Die Muse von Florenz

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»Sei nicht enttäuscht, wenn du das Modell heute nicht siehst«, murmelte ihr Vater beschwichtigend. Er fasste sie bei den Schultern und schob sie als schützendes Schild vor sich her durch die Menschenmassen. »Es wäre besser gewesen, dich in der Obhut deiner Kinderfrau zu belassen. Warum nur habe ich zugestimmt?«

Viele hatten den einflussreichen notario inzwischen erkannt. Sie wichen zurück, sodass eine schmale Gasse entstand, die vor dem Seitenportal der Basilika endete. So erreichten sie den Eingang unverhofft rasch. Juliana missfiel die ungewollte Aufmerksamkeit, doch so kurz vor dem Ziel umkehren zu müssen, wäre schrecklicher, als die seltsamen Blicke der Menschen zu ertragen. An der Seite ihres Vaters stehend, focht sie innerlich einen Kampf mit sich aus. Lieber wollte sie der Menge entfliehen und unbeobachtet von Vaters Argusaugen das Modell betrachten. Nicht jeder schien ihnen freundlich gesinnt, doch es gab kein Zurück mehr. Allein, um dieser schweren Arbeit Anerkennung und dem capomaestro den verdienten Respekt zu zollen, konnte sie nicht anders. Sie musste heute in das Innere der Basilika. Der Tag, an dem sie das unbeobachtet würde tun können, lag in weiter Ferne, falls er überhaupt jemals kommen sollte.

Unter lautem Jubel wurden Weinbeutel herumgereicht. Vom einfachen Handwerker bis zum Patrizier wanderten sie, bis die Beutel ihren Vater erreichten, just bevor sie die Basilika betreten wollten.

»Trinkt, Serrati! Es ist auch Euer Verdienst, dass wir heute hier stehen und feiern!«, rief einer der Handwerker, von oben bis unten mit Schmutz und Mörtel überzogen. Die anderen Männer verloren ihre Scheu. Sie scharten sich sofort um Juliana und ihren Vater und johlten begeistert. Für einen Tag vergaßen sie, dass dieser Mann nicht ihresgleichen war, sondern aus der Zunft der Arte dei Guidici e Notari stammte. Ungeduldig warteten sie, dass er einen Schluck nahm und ihnen Lob aussprach. Einen kräftigen Zuspruch an die vielen geschundenen Hände ausrief, die unermüdlich Steine schleppten und sie kunstvoll auf dem Tambour versetzten, der bald die höchsten Geschlechtertürme der Stadt überragen würde.

»Trinkt lieber mit ihnen, Vater«, flüsterte Juliana lächelnd. Dass es diesem beredten und wortgewandten Mann die Sprache verschlug, musste sie beim Abendbrot unbedingt ihrer Mutter erzählen. Ihr Vater nickte zustimmend und führte den Weinbeutel unter dem Jubel der Arbeiter an seinen Mund. Juliana nutzte die Gelegenheit und floh durch die Porta della Mandorla ins kühle Innere der Basilika, getrieben von Ungeduld und Neugier.

Kapitel 2

Dunkelheit empfing Juliana im Inneren der prachtvollen Basilika, in deren Bauch sie sich unendlich klein fühlte. Hinter ihr drängten die Menschen ungestüm nach, so schritt sie blindlings weiter. Es dauerte einige Zeit, bis sich ihre Augen an die Düsternis im Gotteshaus gewöhnt hatten und sie das Modell im sanften Lichtschein erkannte, der durch die große Öffnung in der Decke fiel. »Der Cupolone!« Sie bekreuzigte sich ehrfürchtig und starrte durch das klaffende Loch über ihr, das in ferner Zukunft die vollendete cupola verschließen sollte. Der glänzende Marmorboden klebte vor Schmutz und Staub, doch das hielt Juliana nicht davon ab, weiter auf das Modell zuzugehen und überwältigt auf die Knie zu sinken.

Ein paar Männer abseits der staunenden Menschen stritten heftig miteinander und beachteten den Entwurf des gewaltigen Bauwerks und die Besuchermenge kaum. Ihre Stimmen überschlugen sich vor Zorn in dem Gewölbe, bis die Besucher ihre Köpfe zu ihnen drehten. Juliana war es egal. Einzig und allein dem Modell galt ihre ganze Aufmerksamkeit. Ihre Finger zitterten. Sie widerstand nicht länger der Versuchung und streckte die Hand aus, bis sie die dünnen Streben berührte. Die Augen auf das Modell gerichtet, beugte sie sich tiefer, bis sie von unten durchblickte. Wer konnte ein solches Wagnis eingehen, ohne Angst vor dem eigenen Versagen? Der immer heftiger werdende Disput störte ihre Beobachtung. Sie zischte verärgert, aber die Männer verstummten nur für einige Atemzüge. Während sie sich weiter mit Flüchen belegten, wähnte sich Juliana am höchsten Punkt der vollendeten Kuppel, meinte, den Wind in ihrem Haar zu spüren. Ihr Blick glitt über das breite Flussbett des Arno, das tosende Wasser und die sandbraunen Ufer. Die Farbe des Flusses wandelte sich in funkelnde dunkle Augen. Jemand packte sie an der Hand und riss sie hoch.

»Seid Ihr närrisch? Wollt Ihr das Modell zerstören? Das bringt Unglück!« Ein Handwerker, der offenbar das Modell bewachte, umklammerte ihre Hand. Wutschnaubend stand er vor ihr, entschlossen, sie zu bestrafen.

Entrüstet riss sie sich los und stieß dabei mit ihrer Hand gegen das Tischlein, auf dem das Modell stand. Durch den Stoß brach die Miniatur auseinander. Der größere Teil mit der gewölbten Kuppel neigte sich bedrohlich zur Seite und entblößte das Innenleben des Bauwerks. Jeden steinernen Bogen, jede hölzerne Rippe konnte sie trotz des schummrigen Lichts genau erkennen. Sie begriff, wie wagemutig das Unternehmen tatsächlich war. Dem Grätengeflecht eines Fischs gleich sollten rote Backsteine ineinander versetzt verlaufen. So wurde ein beinahe unzerstörbares Mauerwerk gebildet, das sich in der Mitte zunehmend wölbte. Und darunter? Ungläubig trat sie näher, sank wieder auf die Knie, suchte nach einem stützenden Fundament, Balken, doch da war nichts. Nichts? Vertraute Brunelleschi tatsächlich darauf, dass Gott ihm treu ergeben war? Dann verschlug es ihr den Atem. Die cupola! Schwebend. Anmutig in kühn angesetzten Bögen aus Holz und Stein geformt, von der wagemutigen Hand des capomaestro. Die Streben und Querbalken verschwammen vor ihren Augen, wurden ergänzt durch Berechnungen und unverständliche Formeln. Sie hatte diese Pläne in den Händen gehalten! Fassungslos starrte sie auf ihre Handflächen und dann auf das Modell. Warum verwahrte ihr Vater die Pläne der cupola auf seinem Pult?

Die laute Entrüstung und das Staunen der Besucher unterbrachen den Streit der Männer. Neugierig traten sie näher und klatschten Beifall, sobald sie erkannten, was geschehen war. Jäh schreckte Juliana aus ihren Gedanken hoch und blickte in die Augen des Handwerkers vor ihr. Jemand hatte ein Talglicht entzündet, um den Schaden an dem Modell näher zu betrachten. Nun erkannte sie den Handwerker. Es war jener Mann, der sie an der Baustelle für ihren Mut gelobt hatte, dem notario zu widersprechen. Erinnerte er sich an sie, an ihren einflussreichen Begleiter? Sie holte tief Luft und sah sich um. Wäre es nicht besser zu gehen, statt Gefahr zu laufen, sich mehr seines Zornes aufzuladen?

»Ist dir das Beispiel genug, Dario, dafür, dass sich dein capomaestro maßlos überschätzt?«, fragte ein Mann den Handwerker spöttisch. Juliana fiel seine außergewöhnlich tiefe Stimme auf. »Bereits die ungeschickte Hand eines Mädchens bringt die Kuppel zum Einsturz!«

Dario presste die Lippen zusammen und schwieg, während seine Gesichtsmuskeln mahlten. »Ihr werdet mit eigenen Augen sehen, was Euer Verstand nicht zu begreifen vermag. Ihr seid geblendet von Eurem Hochmut, Roberto Mazaretto.«

Juliana betrachtete die entblößten, ineinander versetzten Querstreben und Pfeiler, die sanft geschwungenen Bögen und Rippen, die über dem Tambour des Modells angebracht waren. Den Handwerker neben sich hatte sie beinahe vergessen, wenngleich sie den Schweiß schwerer Arbeit roch. Roberto Mazaretto setzte zu einer Erwiderung an, doch Juliana kam ihm zuvor. »Es bedarf einer Muse, um dieses Werk zu vollenden«, flüsterte sie und wagte nicht, sich zu bewegen. Darios Gesicht dicht an ihrem spürend, streifte sein heißer Atem ihre Wangen.

»Eine Muse, meint Ihr?« Erstaunt sah er sie an. Mit dem Abstand weniger Zoll zwischen sich und dem aufbrausenden Mann erkannte sie die Bartstoppeln in seinem schmalen Gesicht. Seine braunen Augen glühten vor Ärger. Eine Braue zog sich leicht nach oben. »Ich werde es ihm ausrichten, doch, bei Gott, ein Weib ist das Letzte, was Pippo braucht!« Er zischte verächtlich. »Raus mit euch! Alle! Geht! Kommt morgen wieder!«

Der Mann, der Dario ausgelacht hatte, nickte mit dem Kopf zum Portal, worauf seine Begleiter die Basilika verließen. Er selbst verharrte. Sein Blick glitt über Julianas Gestalt. »Von Darios Liebchen lasse ich mir nicht ins Wort fallen! Geh mir aus dem Weg, Mädchen, bevor mir eine gerechte Strafe für dich einfällt«, blaffte er.

»Darios …« Juliana verstummte. Er hielt sie wohl für eine von den Frauen, die sich für Geld auszogen. Bevor sie sich verteidigen konnte, stellte sich Dario schützend vor sie.

»Fürchtet Ihr ein unschuldiges Mädchen so, dass Ihr ihm den Mund verbieten wollt?«

Juliana holte entsetzt Luft. Was um Himmels willen veranlasste die beiden Männer, über ihren Kopf hinweg zu sprechen, ohne ihr ein Wort zuzubilligen? Warum klärte Dario den Irrtum nicht auf? Wer war dieser eingebildete Mann, der glaubte, ihr Befehle erteilen zu dürfen? Und Dario – nur allzu deutlich zeigte sich, dass er den Patrizier von schmächtigem Wuchs und dieser abscheulich tiefen Stimme hasste. Doch er ließ ihn im Glauben, sie sei eine Dirne. Im Halbdunkel erkannte sie deutlich Darios Missbilligung. Er blieb unbeirrt an ihrer Seite und wartete darauf, dass dieser ungehobelte Kerl verschwand.

»Wie man hört, habt Ihr einen neuen Förderer gewonnen. Schade, dass Ihr sein Geld ausgegeben habt …« Er nickte mit einem hämischen Lächeln in Julianas Richtung. »Und solchen leichtfertigen Männern vertraut die Opera dieses Bauwerk an.«

»Hochmut kommt vor dem Fall, Mazaretto, merkt Euch das. Solange Filippo nichts anderes sagt, habt Ihr hier nichts zu befehlen«, murmelte Dario. »Wenn Ihr jetzt die Basilika verlassen wollt.« Er deutete eine Verbeugung an und wies Roberto spöttisch den Weg. Doch Juliana entging nicht Darios verletzter Gesichtsausdruck. Dennoch verwunderte sie die Verbitterung in seiner Stimme, mit der er dem Patrizier widersprach.

 

Roberto verabschiedete sich mit einem Lächeln, als wäre nichts geschehen.

»Wer war der Mann?«

Dario hörte sie nicht. Er starrte geistesabwesend auf das Modell. »Sie glauben, ein paar Beutel mit Münzen schmälern ihr Unrecht, doch sie täuschen sich. Wir brauchen ihr schmutziges Geld nicht.« Mit wenigen Handgriffen setzte er die scheinbar zerbrochene Kuppel wieder zusammen.

Wie sanft der muskulöse Mann die Teile behandelte. Beinahe zärtlich und mit einer Anmut, die sie diesem grobschlächtigen Handwerker nicht zugetraut hätte. Dennoch!

»Ihr habt die Leute im Glauben gelassen, ich hätte das Modell zerstört, und schlimmer noch, dieser Mann denkt, ich wäre …!« Julianas Stimme brach.

»Mazaretto? Ein sonderbarer Mann. Niemand weiß, woher seine Familie stammt. Plötzlich war er da und drängte sich überall auf. Ihn musst du nicht fürchten, Kindchen.«

Kindchen? Aufgewühlt kehrte sie Dario den Rücken. Der über den marmornen Boden gleitende Surcot verschluckte Julianas hastige Schritte zum rettenden Ausgang. Sie bahnte sich einen Weg durch die enttäuschte Menge, die ihretwegen auf den nächsten Tag vertröstet worden war. Sie spürte Darios Blick und zwang sich, sich nicht umzudrehen. Niemals wollte sie diesem Mann die Genugtuung geben, gesiegt zu haben. Noch trennte sie ein Dutzend anderer Köpfe von der Begegnung mit ihrem Vater, der sicher wachsam ihre Schritte verfolgte. Neugierig würde er sie fragen, ob es ihr gefallen hatte. Zögernd blieb sie unmittelbar vor dem Ausgang stehen. So konnte sie ihrem Vater nicht gegenübertreten. Ihre Wangen brannten. Ob vor Scham oder Zorn, vermochte sie nicht zu sagen, so durcheinander war sie wegen dieses, dieses Arbeiters, der weiß Gott einen Eimer Wasser brauchte! Maria, ihre tatkräftige Kinderfrau, hätte ihn gepackt und in den Arno gezerrt, wäre sie dabei gewesen.

»Wartet.«

Sie spürte etwas in ihren Händen, doch das durch die offene Tür einfallende Sonnenlicht blendete sie. So konnte sie nicht ausmachen, was es war. Das Ding war schwer und hatte eine raue Oberfläche.

»Schließt Pippo in Eure Gebete ein. Vielleicht braucht er tatsächlich eine Muse, um seine Zweifler zu überzeugen«, murmelte Dario, dann verschwand er in der Menge.

Juliana trat ins Freie. Zu spät bemerkte sie den Patrizier, der im Schatten des Seitenportals stand und sie beobachtete. Robertos hasserfüllter Blick fiel auf den Stein, den sie unbeholfen und verwirrt umklammerte.

»Was für eine Verschwendung«, sagte er, dann wanderte sein Blick weiter zur unvollendeten Kuppel. »Jeder Gulden, der in diesen Bau wandert, ist mit Blut befleckt. Ihr macht Euch mitschuldig, wenn Ihr das nicht begreift, dummes Ding. Wärt Ihr mein Weib, ich wüsste, auf welche Weise ich Euch zur Vernunft bringe!«

*

Ein kalter Schauer lief Juliana über den Rücken. Verwirrt schaute sie auf den rötlich schimmernden Backstein in ihren Händen – ein Stein aus dem Cupolone! Neidvolle Blicke trafen sie. Hastig verbarg sie den Stein unter ihrem Arm und hielt nach ihrem Vater Ausschau. Der notario stand wenige Schritte von der Basilika entfernt und trank vor den Augen des Herrn, ohne sich zu mäßigen. Nur mühsam hielt er sich auf den Beinen und torkelte zur Freude der Handwerker, die ihm immer wieder den Beutel antrugen. Besorgt neigte sie sich über ihren Vater, der in diesem Moment auf die Knie gesunken war und nur mühsam seine Tränen zurückhielt.

»Es ist ein Fluch, glaubt mir!«

»Vater! Steht auf! Wenn jemand vom Rat Euch so sieht!« Hatten ihm gar die Arbeiter so übel mitgespielt in ihrer Trunkenheit?

»Zum Teufel mit diesem Verräter!«, schrie ihr Vater von Sinnen und schleuderte den halb leeren Beutel von sich.

Beschämt, weil der sonst so auf seinen Ruf bedachte Mann dem Wein so eifrig zugesprochen hatte und sich die gehässigen Rufe der Zuschauer mehrten, wandte sich Juliana ab. Ekel überkam sie vor dem eigenen Vater, dem der Trunk aus dem Mund quoll. Er war unfähig, auch nur ein klares Wort über die Lippen zu bringen. Warum hatte er sich in der kurzen Zeit, die sie in der Kirche gewesen war, dermaßen betrunken? Sie entriss dem Arbeiter, der ihr am nächsten stand, einen weiteren Weinbeutel. »Wie könnt ihr meinem Vater das antun?« Sie zitterte vor Zorn, hakte sich bei ihrem Vater unter und versuchte, ihn aus dem Blickfeld der hämischen Leute zu schaffen. Manche spuckten vor ihnen auf den Weg oder warfen ihnen Steine nach. Was war mit diesen Menschen los? Es sollte ein Tag der Freude, des Triumphes werden für alle Florentiner, auch für sie. Die eben empfundene Freude über Brunelleschis Modell rückte in weite Ferne. Nichts war geblieben von ihrer Aufregung, das Modell endlich gesehen zu haben. Nur die Erinnerung an eine schmerzvolle Begegnung mit zwei Männern, die sie verachteten – jeder auf seine Weise. Tränen brannten in Julianas Augen. Mehr als einmal segelte ein Stein nur knapp an ihr vorbei und sie wollte sich umdrehen, um den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Was hatte sie getan oder ihr Vater, dass sie Derartiges über sich ergehen lassen musste? Schwer atmend hing der notario an ihrem Arm und stieß unflätige Flüche aus. Sie musste ihm beistehen und fragte sich, was in den wenigen Minuten, in denen sie in der Santa Maria del Fiore das Modell bewundert hatte, geschehen war. Vom einst stolzen notario zu einem gebrochenen Mann wegen ein paar Schlucken Wein?

»Sie werden sich dafür verantworten, jeder Einzelne, nicht wahr, Vater? Niemand behandelt notario Serrati so.«

»Es ist zu spät, Kind. Ich habe in des Teufels Antlitz gesehen.«

Juliana verstand sein Gestammel kaum. Ihr Vater schwankte, gebärdete sich, als sei er ein weinerliches Kind, und wurde aufbrausend, weil sie versuchte, ihn auf den Heimweg zu bringen. Ein übler Gestank entströmte seinem Wams und seiner Hose. Endlich erreichten sie das Ende der Piazza. Juliana hob den Kopf, hoffte auf ein bekanntes Gesicht, jemanden, der ihnen half, das letzte Stück des Weges nach Hause leichter zu bewältigen. Inzwischen dämmerte ihr, dass der Gestank nicht vom Wein herrührte, sondern dass er sich beschmutzt hatte. Sie war plötzlich Mutter und musste sich um ihren sonst so starken, kämpferischen Vater kümmern, als wäre er ein Kind. Scham entflammte ihre Wangen. Was die Leute wohl über das sonderbare Vater-Tochter-Gespann dachten?

Plötzlich drückte ihr Vater sie an sich. »Ich würde alles für dich tun, alles, hörst du? Glaube ihm nichts. Nichts, was er dir erzählt, ist wahr!«, zischte er und stieß sie unsanft beiseite.

»Geh jetzt heim, lauf, Kind, bevor es zu spät ist!«

Verwirrt starrte Juliana ihren Vater an. Hatte er vollends den Verstand verloren? Er wirkte, als hätte er einen Geist gesehen. Ihr Vater bedrängte sie weiter, ihn allein zurückzulassen, und sah fieberhaft um sich. »Geh, nur zu!« Dann erstarrte er, wurde kreidebleich im Gesicht und umklammerte Julianas Hand. »Hast du das Modell gesehen, ja?«

»Geht ruhig, ich kümmere mich um Euren Mann. Gewiss bekommt ihm die Hitze nicht«, bot jemand an und griff ihrem Vater unter die Arme.

Juliana wollte sich für die diskrete Hilfe bedanken, dann erkannte sie den Mann. Zorn flammte in ihr auf. »Ihr?«

Roberto Mazarettos Lächeln glich einer Maske. Er tat, als erkenne er sie nicht, und packte ihren Vater am Oberarm, bevor dieser zu Boden stürzen konnte. »Wir sollten ihn an einen ruhigeren Ort bringen, meint Ihr nicht auch?«

Doch ihr Vater gebärdete sich wie wild, wollte sich losreißen.

»Lasst mein Weib, Ihr …«

Kapitel 3

Der Backstein war nicht besonders. Einer von unzähligen Steinen, die unweit der Stadt zu Hunderten und Aberhunderten gebrannt wurden. Dieser Stein hatte ein ungewöhnliches Zuhause gefunden. Am Boden einer Truhe in Julianas Kammer lag er. Stummer Zeuge einer Begegnung, von der ihr sonst allwissender Vater nichts ahnte. Kein Wort war beim Morgenmahl über den gestrigen Tag und den sonderbaren Mann gefallen, dem sie den Stein verdankte. In einigen Momenten, in denen sich ihr Vater unbeobachtet gewähnt hatte, war ein dunkler Schatten über ihn geglitten, den auch Mutters Fürsorge nicht vertreiben konnte. Wie hatte sie es nur geschafft, ihren Vater nach Hause zu bringen? Die überraschende Hilfe von Darios Widersacher, diesem Roberto, verunsicherte sie. Immer wieder brannte die Erinnerung an diese schrecklichen Stunden des vergangenen Tages schmerzhaft in ihr auf. Robertos schamlose Blicke hatten sie erzürnt. Fand er Gefallen an dieser peinlichen Situation, in der sie und ihr Vater gänzlich von seiner Unterstützung abhängig gewesen waren? Er hatte die stillen Seitengassen gemieden und sie damit gezwungen, sich den hämischen Blicken der Nachbarn auszusetzen. Auf der Piazza della Signoria hatte er sich besonders viel Zeit gelassen, während Juliana gebetet hatte, dass Vaters Freunde und die meisten der Ratsmitglieder sich in die kühlen Räume des Palazzo zurückgezogen hatten und von dem ungewöhnlichen Schauspiel nichts bemerkten.

»Sie haben mit Steinen nach uns geworfen, Assunita. Mit Steinen«, flüsterte sie und schmiegte sich an die Freundin. Erleichtert, sich endlich jemandem anvertrauen zu können.

Assunita strich über Julianas Kopf, küsste sie sanft auf die Stirn. »Es sind Dummköpfe. Sie geben deinem Vater, dem notario, die Schuld für die Not.« Assunita konnte niemandem böse sein. In allem und jedem sah sie Gutes. Wäre ihr Haar hell wie Flachs und nicht dunkel, hätte man glauben können, sie wäre ein Engel. Reinen Herzens und voller Verständnis.

»Von wem sprichst du?« Juliana sah verwirrt zu ihrer Freundin hoch.

»Die Arbeiter bekommen Schuldscheine, die sie später einlösen können, wenn die cupola vollendet ist. Nicht alle Patrizier unterstützen diese Idee.«

»Die Patrizier, Mitglieder des Rats meinst du?«

»Dummchen, du kennst es nicht anders. Nicht jeder kann es sich wie dein Vater leisten, eine Büste anzufertigen, die mehr kostet, wie ein eifriger Anwalt in einem einzigen Jahr verdient. Oder in einem solch prachtvollen Haus zu wohnen.«

Juliana seufzte. Warum hatte sie ihrer Freundin bloß von dieser dummen Büste erzählt, die ein Künstler aus der Dombauhütte von ihrer Mutter anfertigen sollte? Unschlüssig hob sie die Schultern und lächelte traurig. Was verstand sie von Geld oder dem, warum Vater diese Büste anfertigen ließ? Diese Büsten und Statuen wurden zu Ehren wichtiger Persönlichkeiten geschaffen, vergeblich suchte sie nach deren Sinn. Die Aufregung um Vaters Etablissement der Künste, einen großen Saal voller Skulpturen und Statuen, die außer ihm niemand sehen durfte, verstand Juliana auch nicht. Selbst die feinsten Patrizier ließ er nicht in dieses Reich. Stundenlang verweilte er darin und trug den Schlüssel dafür an einer Kette um seinen Hals.

Juliana blickte zu der dunkel gebeizten Truhe, in der sie seit Kurzem nicht nur ihre Surcots und Unterkleider aufbewahrte. »Es ist nicht Vaters Schuld, dass sie reich sind.«

Assunita schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre dunklen Locken umhersprangen. »Einen Teil dazu hat dein Vater gewiss beigetragen. Meinst du, ich würde nicht gern in einem Palazzo wie dem euren wohnen? Dummchen! Ihr habt fließendes Wasser und die Köchin fährt euer Essen durch dieses Loch …«

»Das nennt man Fahrstuhl.« Juliana schniefte verlegen. Die beiden Mädchen waren sich so nah in ihren Gedanken, dass Juliana oftmals vergaß, aus welch einfachen Verhältnissen ihre Freundin stammte. Die Tochter des hiesigen Bäckers musste zwar nicht Not leiden, doch die Casa Serrati mit ihren kunstvollen Wandmalereien und dem kostbaren Mobiliar aus aller Welt musste ihrer Freundin einem Märchen gleich erscheinen. Umso mehr freute sie sich über Julianas abgetragene Kleider, auch wenn sich kaum Gelegenheit bot, diese auszutragen. Juliana hielt inne. Durfte sich ihre Familie glücklich schätzen? Sie dachte an den schweren Tresor, den Vater streng bewachen ließ. Oft saß er nachts neben diesem Kasten und starrte auf die schweren Ketten und Schlösser. Sie seufzte leise. Niemand sah in all dem Reichtum und der prunkvollen Casa ihre Fesseln und den goldenen Käfig, der alles von ihr fernhielt, was sie so gern erleben würde.

»Juliana?«

Längst war sie mit ihren Gedanken bei der Piazza, der Basilika und den sehnigen Händen des ungehobelten Handwerkers. Darios Anblick verfolgte sie, wenn sie ihre Augen schloss, und so tat sie, als blende sie die Sonne, um nicht Assunitas Aufmerksamkeit zu wecken. Ob die Freundin verstehen würde, was ihr selbst unerklärlich war? Sie war ein Kind für den erfahrenen Mann. Gewiss hatte er ihre kurze Begegnung längst vergessen. Juliana hingegen konnte an nichts anderes denken.

 

»Zeig ihn mir. Nur ein einziges Mal, bitte!«

Das hatte Assunita mehrmals gesagt, Juliana hatte das Flehen ihrer neugierigen Freundin nicht gehört. Gedankenversunken blickte sie auf die dicken Stadtmauern, die Florenz umringten. Ihre Ungeduld wuchs, der Enge des Elternhauses für ein paar Stunden zu entfliehen. Sie brannte darauf, die Stadt zu erkunden. Vielleicht begegnete sie ihrem unverhofften Retter aus dem Duomo?

»Gehen wir zu den Stadtmauern oberhalb von San Niccolò?«, fragte sie Assunita unbedarft und tat, als interessiere sie der Backstein und dessen Überbringer nicht länger. Der Wachturm von San Niccolò lag am Ufer des Arno. Er war unzählige Ellen breit. Im Schatten der Stadtmauern konnten sie sich meist unbehelligt aufhalten. Im Dickicht der silbrig glänzenden Olivenbäume entkamen sie oft der brütenden Hitze in den engen Gassen und konnten die stickigen Kleider bis über die Knie raffen. Trotz eines Regenschauers, der zumindest in der Nacht für Abkühlung gesorgt hatte, versprach der klare Morgen einen weiteren heißen Tag. Von dem Wachturm bot sich ein unvergesslicher Ausblick über die Stadt und ihren dichten Kern, dessen Herz Santa Maria del Fiore bildete. Wie prächtig die Kuppel über der Stadt thronen würde, wenn sie fertig war. Auf dem Weg zum Wachturm würden sie unweigerlich die Piazza del Duomo überschreiten, und wer weiß, vielleicht trafen sie wahrhaftig Dario.

Juliana wandte sich fragend um. Assunita kniete bereits mit einem erwartungsvollen Lächeln vor der geöffneten Truhe. Kaum hatte Juliana zustimmend genickt, glitten die Hände ihrer Freundin unter den sorgsam gefalteten Stapel Kleider.

»Ich verstehe nicht, was es damit auf sich hat.« Assunita betrachtete den Backstein belustigt von allen Seiten, dann sah sie bestürzt auf ihre rot gefärbten Hände. »Vielleicht möchte er dich einladen, gemeinsam mit ihm die cupola zu bauen?« Kaum hatte sie das gesagt, bekreuzigte sie sich und senkte den Blick. »Verzeih. Was auch immer diesen Mann dazu bewogen haben mag.«

Juliana horchte auf. »Kennst du Dario?«

»Das ist nicht möglich. Er ist geizig und eigenbrötlerisch, aber verschwenderisch im Verteilen fremder Geldscheine.« Assunita sog überrascht die Luft ein. »Dario gab dir diesen Backstein? Niemals hätte er dir erlaubt, dich dem Modell zu nähern. Er ist gefühlskalt und rau, der Freund deines capomaestro.«

»Sein Freund, sagst du?« Juliana schüttelte ungläubig den Kopf. Auch mochte Dario vieles sein, gewiss nicht gefühlskalt. Sie lächelte verträumt. Die Leidenschaft, mit der er das Modell und sie vor Roberto beschützt hatte, verriet, dass Assunitas Behauptungen nicht zutrafen. Sie hätte nicht gewagt, sich nach dem Mann zu erkundigen, der offenbar ein Vertrauter des capomaestro war, und ausgerechnet Assunita wusste, was es mit ihm auf sich hatte? Angespannt wartete sie darauf, dass Assunita weitersprach.

Um den Mund ihrer Freundin zeichnete sich ein sanftes Lächeln ab. »Du hast keine Vorstellung! Viele Männer rühmen sich, an der Seite Brunelleschis helfen zu dürfen, die Kuppel zu bauen!« Sie genoss Julianas Ungeduld, dann lachte sie lauthals auf. »Ich habe eine Idee, allerdings musst du all deinen Mut zusammennehmen.«

»Niemals, Assunita! Ich kann Vater nicht fragen, ob er ihn kennt! Dann müsste ich ihm beichten, dass ich Dario so nah war.« Dario, nahe. Sie hielt inne. Es klang vertraut.

Sofort erntete sie furchtsame, gar bestürzte Blicke. »Juliana Serrati! Es ist hoffentlich nichts passiert, dessen du dich schämen musst, oder?«

»Was, wenn es so wäre?«, flüsterte Juliana erstickt. Ihr Herz schlug so heftig gegen die Rippen, dass es wehtat. »Assunita. Was weißt du noch über …?«

»Juliana!« Harsch erklang die Stimme ihres Vaters über die Galerie, die den Innenhof an drei Seiten umrahmte.

Beschämt blickte Juliana zur Tür, wo Maria, ihre Kinderfrau, sie rügend ansah. »Was hast du wieder angestellt?«

Hastig entriss Juliana ihrer Freundin den Backstein und legte ihn in die Truhe zurück. Ungestüm schlug sie den Deckel zu und hätte Assunita beinahe die Finger eingeklemmt. »Ich bin die Tochter meines Vaters, Maria«, gab sie leichthin zurück und warf Assunita einen besorgten Blick zu.

»Er kann dir keinen Vorwurf machen. Nicht nachdem …«, sagte Assunita.

Sich keiner und aller Schuld bewusst, wich Juliana Marias Umarmung aus und eilte über die knarrende Galerie.

»Verzeiht, Vater!«, rief sie in den Salon, wo ihr der Vater verärgert entgegensah.

»Ich dulde deine Eskapaden nicht länger, Juliana. Du bringst in meinem Arbeitszimmer die Akten durcheinander, und kaum drehe ich dir den Rücken zu, läufst du aus dem Haus.«

Verwirrt blickte Juliana ihre Mutter an. »Ich bin seit dem Morgen in meiner Kammer, Vater! Assunita ist hier.«

»Sei nicht so streng mit ihr, Ferdinando.« Dina schmiegte sich an ihren Mann und küsste ihn sanft.

Er erwiderte die Zärtlichkeiten nicht. »Es ist meine Pflicht, mich um Julianas Wohl zu sorgen.«

»Bewahrst du Juliana vor Unheil oder ist sie es, die dich beschützt? Gespottet haben sie, weil dein Kind dich heimbringen musste!«

Mit aufrechtem Rücken saß ihr Vater hinter dem mit kostbaren Schnitzereien verzierten Tisch und nickte ergeben. »Wer war dieser Mann? Ich glaube, ihn zu kennen.«

»Er heißt Roberto Ma…«

Dina unterbrach ihre Tochter. »Wie auch immer, du hast Juliana gerufen, mein Lieber. Was wolltest du denn?« Offenbar hatte auch sie bemerkt, dass seine Gedanken in eine weit entfernte Welt glitten.

Nachdem ihre Mutter ihn ermahnt hatte, sah er auf und fand in die Casa Serrati zurück. »Geh, bevor ich etwas sage, das mir leidtut. Geh mit Assunita raus. Das wolltest du fragen, nicht wahr?«

Juliana brachte ein klägliches Nicken zustande. Zu bitter schmeckte ihr Triumph, geboren auf ihres Vaters Niederlage.

»Danke, Vater, ich sage es gleich Assunita!«, presste sie hervor. Aus dem Schatten der Galerie sah sie zurück. Vaters Gesicht neigte sich verzerrt nach oben. Was quälte ihn nur, dass er die Sorge um ihr Wohlbefinden neuerdings so übertrieb?

*

Juliana seufzte. Ungeduldig blickte sie auf die Via Porta Rossa zurück, wo Assunita zögernd stehen geblieben war. »Wenn du Angst hast, das Gebet zu verpassen, dann bleib hier, Assunita.« Da Vater ihr erlaubt hatte, die Casa zu verlassen, konnte Juliana es kaum erwarten, durch die Straßen zu laufen und die Neuigkeiten, die man sich über Brunelleschi erzählte, selbst zu erfahren.

»Sie läuft dir nicht davon, diese Kuppel«, murmelte Assunita verärgert, aber ihre treue Begleiterin folgte Juliana, wie sie es immer tat.

Das vom nächtlichen Regen dunkel gefärbte Mauerwerk der Casa Serrati wirkte bedrohlicher als die Strafpredigt, die Juliana erwartete, wenn ihr Vater von ihrem wahren Ziel erfahren würde. Verträumt stellte sie sich vor, mit Dario am Arno entlang zu streifen, bis die Abendglocken mahnten, die Porta al Prato zu passieren, bevor das Tor über Nacht geschlossen wurde. Allein die Vorstellung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, dabei regierte kühlender Schatten zwischen den Zinnen der Geschlechtertürme. Bald schon würde die Hitze ihr blondes Haar kräuseln. Unwillig schüttelte sie den Kopf, weil Assunita erneut ihr Tempo verlangsamte und vor dem sechseckigen Turm der Badia stehen blieb.

»Ich kann nicht so schnell, Juliana«, jammerte sie.