforte in den Palazzo dell’Arte della Lana, in dessen Gemäuer sich die Zunft der Tuchhändler traf. Sie kannte das prächtige Gebäude von ihren Spaziergängen mit ihrem Vater, der ihr manchmal erlaubt hatte, ihn zu begleiten. Es war aufregend, dem leidenschaftlichen Feilschen der Männer zu lauschen. Ihre Sprache war lebendiger als die ihres Vaters, der notario pflegte anderen Umgang. Mit Hand und Fuß begleiteten die Händler gestenreich ihre Verhandlungen, sogar Fäuste schwangen mit.

Hinter einem wuchtigen Schrank nahe der Treppe wartete Juliana ungeduldig, bis der letzte Mann den Palazzo verlassen hatte und sie ungestört war. Dann schlich sie über einen schmalen Brückensteg, der den Palazzo mit einem von außen unscheinbar wirkenden Gemäuer nebenan verband, und hielt an der Schwelle des Orsanmichele inne. Ob sie überhaupt den Mut fand, Dario anzusprechen? Ihr Herz schlug heftig und die Sorge um das Wohlergehen ihres Vaters mischte sich in die Sehnsucht, Darios Vertrauen zu gewinnen.

Verborgen hinter verführerisch duftendem Oleander, der an den Seiten des Portals in großen Kübeln stand, blickte Juliana atemlos in die Tiefe der riesigen Halle. Dort stand in der Mitte des Gewölbes ein Mann, allein, über weißen Marmor gebeugt. Dario. Alles, was sie ihm sagen wollte, war verflogen, so gebannt starrte sie in seine Richtung. Es war nicht richtig, die unverhohlene Leidenschaft dieses Mannes zu beobachten. Heimlich, um zu sehen, was unschuldigen Augen verboten war, doch sie konnte nicht anders. Schweiß glänzte auf seinem nackten Oberkörper, der das Muskelspiel seiner starken Arme betonte. Benommen schlug sie ein Kreuz nach dem anderen und lauschte seiner schmeichelnden Stimme. In den gewaltigen Bögen hallte das Timbre. Er wirkte so ganz anders, als Assunita ihr erzählt hatte. Einen Teufel nannten ihn die, die sein Talent nicht guthießen, es ihm womöglich neideten. Einen Draufgänger, einen Jüngling, der grün hinter den Ohren war. Geizig sei Dario, unnachgiebig und rachsüchtig im Umgang mit denen, die seine ketzerischen Ideen laut zu kritisieren wagten. Juliana glaubte all das nicht. Vielmehr spürte sie stille Demut vor dem, was er schuf. Sie wusste von Assunita, dass er eifrig jeden Zoll des kostbaren Marmors verteidigte, wenn ihm der Rat eines anderen nicht willkommen war. Den Gerüchten zufolge reiste er selbst in die gefährlichen Marmorbrüche von Carrara, um nach dem richtigen Block zu suchen. Oft fürchteten die Männer um sein Leben, wenn er sich, ein Seil um die Hüften geschlungen, in die schwindelnde Tiefe gleiten ließ, erzählte man sich. Er dirigiere seine Helfer, ein Stück höher oder tiefer, bis er endlich ein besonders wertvolles Stück des kostbaren Steins entdecke. Diese Prozedur könne Stunden andauern.

Sie lächelte wehmütig und dachte an die erste Begegnung mit Dario zurück. So oft sie auch versucht hatte, ihm erneut zu begegnen, war es ihr nicht gelungen. Sein Verlangen, ungestört zu bleiben, schien jedenfalls ungewöhnlich. Meist standen die Türen weit offen und neugierige Florentiner waren ihm stets willkommen. Seit Tagen waren die Türen verschlossen, deshalb auch der Umweg über die Tuchhändlergilde.

»Dario«, seufzte sie und presste ihre Hand auf den Mund. Nicht auszudenken, wenn er sie hörte oder gar mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen hier vorfände.

»Ich kann nicht länger warten, mia.« Voller Hingabe glitt Dario mit seiner Hand über den milchig weiß glänzenden Körper vor ihm, der sich ihm unverhüllt darbot. Juliana errötete. Ohne Scheu wanderten seine Finger über die sanften Hügel kleiner, fester Brüste, erkundeten Täler und Ebenen. Er zögerte nicht, kannte den Weg der Begierde blind und schien neugierig genug, den weiblichen Körper vor ihm ohne Hast zu entdecken. Vom Bauchnabel aus beschrieb er einen großen Bogen über ihre Hüften, sprang von einer Seite zur anderen, um den sehnigen Oberschenkel hinabzugleiten. Die Statue war makellos schön. Ihr Becken wohlgeformt, die Scham kühn betont durch das leicht angezogene linke Bein, als warte sie ungeduldig auf das, worüber Dina mit ihrer Tochter erst kürzlich gesprochen hatte. Das unvollendete Gesicht erinnerte Juliana an jemanden. Sie war zu aufgeregt, um darüber nachzudenken. Ihre Wangen brannten indes wie Feuer. Im Salon ihres Vaters empfand sie Angst, gar Verwirrung. Je länger sie in Darios Nähe verweilte und ihn bei seiner Arbeit beobachtete, desto mehr schwand das unschuldige Kind in ihr. Eine süße, quälende Sehnsucht durchzog ihr Herz, und sie wünschte sich, diese vollkommene Hingabe am eigenen Leib zu erfahren. Angespannt sank sie auf die Knie. Sie zog ihren Surcot so weit hoch, dass er ihre weißen Knöchel entblößte. Was wäre, wenn sie sich Dario so zeigte? Sie lächelte beschämt und ließ den dünnen Stoff fallen. Es verlangte mehr denn nur entblößte Knöchel, diesen Künstler zu fesseln. Wäre er ebenso voller Zuneigung und Verständnis oder gestand er dies nur seinen auserwählten Geliebten zu, steinern oder nicht? Vielleicht sah er in ihr nur ein launisches Kind, das nach ungeteilter Aufmerksamkeit verlangte. Verzaubert von der stummen Zwiesprache zwischen Dario und einem unscheinbaren Stück Marmor, aus dem so unbeschreibliche Kunstwerke entstanden, wünschte sich Juliana, ihm zu dienen. An solch einem Wunder teilzuhaben, dessen sie Tag für Tag ansichtig würde. Sie war weder Stein noch Meißel, doch in diesem Moment wünschte sie sich immer sehnlicher, sein Werkzeug zu sein. Als Muse wollte sie ihn leiten, wenn er zweifelte, und ihn lobpreisen, wenn er vor der Vollendung seiner Werke stünde.

 

»Bald werden sie kommen und dich mir wegnehmen, meine Liebste, und ich kann nichts dagegen tun.« Mit einem Seufzer wandte sich Dario ab und zog ein ledernes Bündel heran, mit einem Band umwickelt. Mit sicheren Händen entrollte er das Päckchen, bis seltsam anmutende Instrumente im einfallenden Sonnenlicht funkelten. Zögernd schwebte seine Hand darüber, dann entschied er sich für eine schmale Klinge, einem Messer ähnlich. »Ich bin ein Narr, meine Schöne. Ein verliebter Narr. Bald bin ich ein einsamer Narr, der sein Leid in Wein ertränkt und sich am Busen irgendeines Weibs, das nicht annähernd deine Schönheit besitzt, nach dir verzehrt.« Er sah voller Begehren auf die sanft geformten Arme, die Brust und Scham. Er neigte sich tiefer und drückte der Statue einen Kuss auf die schmalen Lippen.

»Nein!«

Dario hob den Kopf. Mit einem zynischen Lächeln wandte er sich um. »Begehrt Ihr gar diesen Kuss? Seid Ihr deshalb hier?«

Mit einem erstickten Schrei sprang Juliana auf. Mit zitternden Beinen stolperte sie über die Brücke hinüber ins Treppenhaus des Palazzo dell’Arte della Lana. Zu spät bemerkte sie den Schatten, der an der Pforte auf sie fiel.

»Dachtet Ihr, ich hätte Eure Anwesenheit nicht bemerkt? Ihr irrt. Niemand ist so dreist, mich zu stören. Ihr tut es!«

Plötzlich schmeckte sie Darios Lippen, den bitteren Geschmack von billigem Wein und eine nie gekannte Süße, die ihr den Atem raubte. »Wagt es nie wieder!«, presste sie atemlos hervor und drängte an ihm vorbei.

Kapitel 8

»Er hat dich nicht fortgejagt?« Assunita erbleichte. »Einem Jungen aus dem Viertel hat er beinahe den Kopf abgerissen, weil er ihn in seiner Kammer vorfand!«

Juliana schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Sie konnte ihrer Freundin nicht in die Augen sehen, ohne sich zu verraten. Es war keine Lüge. Dario hatte nicht verlangt, dass sie ging, und dennoch war das nicht die ganze Wahrheit. Beim Gedanken daran, was beinahe passiert wäre – oder was tatsächlich geschehen war! –, schlug ihr Herz schneller. Sobald sie ihre Augen schloss, sah sie Darios dunkle Augen und meinte, seine weichen Lippen zu spüren. Warum konnte sie sich Assunita nicht anvertrauen?

»Gott behüte, wäre es nicht so glimpflich ausgegangen! Juliana, du hörst mir ja gar nicht zu«, beschwerte sich Assunita und trat zu ihr ans Fenster. »Ist etwas Besonderes zu sehen?« Die Freundin drängte sie beiseite und lugte hinaus. »Dein Vater kommt! Nicht allein. Antonio scheint ihm ans Herz gewachsen zu sein. Wer weiß, vielleicht bleibt ihr hier?«

Juliana seufzte. Antonio half ihrem Vater in letzter Zeit immer mehr. Er erledigte Botengänge und führte pflichtbewusst Buch über die Verträge mit den Künstlern und wichtige Termine. Aber der eigentliche Grund seiner Anwesenheit war von Anfang an sie selbst gewesen. Was Vaters geschätzten Freund aus dem fernen Genua und den notario verband, war der innige Wunsch, zwei angesehene Familien miteinander zu vereinen. Wenn sie einander begegneten, blieb Antonio stumm wie ein Fisch. Ob er es bereute, sie geküsst zu haben? Und Dario? Sein Kuss veränderte ihr Leben wahrhaftig, und niemand ahnte, was in ihrem unschuldigen Herz vorging. »Ich kann mich Vaters Wunsch nicht beugen«, stieß sie aufgewühlt hervor und schloss das Fenster so heftig, dass Assunita sie verwundert ansah.

»Juliana Serrati, wann warst du das letzte Mal in der Kirche?«

»Ich habe nicht gestohlen oder betrogen! Steht nicht geschrieben, du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib? Oder Mann! Ach Assunita, ich bin verloren. Mein Herz hat die Liebe kennengelernt und seitdem …«

Assunitas Gesicht wurde puterrot. »Was weißt du behütetes Ding denn von Liebe? Dein Vater erfüllt dir jeden Wunsch und was ist dein Dank? Du nützt sein Vertrauen schamlos aus.«

Juliana schluckte heftig. Aus Assunitas Mund klang es tatsächlich verabscheuungswürdig, doch begehrte sie nicht etwas ganz anderes? Sie wagte nicht einmal, diesen Gedanken laut auszusprechen, so groß war ihre Sehnsucht, Dario wiederzusehen. Es hieße, sich bedingungslos darauf einzulassen, mit einem Mann wie ihm allein zu sein! Ihr Vorhaben, ihm den Schaden an der Büste zu bezahlen oder zumindest zu erklären, schien ihr abwegiger denn je. Mit jedem Wort aus ihrem aufgeregten Mund wuchs die Gefahr, dass sie ihre wahre Herkunft verriet, und dann würde sie Dario verlieren, für immer. Und wenn sie schwieg, musste sie fürchten, dass er eines Tages dahinterkam, wessen Tochter sie war. Es war ein schreckliches Dilemma, in das sie geraten war. Daran trug ihr Vater Mitschuld. War es denn ein Wunder, dass außergewöhnliche Männer wie Dario sie anzogen und sie begreifen lernen wollte, was Künstler dachten, fühlten? Die artisti führten ein Leben, in dem sie das tun durften, was sie liebten. Unbeschadet davon, ob sie dafür Hunger leiden mussten oder sich im Ruhm angesehener Patrizierfamilien zeigten. Es erfüllte ihr Dasein.

Juliana schluckte schwer. Ein einfaches Bäckermädchen wie Assunita konnte das nicht verstehen. Sie arbeitete den ganzen Tag, und wenn sie Zeit hatte, um Juliana zu besuchen, musste sie deren Backfischträume anhören. Schlimmer, sie verachtete Julianas Unzufriedenheit. Darum schwieg Juliana, quälte sich allein mit ihren Ängsten und dieser unstillbaren Sehnsucht. Warum verbot man ihr, Juliana, die in einem derartigen Umfeld aufwuchs, Schönheit zu bewundern? Die Leidenschaft ihres Vaters für die schönen Dinge des Lebens war ihr in die Wiege gelegt worden. Von klein auf durfte sie Künstlern nahe sein, und hatte Vater sie nicht sogar zur Dombauhütte mitgenommen, kaum dass sie über die Balustrade sehen konnte?

Welcher Künstler auch immer es in den letzten Jahren in die Casa Serrati geschafft hatte, war auf dem richtigen Weg, in die Herzen der kunstverliebten Florentiner aufgenommen zu werden. Nur Dario nicht. Dabei mangelte es ihm nicht an Fleiß oder Talent, davon war sie überzeugt. Lediglich die Einsicht, sich zu unterwerfen und seinem Gönner zu danken, fehlte ihm. Sie beschloss, in seinem Sinne zu handeln und ihrer Mutter von dem begabten Bildhauer zu erzählen und sich für ihn einzusetzen, sobald sich eine gute Gelegenheit ergab. Wenn sie erst Mutter von Darios Fähigkeiten überzeugt hatte, wäre es ein Leichtes, die Gunst und damit auch das Geld eines Ferdinando Serrati für Darios Aufstieg zurückzugewinnen. Wenn Vater sah, dass Dario liebevoll mit ihr, der Kunst und seinen Werken umging, vergab er ihm gewiss.

»Dario hat dich nicht berührt? Sich dir nicht genähert, was ihm gewiss nicht gestattet wäre oder zustünde? Ich bin nicht dumm, Juliana! Rede mit mir, bei der Jungfrau Maria!«

»Ich, hätte ich nur …«, stammelte Juliana. Sie konnte nicht länger schweigen, musste jemandem von dem Ziehen in ihrem Herzen erzählen, das immer schlimmer wurde. »Es tut so weh. Hier drin.« Sie zeigte auf ihr Herz und lächelte verzagt. Warum war es so schwierig, ihre Gefühle in Worte zu fassen?

»Gott sei Dank! Glaub ihren Schwüren nicht, dass sie dich auf ewig lieben, und hüte deinen größten Schatz gut.« Assunitas Wangen färbten sich tiefrot. »Es ist nicht so schlimm, wie uns weisgemacht wird, doch teile das Bett nur mit deinem Liebsten. Mit dem, für den du alles, wirklich alles, bereit wärst zu opfern, um sein Leben zu retten oder es mit ihm teilen zu dürfen.«

Die letzten Worte verstand Juliana kaum, weil Assunita weinend zu ihren Füßen kauerte. »Assunita, was bedrückt dich? Verzeih mir, ich wollte dich nicht verletzen.« Sie setzte sich neben sie und strich sanft über den Kopf der Freundin. Während sich Assunita langsam beruhigte, dachte Juliana über ihre Worte nach. Alles zu opfern, was ihr lieb und teuer war. Die Gewissheit, eine liebende Mutter um sich zu haben, einen Vater, der sich zwar neuerdings seltsam benahm, dessen Liebe sie aber niemals infrage stellen würde. Die Casa Serrati verlassen für eine ungewisse Zukunft mit …

Ihr stockte der Atem. Wie weit trieb die brennende Sehnsucht in ihrem Herzen dieses gefährliche Gedankenspiel? Was immer Antonio in ihr sehen mochte, erst Darios leidenschaftlicher Kuss hatte solche Gefühle in ihr geweckt. Zwar waren sie ihr fremd, doch nicht zu fremd, um sie erneut herbeizusehnen und von einem Leben zu träumen, das sie sich bislang nicht ausmalen konnte. Dabei kannte sie den eigenbrötlerischen Mann kaum, wusste nicht, woher Dario kam oder was ihn hier festhielt, warum er nicht weiterzog. Ob es ihm überhaupt wichtig war, einen Gönner zu haben. Dummes Ding, schalt sie sich. Du weißt nichts über ihn und erwägst, für Dario aufzugeben, was dein bisheriges Leben ausgemacht hat. Hatte ihr Vater sie nicht gelehrt, auf Gott zu vertrauen?

Mit neuer Hoffnung lächelte Juliana und sah Assunita ins Gesicht. »Verzeih mir, dass ich deine Treue derart auf die Probe stelle, doch ich muss morgen Mittag wieder fort.« Sie musste nochmals hinaus, musste wissen, ob das Ziehen in ihrem Herzen aufhörte, wenn Dario vor ihr stand.

»Ist es nicht verwerflich, dein Schicksal herauszufordern?«, fragte Assunita erstaunt.

»Auf mich wartet eine andere Bestimmung, als Antonio und meinen Vater glücklich zu machen.«

*

Julianas Entschluss, für Dario um Milde zu bitten, zerbröckelte, kaum dass sie allein in ihrer Kammer saß und darauf wartete, dass Maria sie zum Abendbrot rief. Assunita, die sie trotz aller Befürchtungen ermutigt hatte, Darios Ruf zu verbessern, war inzwischen gegangen. Seitdem saß Juliana gedankenversunken vor dem Fenster. Die Stunden bis zum Abendmahl waren gefüllt mit flehenden und wütenden Appellen, die allein die Wand ihrer Kammer vernahm. Zornige Worte eines jungen Mädchens, das sich über seine Gefühle nicht im Klaren war. Sie seufzte leise. Die Sonne schwand glühend rot über den Hügeln der Stadt und färbte die Spitzen der Kirchen. So groß war ihre Sehnsucht nach Darios Aufmerksamkeit offenbar nicht, wenn sie bereits jetzt an ihrem Entschluss zweifelte.

Kaum hatte Maria sie zum Essen in den Salon geführt, schrumpfte Julianas Mut erneut. Flackernde Talglichter spendeten spärlich Licht. Es genügte, um Vaters prüfenden Blick zu bemerken. Sie wagte nicht, irgendetwas zu sagen, geschweige denn von ihrem eigenmächtigen Besuch bei Dario zu erzählen. Noch weniger fand sie den Mut, ihren Vater zu bitten, den jungen Künstler nochmals einzuladen, um das Missverständnis aus der Welt zu schaffen. Verzagt würgte sie das köstliche Fleisch hinunter und schämte sich zutiefst. Assunita hätte liebend gern mit ihr getauscht für das verschwenderische Mahl.

»Ist alles in Ordnung, Liebes?« Als Juliana ihrem Vater keine Antwort gab, schaute Ferdinando seine Frau verwundert an.

»Es ist heiß, mein Guter. Vielleicht wäre es an der Zeit, die Stadt zu verlassen und uns an einem kühleren Ort einzurichten?« Dina legte ihre Hand über die ihres Mannes und lächelte verklärt. »Deine Schwester mag ihr Haus hinter Fiesole nicht mehr missen. Ein sanfter Wind gleitet über die Hügel und vertreibt ihre schwere Melancholie. Sie hat uns eingeladen.«

Mutter wollte mit diesem Drachen von Frau ein paar Tage unter einem Dach verbringen. In der Hoffnung, Vaters Gemüt zu besänftigen und seine Dämonen durch ihre ungestörte Zweisamkeit zu verjagen.

Ferdinandos Lächeln gefror. Unsanft zog er seine Hand zurück und starrte geistesabwesend über die reichlich gedeckte Tafel. »Und die Dienerschaft? Sie lassen jeden ein, der ihnen gut zu Gesicht steht. Wer weiß, was in unserer Abwesenheit geschieht?«

 

»Ich könnte hierbleiben! Schenkt mir diese letzten Sommertage in Florenz, Vater!« Juliana frohlockte innerlich und schenkte ihm ein unbekümmertes Lächeln. »Ihr sagt selbst, ich wäre alt genug, um Verantwortung zu übernehmen. Antonio und Maria sind da, die Wachen ebenso. Ihr beklagt immer, dass es im Sommer so heiß wird in der Stadt.«

Dina ergriff die Gelegenheit beim Schopf und nickte ihr dankbar zu. »Es sind nur ein paar Tage, um die ich dich bitte, mein geliebter Ferdinando. Seit Langem muss ich dich teilen und zürne der Signoria und deinen Künstlerfreunden, die dich unbarmherzig und gnadenlos in Beschlag nehmen.«

Juliana wusste die Gunst der Stunde zu nutzen und sprang freudig auf. Sie schlang die Arme um den Hals ihres Vaters und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Macht Mutter die Freude«, wisperte sie mit einem Lächeln, um die zunehmende Einsamkeit ihrer Mutter wissend. »Darf ich Jolanda und die anderen rufen, damit sie Euch mit dem Packen helfen?«

Ferdinandos düstere Miene erhellte sich. »Du willst mich ja rasch loswerden, scheint mir.« Er hob seine Hände und nickte ergeben. »Gegen eine solche Verschwörung bin sogar ich machtlos«, erwiderte er. Für den Augenblick schien aller Ärger von ihm abzufallen. Schwungvoll wirbelte er zu Juliana herum.

»Worauf wartest du? Schick alle hoch, die Zeit haben. Bei den vielen Truhen deiner Mutter kommen wir sonst vor dem Herbst nicht mehr weg.«

Juliana war glücklich wie lange nicht. Ihren Vater so entspannt zu erleben, erfüllte sie mit einer tiefen Dankbarkeit. Mochte es der Aufregung der letzten Wochen geschuldet sein, dass er sich manchmal so seltsam verhalten hatte. Nun würde alles gut werden, dessen war sie sich sicher. Sie hörte das befreite Lachen ihres Vaters und frohlockte. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages brachen sich an den funkelnden Weingläsern, sodass Juliana sich leise empfahl. An der Tür warf sie einen Blick zurück auf ihre Eltern und atmete durch. Im Halbdunkel saßen sie Hand in Hand und versprachen sich eine wundervolle Zeit in Fiesole. Juliana tanzte fröhlich aus dem Zimmer, die Dunkelheit störte sie nicht mehr. Morgen würden die Fenster bis zum späten Abend offen stehen, auch wenn die Hitze sich in den Balken niederließ und sie nachts zum Ächzen brachte.

Atemlos hielt sie an der Treppe an. Sie musste einen Weg finden, Dario näherzukommen. Vielleicht war es die Aufgabe einer Muse, den uneinsichtigen Künstler mit seinem Mäzen in Einklang zu bringen? Vater käme sicher entspannt aus der Sommerfrische zurück, während sie in der Zwischenzeit dafür Sorge tragen würde, dass Dario seinen Groll niederlegte.

*

Es schien Juliana endlos, bis die Reisevorbereitungen ihrer Eltern endlich abgeschlossen waren. Der plötzliche Aufbruch und die damit verbundenen Erledigungen in der Casa Serrati ließen am nächsten Morgen die unkenden und besorgten Münder nicht verstummen. Seit dem frühen Vormittag gaben sich Patrizier, Ratsherren und andere Mitglieder der Obrigkeit die Klinke in die Hand. Die unerwartete Absicht des notario, für einige Tage die Stadt zu verlassen, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Jeder wollte sich vergewissern, dass diese unerwartete Reise keinerlei Einfluss auf laufende Verfahren, Streitigkeiten oder Termine nähme.

»Sie glauben wohl, du hast in die Staatskasse gegriffen, mein Lieber?« Amüsiert begleitete Dina in den ersten Stunden den Fortschritt der Dienerschaft, die mit vereinten Kräften die letzten Truhen in die Eingangshalle geschafft hatte.

»Diese Verräter, wie sie wieder angekrochen kommen. Das Blatt hat sich gewendet, und nun sollen sie schauen, wie sie die nächsten Tage ohne ihren notario überstehen.«

Als am Nachmittag der geplanten Abreise nichts mehr im Weg stand außer einer langen Schlange an Männern, die just an diesem Tag eine Unterredung einforderten, kämpfte auch Dina um ihre Haltung. Mit steinerner Miene bedeutete sie Federico, der unverzagt seinen Dienst am Portal versah, den nächsten Besucher einzulassen. Auch ihr Vater ertrug den steten Strom an ungebetenen Gästen offenbar nur mühsam. Immer wieder ließ er sich verleugnen in der Hoffnung, dass vielen die Geduld ausging.

Juliana erschien der Tag endlos. Gedanklich malte sie sich aus, wie sie Dario auf unverfängliche Weise erneut begegnen wollte. Was auch immer sie sich vorstellte, scheiterte an dem unerquicklichen Ende ihrer letzten Begegnung. Was dachte er wohl über ihre Unverfrorenheit, in sein Reich einzudringen, das anderen Augen verschlossen war? Sie fühlte sich schuldig und konnte doch nicht umhin, ihm seinen Kuss zu verübeln. Natürlich zog er seine eigenen Schlüsse und die schmeichelten ihr wenig. So viele Frauen, Mägde und Herrinnen entblößten sich vor ihm, um für die Ewigkeit oder die lüsternen Augen eines anderen Mannes in Stein oder einem Gemälde verewigt zu werden. Was sollte ausgerechnet ein unschuldiges Mädchen ihm bieten können?

»Verschwindet aus meinem Haus, aus meinem Leben, aus dieser Stadt. Ihr seid der Teufel!« Vater schrie wie von Sinnen.

»Zum Teufel mit Euch, Serrati! Ich kam in guter Absicht zu Euch, um endlich Frieden zu schließen für uns alle. Eure Überheblichkeit werdet Ihr büßen, das schwöre ich Euch!«, brüllte der Besucher und polterte aufgebracht die Treppe hinunter. Auf den letzten Stufen verlor er das Gleichgewicht und stürzte.

Da erkannte sie das Gesicht des Mannes, der sich just in diesem Moment aufrappelte. Jener Mann, der sie Darios Liebchen genannt hatte. Rasch tauchte sie in den Schatten einer Säule und stieß dabei gegen etwas Hartes, Kaltes.

»Ich werde dafür sorgen, dass man mich bei der nächsten Sitzung anhört und Ihr Euch dafür ver…« Seine letzten Worte gingen in einem furchtbaren Getöse unter. Die Ketten der Balken, die man hinablassen konnte, um die Casa Serrati vor Eindringlingen zu schützen, rasselten und einer der Querbalken stürzte hinab. Just auf den armen Mann darunter. Röchelnd lag er auf dem Boden und starrte leise wimmernd auf den schweren Holzbalken, der sein Bein einklemmte. Blut sickerte aus einer klaffenden Wunde am Knie.

»Um Himmels willen! Bernardo! Schickt nach dem Medicus!« Dinas Gesicht war bleich. Sie beugte sich über den Mann und erstarrte, als sie sein Gesicht sah. Fassungslos rang sie um Worte der Vergebung und blickte hilflos nach oben, wo noch immer Ferdinando stand. »Wie … Seid Ihr es wirklich? Raffaele? Ich dachte, Ihr wärt … tot.« Ihr Gestammel glitt in Weinen über, während sie neben dem Verunglückten kauerte und dessen Hand umklammert hielt.

Juliana erschauderte. Wie zärtlich Mutters Stimme klang! Etwas drückte in ihren Rücken und hinderte sie, unbemerkt zu fliehen. Die Ketten! Sie presste ihre Hand auf den Mund. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie in ihrer Angst, entdeckt zu werden, gegen den Riegel gestoßen war, der die Ketten sicherte. Sie trug Schuld an Roberto Mazarettos Unfall, dennoch spürte sie Kälte in ihrem Herzen. Der Anblick des Mannes in den tröstenden Armen ihrer Mutter erschütterte sie zutiefst. Blind vor Tränen verharrte sie im Schutz der Säule und erwachte erst aus ihrer Starre, als Ferdinando Serrati mit dem Dienstbotenstab die Halle erreichte.

»Mio dio! Das ist nicht möglich«, flüsterte er entsetzt, weil er erkannte, wem Dinas Sorge galt. Er trat näher und blickte ihre Mutter an, schüttelte langsam den Kopf. »Das ist Roberto Mazaretto, meine Liebe. Ich hätte ihn dir gern unter angenehmeren Umständen vorgestellt.« Mit zusammengepressten Lippen sah er zu, während Antonio und Bernardo den Balken vorsichtig anhoben. Juliana wagte einen vorsichtigen Blick hinter der Säule hervor und sah das erbleichte Gesicht ihres Vaters. Unsanft, beinahe grob zog er Dina weiter und wies sie an, in das vor der Casa wartende Gespann zu steigen.

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