Die Muse von Florenz

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»Komm weiter!« Die Erwartung spornte Juliana an. So sehr, dass sie kaum dazu kam, sich um die Freundin zu sorgen, die neuerdings öfter seltsam bleich im Gesicht und rasch außer Atem war.

»Man hat ihn wieder aus der Sitzung geworfen!«, rief Assunita wohl in der Hoffnung auf eine kurze Pause bei einem Brunnen.

»Brunelleschi?« Juliana vergaß, dass sie ihre Freundin antreiben wollte, worauf Assunita schmollte und weiterging.

»Die Kuppel. Immer nur diese Kuppel. Kaum erwähne ich sie oder den capomaestro, ist mir deine Aufmerksamkeit sicher. Hast du nicht von der neuen Fehde gehört?«

Just in diesem Moment passierten die beiden Mädchen den Bargello. Hier fanden die Sitzungen der Priori delle Arti statt, eines Teils der Signoria. In den tiefer gelegenen Kellerverliesen darbten die Gefangenen, die von goldglänzenden Gulden, Licht und Sonne nur träumen konnten. Juliana schluckte. Wenn der capomaestro seinen Zorn nicht mäßigte, landete er im Gefängnis, und was passierte dann mit dem Bau der Kuppel? Und Vater? Auch ihn warnten seine Freunde, dass sein Jähzorn ein böses Ende finden könnte.

Nein, heute wollte sie nichts von Fehden hören oder gar Trübsal blasen, wo ihr Bernardo am Morgen nach dem Frühstück von einer neuen Lieferung Marmor berichtet hatte. Erst gestern waren schwere Karren durch die Gassen gepoltert. Schwer beladen mit frisch gebrannten Ziegeln, Tausende und Abertausende, die Woche für Woche hergebracht wurden. Einen Teil davon brannten die Arbeiter in der Via Ghibellina. Sie kamen mit dem kleinen Brennofen kaum hinterher, die Backsteine waren schneller verputzt als geliefert. Sie dachte an den, der in der Truhe in ihrer Kammer lag und sie stetig an den Mann erinnerte, der ihr dieses ungewöhnliche Geschenk gemacht hatte. Ihr Herz schlug schneller.

»Kaum endet eine Fehde, beginnt eine neue«, meinte Juliana daher geistesabwesend und überging die Frage ihrer Freundin. Die Streitigkeiten der großen Familienclans, der Lippi und Baretti, Catalani und Medici, interessierten sie nur, wenn sie mit der Arbeit ihres Vaters zu tun hatten. Gelegentlich bedurften solche Lappalien und größere Zwiste eines notario. Viel spannender war für Juliana, was auf den Baustellen zwischen der Via dell’Oriuolo und der Via dei Servi vor sich ging. »Hörst du, Assunita? Sie arbeiten wieder.« Sie genoss den Klang des gleichmäßigen Aufeinandertreffens von Äxten und Holz.

Kaum eine Straße konnten sie nahe der Piazza del Duomo durchqueren, ohne auf Arbeiter oder unvollendete Baustellen zu treffen. Brunelleschis Absicht forderte wohl auch den Ehrgeiz anderer heraus. An den Hauswänden, mehrere Braccia hoch gestapelt, ließen Bretter und Backsteine die Gassen so beengt werden, dass die Fuhrwerke kaum hindurchpassten. An der Zahl der Wagen und Händler, die bereits die Stadttore passiert hatten und zum mercato fuhren, ahnte Juliana, dass sie viel Zeit vergeudet hatten. Warum musste Assunita über die Via del Colomero laufen, wo andere Abzweigungen viel leichter zu passieren wären?

»Schneller!«, rief sie Assunita ungeduldig zu.

»Nicht mal Brunelleschi treibt seine Ochsen so an! Du bist ihm nicht unähnlich. Verbohrt.«

»Ochsen? Die ließe man nicht in die Kirche.« Juliana lachte, verlangsamte ihre Schritte aber kaum.

»Der capomaestro hat Maschinen erfunden, an denen Ochsen stundenlang im Kreis laufen. Da staunst du, was?«, erklärte Assunita erhobenen Hauptes. Sie genoss es, Julianas Neugier geweckt zu haben. »Der Mann sitzt ganze Nächte über Plänen und baut Maschinen, die niemand zuvor gekannt hat.«

Juliana hatte davon bislang nur gehört, denn bei ihrem kurzen Ausflug mit Vater war ihr dieser Anblick verborgen geblieben. »Da siehst du es wieder, Assunita! Ochsen! Es kommen so viele Gelehrte in unsere Stadt, die sehen wollen, was Brunelleschi erschaffen will. Überall wird gebaut. Gelehrt. Und du sagst das, als wären solche Apparate das Gewöhnlichste auf der Welt.« Sie dachte an das Modell, das sie gesehen hatte. »Brunelleschi wird zeigen, dass seine Kuppel kein Hirngespinst ist.«

»Siehst du, verbohrt!« Assunita schnaufte heftig, denn Julianas Schritte wurden größer und gewannen an Tempo, je näher sie der Piazza del Duomo kamen. Vor einem kleinen Brunnen blieb Assunita erschöpft stehen. »Genug! Ich will nicht länger in der Hitze herumlaufen.«

Juliana blinzelte. Nicht mehr lange, dann waren sie endlich am Ziel. Assunita durfte ihre Pläne nicht zunichtemachen. Juliana konnte ihre Ungeduld kaum noch zügeln. »Wir könnten uns später Abkühlung gönnen«, sagte sie flehend.

»An unserem Platz hinter der letzten Brücke? Oder unter der Ponte Vecchio?« Assunita lächelte. »Zwischen den Abfällen?«

»Ein Stück weiter oben, wenn du die Stelle nicht wieder verrätst.«

»Was passiert, wenn uns jemand dabei ertappt?«

»Was passiert, wenn du so fett wie unsere Köchin wirst? Bei Gott.«

Assunitas Lächeln schwand. Erst als Juliana ihre Freundin mit kühlem Brunnenwasser bespritzte, ließ sie das Grübeln sein.

»Wir gehen später zum Fluss, wirklich.« Juliana lächelte. »Bitte, Assunita!«

Mit einem lauten Seufzer erhob sich die Freundin und folgte ihr ergeben. Kurze Zeit später kicherten die beiden Mädchen und liefen eingehakt weiter. Assunita berichtete ihr vom neuesten Tratsch und Klatsch aus der elterlichen Bäckerstube. Das Lachen ihrer vertrauten Freundin bekümmerte Juliana. Assunita mochte ein schweres Los ertragen, dafür konnte sie unbedarft aus dem Haus gehen beim Brotaustragen. Wenn Assunita die Stadt verließ, war sie allein. Mit ihren Ängsten, ihren Träumen. Juliana schauderte plötzlich trotz der heißen Sonnenstrahlen, die auf ihre weiße Haut brannten.

*

»Wie kann er es wagen, mich derart zu hintergehen? Giovanni wird sich dafür erklären müssen. Antonio, setz sofort einen Brief auf.«

Der scharfe Ton in der Stimme ihres Vaters weckte Juliana am nächsten Morgen. Hastig warf sie sich ein Kleid über und schlich barfuß aus ihrer Kammer. Auf der Galerie blieb sie erstarrt stehen. Der Innenhof wirkte abweisend und bedrohlich. Wo sonst Sonnenstrahlen fächerartig den Boden in Streifen teilten, spürte sie nur eine ungewohnte Kälte. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann verstand sie. Die Fenster waren mit breiten Balken verriegelt. Der Morgensonne gelang es nicht, durchzubrechen. Die Diener wandelten mit flackernden Talglichtern umher und flüsterten, was Julianas Beklommenheit verstärkte. »Vater?«

»Lasst mich, Federico«, hörte sie die furchtsame Stimme ihrer Kinderfrau. »Großer Gott, wenn das nur gut ausgeht!«, stieß Maria entsetzt aus.

Im Zwielicht setzte Juliana vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf der Treppe, bis sie den Innenhof erreicht hatte. »Was ist hier los? Aua!« Etwas Scharfes, Spitzes hatte sie am Handrücken getroffen.

»Juliana!« Maria schlug die Luke zum Portikus zu und versperrte Juliana mit ihrem massigen Körper den Weg.

»Federico, du alter Narr! Was hältst du auch diese vermaledeite Lanze in der Hand!«

Unmittelbar neben Juliana wurde ein Licht herangetragen. Einer Fratze gleich wirkte das Gesicht des älteren Dieners in dem unruhigen Flackern. Er beugte sich vor und besah bestürzt, was er angerichtet hatte. Julianas Haut war aufgeschürft. »Vergebt mir, Juliana.«

Mit einem dumpfen Knall prallte etwas gegen das Tor, sodass Federico und Bernardo, der inzwischen hinzugetreten war, ihre Lanzen sofort wieder hochrissen. Bestürzung verzerrte ihre Gesichtszüge. Juliana wollte die Luke öffnen und nachsehen, was draußen vor sich ging. Sie hatte die Hand schon auf dem Riegel, da hielt Federico sie im letzten Moment zurück.

»Was wollen diese Menschen?«

»Sie verlangen, Euren Vater zu sprechen«, erklärte er widerstrebend.

»Erbost sind sie, meint Ihr nicht? Warum lässt man sie dann nicht ein?«

Hinter dem Tor erhob sich ein Chor zorniger Stimmen.

»Serrati, lasst uns ein! Viva Firenze!«

Warum war Federico so nervös? Hilflos umklammerte er die Lanze und tauschte fragende Blicke mit Bernardo.

»Die Weigerung Eures Vaters, sie zu empfangen, ist der Grund für ihre Wut«, erklärte Bernardo an Federicos Stelle. Die Augen des jungen Dieners blieben an Julianas schmalen Fesseln hängen, die das zu kurze Kleid, das sie sich rasch übergezogen hatte, kaum verhüllte. Marias Räuspern brachte ihn zur Besinnung. Mit glühenden Wangen wandte Bernardo seinen Blick ab.

»Setzt den Herrn in Kenntnis, dass es an der Zeit ist«, wies Federico Maria an.

»Zeit wofür?« Julianas Blick glitt zur Luke. Bernardo durchschaute wohl ihre Absicht und senkte seine Lanze. Dicht vor ihm blieb sie stehen. »Ich bin ebenso Eure Herrin.«

»Antonio hat mich gewarnt vor Eurem Starrsinn«, murmelte der Diener, aber in seinem Gesicht zeigte sich diese Entschlossenheit nicht. Verunsichert schaute er zu Federico und zuckte ratlos mit den Schultern.

Maria seufzte tief und zog an der Hand ihres neugierigen Schützlings. »Genug jetzt, Juliana. Zieh dich an, bevor dich dein Vater so sieht.«

Juliana lächelte. Sie folgte Marias Bitte gern, denn Federico war ihr zugetan. Ihn konnte sie ausfragen, später.

Kaum kehrte sie den beiden Dienern den Rücken, hörte sie Bernardo leise fluchen. »Das kommt davon, wenn man Unrecht zu Recht erklärt.«

»Sei still«, wies Federico den jüngeren Diener barsch zurecht. »Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu richten, was unser Herr tut oder nicht.«

»Blind geworden bist du und taub. Genau wie die anderen, doch Brunelleschi …«

»Genug oder ich öffne das Tor! Dann werden sie über dich herfallen, glaub mir!«

Juliana hielt inne und ging nachdenklich in ihre Kammer zurück. Was war so schlimm, dass Vater den Menschen den Einlass verwehrte? So grauenvoll, dass er sogar eine geschwätzige Kinderfrau zum Schweigen verdammte. Maria behielt nie länger als ein paar Stunden etwas für sich. So wusste Juliana zum Beispiel auch von der geschwätzigen Kinderfrau, dass Bernardo um Angelina warb, einer Magd aus dem Haus gegenüber. Und hatte nicht auch Maria Vaters Befehl umgangen, indem sie an der Luke gestanden und hinausgesehen hatte? Warum sollte sie es ihr nicht gleichtun? Nur einen einzigen Blick hinaus wollte sie wagen.

 

Einem Donnerwetter gleich durchdrang in diesem Augenblick ein lautes Grollen das Haus. Die hohen Querbalken mit den spitzen Enden, die über der Eingangshalle schwebten, einst zum Trocknen der Tuche genutzt, wurden hinabgelassen, sodass die Casa Serrati im Nu einem Bollwerk glich. Niemand fand nun mehr Einlass. Einmal war das geschehen, erinnerte sich Juliana bestürzt und sah auf die Balken, die ihr den sehnlichen Ausgang versperrten. Es war damals um eine Frau aus Pisa gegangen, die ein anderer so begehrte, dass er ihrem Vater den Tod wünschte. Warum, wusste Juliana nicht. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass Vater jemals einer anderen Frau seine Liebe erklärt hätte als Dina. Beinahe wäre es dem Angreifer gelungen, ihren Vater zu töten. In letzter Sekunde hatte sich Federico vor seinen Herrn geworfen und ihm damit das Leben gerettet. Darum genoss Federico manches Privileg, dennoch blieb er ein Diener, dessen Ehre keine Vernachlässigung der Arbeit duldete.

Ein Schauer glitt über Julianas Rücken. Sie dachte an die Ereignisse zurück. Ein Toter war offenbar dennoch zu beklagen gewesen in jener Nacht, über die Maria trotz Julianas neugierigen Fragen bis heute eisern schwieg. Ein einziges Mal nur hatte Juliana es gewagt, ihre Mutter zu fragen, worauf diese in Tränen ausgebrochen war und von einem schrecklichen Ende gesprochen hatte. Niemand sprach seitdem darüber.

Was aber war heute geschehen, dass sich ihr geliebtes Heim binnen weniger Stunden in eine Festung verwandelt hatte? Die Beklommenheit, die so jäh über ihr bislang beschauliches Heim gezogen war, zwang sie, sich ein eigenes Bild zu verschaffen. Juliana war die Geheimnisse und Verbote leid. Flugs hastete sie in ihre Kammer und blickte aus dem Fenster. Einem Ameisenhaufen ähnelte die aufgewühlte Menge, die sich mittlerweile vor dem Haus versammelt hatte. Es waren nicht ein paar Menschen, die Vater zu sprechen verlangten – nein, es waren Dutzende. Die auf unbestimmte Zeit vertrösteten Männer waren aufgebracht und versuchten, gewaltsam einzudringen. So uneins sie in den Sitzungen der Signoria waren, an diesem Morgen verfolgten sie ein gemeinsames Ziel. Mit einem dicken Holzpfeiler rammten sie das Tor, über dem das Wappen der Familie Serrati hing. Immer wieder bündelten die Männer die Kräfte für einen neuen Angriff, bis das Portal an einigen Stellen zu bersten drohte. Die Erschütterungen verspürte Juliana bis in den dritten Stock hinauf.

»Antonio! Wo zum Teufel steckt er?« Die Stimme ihres Vaters überschlug sich vor Zorn und Ungeduld.

»Kommt heraus, Serrati, damit Ihr mit eigenen Augen seht, was Ihr mit Euren Verleumdungen anrichtet!«, rief einer der Männer, kaum dass Juliana einen Blick auf die Straße gewagt hatte.

»Da ist jemand!« Einer der Männer in einem roten Umhang mit goldglänzendem Wappen zeigte auf Juliana. »Macht auf! Wir wollen mit Eurem Herrn reden.«

Der Mann hielt sie offenbar für eine Magd! Empört wich Juliana zurück.

»Geh vom Fenster weg, sofort!« Maria stand keuchend neben ihr. Hilflos schwangen ihre Fäuste in der Luft umher.

»Was wollen sie von Vater? Hat es etwas mit diesem Mazaretto zu tun, diesem ungehobelten Mann vor der Basilika?« Was immer Vater mit diesem Mann zu schaffen hatte, es musste etwas Frevelhaftes sein, dass er ihn verfluchte und die Angelegenheit für solchen Aufruhr sorgte. Erneut erbebte das Haus unter den heftigen Stößen der Eindringlinge.

Maria erbleichte. »Was weißt du darüber?« Die alte Kinderfrau schien alles um sich herum vergessen zu haben. Sie umklammerte Julianas Hand und schnaufte vor Aufregung. »Es musste so kommen. Ich habe immer gesagt, dass dieser Frevel uns eines Tages einholt. Heilige Jungfrau, vergib mir.«

»Juliana, geht weg vom Fenster!« Antonio betrat ihre Kammer. Ohne um Einlass gebeten zu haben, stürzte er zum Fenster und schloss die Läden, sodass auch die kostbaren Wandmalereien mit ihrer Farbpracht dieser unerträglichen Dunkelheit zum Opfer fielen. »Ich bin es leid, Euch nachzulaufen!« Der junge Mann wirkte aufgelöst und war außer Atem.

»Vater verlangt nach Euch. Habt Ihr ihn nicht rufen gehört?«

»Antonio, warum war das Fenster offen?« Ihr Vater stand mit Zornesfalten über der Stirn im Türrahmen und fixierte seinen Gehilfen aufgebracht.

»Vater, was ist …«, begann Juliana zu fragen, doch Antonio fiel ihr ins Wort.

»Ich musste den Geheimgang nehmen, notario, sonst wäre ich eher hier gewesen. Juliana half mir, die Fenster in den oberen Etagen zu schließen.« Er warf ihr einen warnenden Blick zu, sofern sie ihn in der ungewohnten Düsternis richtig zu deuten verstand.

Die beiden Männer wollten allein sein. Rasch zogen sie sich in das Arbeitszimmer des notario zurück.

»Seid unbesorgt. Ich habe alles zu Eurer Zufriedenheit erledigt«, hörte sie noch, bevor Maria die Tür von Julianas Kammer schloss.

Antonio war erst jetzt gekommen. Das hatte Vater sicherlich gewusst. Nachdenklich blieb sie vor der Tür stehen und lauschte. Wovon sprachen sie? Sie sah Maria erwartungsvoll an, doch diese blieb unschlüssig vor der Tür stehen.

»Ihr könnt nicht alle so tun, als gäbe es diese Menschen da draußen nicht. So sprich endlich, oder soll ich Vater sagen, dass auch du durch die Luke gespäht hast?«

»Sei still. Tu einmal, was man dir sagt, ungezogenes Ding.« Mit diesen ungewohnt heftigen Worten verließ Maria die Kammer ihres Zöglings und versperrte hinter sich die Tür.

Niemals zuvor hatte Maria die Tür abgeschlossen. Wütend riss Juliana an dem Knauf. »Ich werde nicht aufhören zu fragen. Auch wenn du mich einsperrst, hörst du?«

Ein harter Schlag gegen das dunkel gebeizte Holz der Tür brachte Juliana zum Verstummen. Verzagt wich sie zurück und setzte sich mit dem Rücken zur Tür, in der Hoffnung, dass Maria bald zurückkäme. Nach einer Weile kauerte sie sich auf den kühlen Boden und entzündete ein Talglicht. Im fahlen Schein begann sie leise zu beten. Es gelang ihr nicht, sich Gott zu öffnen wie an anderen Tagen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab.

Der Tag zog sich hin und ließ Juliana Zeit, über die cupola und ihre Begegnung mit Dario nachzudenken, diesem ungehobelten Handlanger Brunelleschis. Was würde sie ihm sagen, wenn sie ihm begegnete? Vielleicht freute er sich, sie zu sehen.

War die Meute vor dem Haus erschöpft? Die aufgebrachten Rufe waren inzwischen verstummt, denn sie hörte den Glockenschlag der nahen Basilika. Angestrengt lauschte sie an der Tür. Schwere Schritte hallten auf dem ersten Treppenabsatz, nicht die vertrauten Schritte ihres Vaters, sondern die eines Fremden. Galt ihm vielleicht der Zorn der Menschen? Gewährte Vater ihm heimlich Zuflucht?

»Du schließt Frau und Kind ein, Ferdinando?«

»Du hast die unerträglich heißen Sommer in Florenz vergessen, mein Freund!« Ihr Vater lachte. Unbeschwert, als wären die letzten Stunden in der Casa Serrati nur ein böser Traum gewesen. »Es wurde Zeit, dass du kommst. Du siehst selbst, was mich dein Rat gekostet hat. Schlaflose Nächte, Angst um meine Familie. Diese Männer vor meinem Haus werden nicht eher ruhen, bis sie die Wahrheit herausfinden.«

»Es war eure Entscheidung, die Verträge zugunsten der Opera zu ändern, Ferdinando. Nun findet einen Weg, das zu klären. Zwar fand Brunelleschi bisher nie Zeit, alles zu kontrollieren, aber …«

Suchte der Fremde eine Aussprache mit Brunelleschi? Seit seinem Erscheinen mussten gut zehn weitere Männer durch den Geheimgang gekommen sein. Nur so konnte sie sich die plötzliche Anwesenheit mehrerer Männer erklären, deren Stimmen jenen ähnelten, die sie vor einigen Tagen gehört hatte, bevor die überraschenden Besucher des Hauses verwiesen worden waren. Antonio empfing sie. Nur Giovanni Baldachi fehlte.

Eifersucht durchfuhr Juliana. Warum vertraute Vater Antonio neuerdings? Und schlimmer! Alle kannten den Geheimgang und konnten ungehindert in die Casa Serrati eindringen. Nun saßen sie in der Falle, umgeben von dicken Balken, die Licht und Zuversicht aussperrten, vor geschlossenen Fenstern und mit der bangen Frage, ob das Licht des nächsten Morgens die Casa wieder durchfluten würde.

Seufzend starrte Juliana ins Halbdunkel ihrer Kammer, bis plötzlich das Talglicht flackerte. Sie hob es an und hielt ihre Hand schützend davor. Da bemerkte sie einen matten Lichtschein, der die hintere Wand ihrer Kammer teilte. Behutsam strich sie mit der Hand über die Wand und wich überrascht zurück. Ein weiterer Geheimgang? Schon drückte sie gegen die mit weichem Brokat bezogene Wand. Sie meinte, die Stimmen lauter zu hören, drückte, bis die Wand einen Gang preisgab.

»Er wird dafür büßen, was er mir und meiner Familie angetan hat!« Nach einigen Schritten vernahm sie die Stimme ihres Vaters so laut, als stünde er unmittelbar neben ihr.

Kapitel 4

Dämonen jagten Juliana durch dunkle Gänge, in denen tiefes, unheilvolles Grollen und schmerzerstickte Schreie hallten. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Ein grelles Licht am Ende des Ganges versprach Rettung, doch es entschwand immer wieder ihrem Blick. Mit jedem Schritt entfernte sie sich mehr vom Weg der Tugend und verlor sich in lockender Süße verzehrender Leidenschaft. Juliana zerrte verzweifelt an ihrem Surcot, der an Nägeln in der Wand hängen geblieben war und sie daran hinderte, den rettenden Schein zu erreichen. Ein greller Lichtstrahl blendete sie.

»Herr im Himmel, ich werde nie wieder Unrecht tun!«, rief sie und fuhr hoch. Schweißgebadet saß sie am nächsten Morgen in ihrem Bett und begegnete dem besorgten Blick ihrer Mutter.

»Du hattest einen Albtraum, Liebes.« Dina fasste nach Julianas Hand und zog ihr den Surcot über die entblößten Schultern.

»Die Sonne ist so hell.« Juliana hielt inne. Die Fensterläden waren wieder offen!

»Die gute Maria wird nachlässig. Hast du im Surcot geschlafen?« Dina ließ prüfend ihren Blick über das ungewohnte Chaos in Julianas Kammer wandern. »Zieh dich ordentlich an und komm in mein Zimmer, dann sprechen wir über alles«, sagte sie.

»Hat Vater also endlich Vernunft angenommen«, flüsterte Juliana erleichtert. Hastig setzte sie sich auf und umarmte ihre Mutter. Sie dachte an die seltsame Unterredung der Männer, die sie belauscht hatte. Welche Verträge hatte Vater geändert und in wessen Auftrag? Er war bekannt dafür, dass alles auf den Gulden genau festgehalten wurde.

»Das Talglicht erlosch vor dem Schlafengehen mitten im Gebet.« Julianas Wangen glühten. Sie bemerkte die verräterischen roten Flecken auf dem Bettlaken. Und die Fußspuren zur Wand, wo sie die unverhoffte Tür zum Geheimgang entdeckt hatte. Gewiss gab es noch mehr in der Casa Serrati.

In ihrer Aufgewühltheit nach ihrem Ausflug hatte sie Darios Geschenk mit ins Bett genommen. Rasch rutschte sie über die schmutzige Stelle, um die Neugier ihrer Mutter nicht zu schüren, und ignorierte das unangenehme Drücken des Backsteins unter ihrem Gesäß. Kaum hatte ihre Mutter die Kammer verlassen, stürzte Juliana ans Fenster. Der vertraute Duft der Stadt waberte um ihre Nase. Frische Luft erfüllte die Kammer und schenkte ihr neue Hoffnung. Von Leichtigkeit erfüllt, drehte sie sich übermütig im Kreis, bis sie taumelnd auf das Bett zuwankte und hineinfiel. Sie konnte die Casa verlassen, war nicht länger Gefangene. Das Klopfen und Hämmern an der Piazza del Duomo, das in den letzten Minuten bis zu ihrem Fenster zu hören gewesen war, erfüllte sie mit Lebenslust.

*

Mit einem Lächeln betrat sie nach einer äußerst flüchtigen Morgentoilette Mutters Salon. Dort verzog sie enttäuscht den Mund. In der Mitte des Tisches stand eine geöffnete Holztruhe mit halb fertigen Stickereien.

Ihre Mutter ignorierte ihre Enttäuschung und wies auf den Stuhl zu ihrer Rechten. »Es wird Zeit, dich deinen Kunstfertigkeiten zu widmen. Dein Vater muss in einer dringenden Sache in die Signoria. Wir haben also den ganzen Tag Zeit zu reden und ich habe ein Auge auf die Fortschritte, die deiner Aussteuer zugutekommen.«

Juliana schluckte. Sollte sie ihre Mutter fragen, ob Antonio tatsächlich gewillt war, sie zu ehelichen? Was wollte er mit einer jungen Frau, die kein Interesse am Sticken zeigte und deren Herz längst vergeben war?

 

Von Weitem konnte man deutlich erkennen, welche Stickereien durch die geschickte Hand ihrer Mutter entstanden waren. Die kunstvoll verzierten Tücher und Deckchen machten die Casa Serrati wohnlich. Sie zeugten von der liebevollen Hand einer Frau, die es perfekt verstand, den Haushalt zu führen und ein gemütliches Heim zu gestalten. Im Gegensatz dazu die zerknüllten, halb vollendeten Tücher Julianas, die vielleicht Maria aus Sentimentalität aufbewahrte. Keinesfalls würden sie jemals einen Tisch zieren. An manchen Stellen eines vermaledeiten Tüchleins erinnerte sich Juliana sogar an die damit verbundenen Tränen. Bei Gott, sie verabscheute diese quälend langsam verrinnenden vertanen Stunden der Stickerei!

Der seltsame Traum der letzten Nacht ging ihr nicht aus dem Kopf. Schuld daran war ihr Vater. Sein Zorn trieb ihn immer tiefer ins Verderben. Er wird dafür büßen, was er mir und meiner Familie angetan hat. Dieser Satz ging ihr nicht mehr aus dem Ohr. Meinte er tatsächlich den capomaestro oder verwechselte er ihn im Zorn?

Ihre Rückkehr aus dem zufällig entdeckten Geheimgang war eine Flucht gewesen. Längst war das Talglicht in ihrer Hand erloschen, sodass sie Schritt für Schritt durch die Dunkelheit einen Weg zurück in ihre Kammer hatte finden müssen. Außer Atem und voller Angst hatte sie bis zum Morgengrauen in einer Ecke gekauert und war erst kurz vor Mutters Erscheinen mit Darios Backstein in der Hand unter die Decke geschlüpft.

Beschämt sah Juliana auf ihre Finger, während Mutter unbeirrt an ihrer Stickerei arbeitete. Nicht nur das Rot des Backsteins hatte seine Spuren hinterlassen. Staub und ein übler Geruch hingen in ihrer Nase. Der Backstein ließ sich nicht verleugnen, fürchtete sie. Er brandmarkte sie. Darum nahm sie verstohlen das größte Tuch in der Hoffnung, Mutter würde mehr auf ihre eigene Stickerei achten und nicht auf Julianas Finger. Gehorsam setzte sie sich auf den Stuhl und beobachtete die zarten Hände ihrer Mutter, die mühelos mit Nadel und Garn umgingen und Stich für Stich ein kunstvolles Muster zauberten.

»Meine Aussteuer hat keine Eile, Mutter«, sagte sie leichthin und stach mit bester Absicht die Nadel unbeholfen in den zarten Stoff. »Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben, fern dieser Stadt und überhaupt …«

Dina legte ihre Arbeit beiseite und sah ihre Tochter lächelnd an. »In meinem Herzen magst du immer mein kleiner Engel bleiben. Du bist eine junge Frau und musst deine eigenen Wege gehen.«

»Das will ich auch, doch Vater lässt mich nicht. Ich mag so gern hinaus und das Modell der cupola sehen, ohne dass Vater mich begleitet. Ich verspreche Euch, ich komme auf dem schnellsten Weg heim und sticke, bis es in ganz Florenz kein Garn mehr gibt«, beteuerte sie. »Ich schwöre bei all…« Sie brach ab, weil ihre Mutter plötzlich in Tränen ausbrach.

»Du bist wie dein Vater! Immer spielt ihr mit der Wahrheit und tut, als wäre alles in Ordnung. Die ganze Stadt hat euch verspottet?«

Juliana verstand nicht. Dann dämmerte ihr, wovon ihre Mutter sprach, und sie ließ die Stickerei jäh fallen. Was sollte sie tun? Was durfte sie sagen, ohne das seltsame Verhalten ihres Vaters zu entblößen? »Maria übertreibt. Du kennst sie ja«, erklärte sie mit gespielter Leichtigkeit. »Die Leute mussten lange warten und es hatte zu trinken gegeben.« Sie hoffte, dass ihre Mutter sich mit dieser Erklärung zufriedengab. Eilig wand sie die Stickerei in ihren Händen. »Zeigst du mir, wo ich die Fadenenden vernähen muss?« Ungewohnt wissbegierig und eifrig hielt sie ihrer Mutter das zweifelhafte Kunstwerk entgegen. In diesem Moment klopfte es an der Tür und Bernardo kündigte Besuch für die Herrin an.

Juliana, erleichtert, dem quälenden Miteinander entkommen zu sein, sprang auf. »Ich ziehe mich in meine Kammer zurück, Mutter.« Kaum hatte sie die Schwelle erreicht, blieb sie erstarrt stehen.

»Ferdinando! Ich muss mit dir reden!« Die herrische Stimme, die bis zur Galerie hinauf unüberhörbar war, gehörte ihrer zänkischen Tante Apollonia. Vaters ältere Schwester wohnte nahe dem Borgo Santi Apostoli und suchte die Familie immer dann heim, wenn diese es am wenigsten brauchen konnte.

Juliana wechselte mit ihrer Mutter einen unheilvollen Blick, dann ergaben sie sich mit vereinten Kräften ihrem Schicksal.

»Liebste Apollonia, was für eine schöne Überraschung«, begrüßte Dina ihren unerwarteten Gast mit einem so liebevollen Lächeln, dass Juliana nie eine Abneigung ihrer Mutter gegenüber der angeheirateten Schwägerin vermutet hätte.

Juliana straffte die Schultern und versuchte, es ihrer Mutter gleichzutun. »Tante Apollonia, ich freue mich über Euren Besuch.« Sie erntete nur einen abfälligen Blick.

»Ist dir die Seife ausgegangen, Dina? Wie das Kind herumläuft!« Schnaubend erreichte die füllige Witwe die Galerie und sah sich neugierig um. Das Schwarz ihrer Garderobe färbte seit Langem auf ihr Gemüt ab. Verdrossenheit und Neid beherrschten Tante Apollonias Wesen, deren Neugier sie auch heute nicht von boshaftem Spott abhielt. »Besitzt ihr keine Dienstboten mehr?« Sie zeigte vorwurfsvoll auf einen dunklen Fleck vor der Salontür.

Juliana erschrak. Sie hatte nach ihrer nächtlichen Flucht aus dem Gang vergessen, ihre Fußsohlen zu waschen.

»Gewiss, Apollonia. Sie werden dir gleich eine Erfrischung bringen nach dem weiten Weg, den du in dieser Hitze auf dich genommen hast. Warum hast du keinen Boten geschickt, um nach Ferdinando zu verlangen?«

»Vater kommt spät zurück, Tante Apollonia«, erklärte Juliana und warf ihrer Mutter einen Hilfe suchenden Blick zu.

Tante Apollonias Wangen glühten, doch Dina ließ sie zappeln.

»Wie geht es dir, liebste Apollonia? Das Wetter heute ist lähmend, findest du nicht auch?« Geschickt ließ sie ihren Fächer unter der Stickerei verschwinden, während Apollonia der Schweiß über die dicken Backen lief.

Juliana hatte verstanden. Sie öffnete kurzerhand alle Fenster im Salon, um der Hitze Einlass zu gewähren. Ihre Tante hasste die stickigen Tage des Sommers. Deshalb zog sie es vor, in Fiesole die Zeit bis Herbst zu verbringen. Lediglich der Wissensdurst über die Ereignisse der letzten Tage hatte sie von ihrer geplanten Abreise abkommen lassen.

Bevor Angelica, eine jüngere Dienerin, den kühlen Wein und feuchte Tücher servieren konnte, nahm Juliana den erfrischenden Stoff fort und stopfte ihn von ihrer Tante unbemerkt unter ihren Surcot. Angelicas Augen wurden noch größer, denn Dina bat darum, das Eingangsportal zu öffnen. So fände der Wind Einlass in die Casa. Ihre Mutter wusste, dass die träge Hitze des Tages nun durch alle Räume und den Vorhof fluten würde.

Tante Apollonia war einfältig. Und vor allem darauf bedacht, die Unvernunft ihres Bruders zu hinterfragen. »Was für ein Spektakel erzählt man sich auf den Straßen? Ferdinando soll betrunken gewesen sein? Ich schäme mich zu Tode, mich rechtfertigen zu müssen. Meine Freundinnen reden von nichts anderem mehr!«

Dina seufzte. »Ferdinando selbst ist nicht glücklich über den Verlauf dieses Tages. Es war ein heißer Tag. Sie hatten nicht darauf geachtet, genügend zu trinken.«

»Er ist notario, kein Trunkenbold. Dina, bei allem Respekt, ich befürchte, es fehlt dir an Entschlossenheit und Kraft, deine Familie zu führen.« Apollonia zeigte auf Juliana und packte sie an der Hand. »Nicht mal ein Waschweib vom Arno hat solch schmutzige Hände! Deinem Mann werfen sie Steine hinterher, und dann sperrt ihr euch ein … Seid ihr noch bei Verstand?«

Dina starrte auf Julianas Hände, dann wanderte ihr Blick hoch. »Steine? Juliana, ist das wahr?«