Little Pearl

Text
Aus der Reihe: Little Pearl #1
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Denn Emilys Augenbrauen verschwinden unter ihrem Pony. »Er war bei dir?«

Ich nicke.

»Und warum hast du mir nie davon erzählt?«

»Weil es nicht wichtig ist.«

»So, so.« Sie tippt mit dem Zeigefinger auf den Tisch, dabei sieht sie mir geradewegs in die Augen. Ich winde mich unter ihrem durchdringenden Blick. »Magst du ihn?«

»Was?!«, kommt es wie aus der Pistole geschossen aus meinem Mund. »Ich habe mich genau zweimal mit ihm unterhalten. Und beide Male war er ziemlich abweisend.« Trotzdem muss ich immer wieder an ihn denken. Sehe ständig seine braunen Augen. Möchte seine tiefe Stimme hören. Verspüre den Wunsch, zu ihm zu gehen, ihn zu berühren, ihm durch seine dunklen Haare zu fahren.

Emilys leises Aufseufzen reißt mich aus meinem Kopfkino und holt mich zurück in die Gegenwart. »Anscheinend haben diese zwei Treffen gereicht, um dir den Kopf zu verdrehen. Wie man sieht, gefällt dir seine rüpelhafte Art. Hast du wirklich gedacht, du könntest mir was vormachen?«

»Nein«, gebe ich geschlagen zu, »aber ich möchte nicht, dass ich so fühle.«

»Wie fühlst du denn?«

»Er ist interessant«, antworte ich ausweichend.

»So, so, interessant.«

»Guck nicht so, als wäre es falsch, jemanden attraktiv zu finden.«

»Mach ich nicht. Ich bin nur überrascht. Und wenn hier jemand irgendwie guckt, dann du.«

»Wie denn?«

»Verliebt?«

Ich verdrehe die Augen. »Du hast sie doch nicht mehr alle.«

»Ach ja? Du bist verliebt, ich lese es in deinen Augen.«

»In meinen Augen liest du gar nichts, außer vielleicht, dass du einen Knall hast.«

»Findest du?«

»Auf jeden Fall.«

»Deine Augen leuchten, seit du seinen Namen erwähnt hast. Jetzt rück mal mit der Wahrheit raus.«

Ich schlucke, will die Worte nicht aussprechen, denn wenn sie einmal gesagt worden sind, kann ich sie nicht mehr zurücknehmen. Nur ist meine Zunge schneller als mein Verstand. »Ich glaube, ich habe mich verguckt.«

»Na endlich.« Emily sieht mich mit einem frechen Grinsen an. »Wer ist jetzt verrückt?«

»Ich.«

»Da gebe ich dir ausnahmsweise recht. Ich könnte dir eins auf die Birne geben. Vielleicht funktioniert dann dein Hirn wieder.«

»Ja, das könnte klappen.«

Emily wird plötzlich nachdenklich. »Okay, lassen wir mal die Frotzeleien. Erzähl.«

Ich betrachte mein Getränk. Das Kondenswasser an der Flasche läuft in feinen Rinnsalen langsam nach unten. »Er hat etwas an sich, das mich berührt.« Ich seufze. »Ich kann es nicht erklären. Voll behämmert, nicht wahr?«

Sie lacht, wird aber gleich wieder ernst. »Jetzt mal ehrlich, hast du vergessen, was man alles über ihn sagt?«

Selten, sehr selten werde ich auf meine Freundin wütend. Jetzt ist einer dieser wenigen Momente. »Seit wann hörst du auf Gerüchte?«

»Tu ich nicht, aber ...«

»Was aber? Ich versteh dich nicht. Wir sind doch beide keine die vorschnell beurteilen. Wir kennen ihn nicht. Also, was gibt uns das Recht, ihn in eine Schublade zu stecken, in die er wahrscheinlich gar nicht hineingehört?«, frage ich aufgebracht.

Erst als ich mich im Lokal umsehe, bemerke ich die ungewöhnliche Stille, und dass alle in unsere Richtung starren. Nach und nach nehmen sie ihre Gespräche wieder auf.

»Du brauchst dich nicht so aufzuregen, ich habe verstanden.« Emily nimmt einen weiteren Schluck von ihrer Coke. »Du hast recht, man sollte niemanden nach irgendwelchem Gerede beurteilen. Es ist nur so ...«, sie befeuchtet ihre Lippen mit der Zunge, »er macht mir irgendwie Angst.«

Ich atme laut aus und verziehe dabei mein Gesicht. »Glaub mir, mir auch. Nicht, weil ich denke, er könnte gewalttätig sein, sondern vor dem was sich hinter seiner harten Schale verbirgt.«

Emily sieht mich etwas skeptisch an. »Du meinst, er spielt nur den Bad Boy?«

»Vielleicht nicht bei allem«, gebe ich meine Zweifel zu. In Gerüchten steckt immer ein Funke Wahrheit. »Dennoch bin ich überzeugt, dass es ihm mehr darum geht, mit seiner unnahbaren Art die Leute von sich fernzuhalten. Wieso sollte Mr. Moore ihm sonst die Garage vermieten? Wieso hat er mir heute geholfen den Schrank auszuräumen, obwohl er ganz eindeutig keine Lust dazu hatte?«

Emily legt ihre Arme auf den Tisch und rutscht nach vorn, bis sie mir ziemlich nah ist. »Was haben deine Eltern gesagt, dass Dylan bei dir war? Oder Evan? Oder Kyle?«, bringt sie zwei meiner aufbrausenden Brüder ins Spiel.

Ich ziehe die Schultern hoch und lasse sie gleich wieder sinken. »Sie wissen es nicht.«

»Dass er bei dir war oder dass du ihn beauftragt hast?«

»Beides«, gebe ich zu.

»Uiuiui«, meint sie händeschüttelnd, als hätte sie sich verbrannt. »Da ist Ärger vorprogrammiert.«

»Sie brauchen es ja nicht zu erfahren. Insbesondere meine Brüder.« Ich zeige mit dem Finger auf sie. »Sei also ganz still. Wenn sie dich fragen, du weißt von nichts.« Mit einem imaginären Schlüssel verschließe ich meinen Mund. »Okay?«

Em bewegt den Kopf hin und her. »Das wird nicht klappen. Spätestens dann, wenn deine Mutter bemerkt, dass der Schrank nicht mehr an seinem Platz steht, wird alles auffliegen.«

»Das wird schon«, tue ich locker und setze ein Lächeln auf.

Emily lächelt mit, dabei zieht sie ihre Stirn kraus. »Hoffen wir’s.«

»Da kommt euer Essen.« Leyla trägt in jeder Hand einen Teller mit extragroßen Burgern und Pommes. »Für die Dame in grünweißer Tunika ein Fischburger.« Der erste Teller stellt sie vor Emily. »Und der Cheesburger mit viel Zwiebeln für die bezaubernde Dame in Schwarz.«

»Charmant wie immer«, entgegne ich schmunzelnd.

Kaum steht der Burger vor mir, merke ich, was für einen Hunger ich habe.

»Könntest du mir nochmals eine Cola bringen?« Emily streckt Leyla ihr leeres Glas hin.

»Aber sicher. Lasst es euch schmecken.«

»Danke«, brumme ich, weil ich bereits den Mund voll habe.

»Du machst dich ja über den Burger her, als wärst du auf Entzug«, zieht mich meine Busenfreundin auf.

»Lass mich essen, ich bin am Verhungern«, sage ich, ehe ich abermals in den Burger beiße. »Fantastisch«, stöhne ich.

Ihr Blick gleitet über mein Gesicht, dann verziehen sich ihre Mundwinkel zu einem frechen Grinsen.

»Was?«

»Ich glaube eher, du hast nach etwas ganz anderem Appetit? Dunkle Haare ...«

»Du ...« Ich schmeiße meine Serviette, an der etwas Käse klebt, nach ihr.

Emily duckt sich gerade noch rechtzeitig zur Seite. »Dunkle oder helle Augen?«

Ich rolle genervt die Augen, kann mir aber ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Da komme ich ja genau richtig. Ihr scheint es ja extrem lustig zu haben.« Pru schlüpft auf die Bank neben Emily und greift nach den Pommes. »Erzählt, was habe ich verpasst?« Sie streicht eine Strähne ihrer schwarzen Haare hinters Ohr, ehe sie abermals eine Fritte stibitzt.

»Cee hat sich verliebt.«

»Stimmt gar nicht«, sage ich, obwohl ich etwas in der Art eben noch zugegeben habe.

Emilys Augenbrauen sind nach oben gebogen. Ihr Blick heißt so viel wie: »Wem willst du jetzt noch was vormachen?«

»Wer ist es?«, möchte Pru sofort wissen.

Ich sehe zu Emily. Kaum merklich schüttle ich den Kopf und bitte sie stumm, das mit Dylan für sich zu behalten.

»Sawyer«, schießt es schon aus Emily heraus.

»Mann, Em«, seufze ich.

»Was?!« Prus blaue Augen werden riesengroß. »Sawyer? Der Sawyer? Der unnahbare, geheimnisvolle Sawyer?«

»Es ist ...«, setze ich an.

»Genau der«, unterbricht mich Emily und zwinkert mir zu, als sie Pru antwortet.

»Wie das?«, fragt Pru mit einer Pommes im Mund.

»Wie was?« Ich verdrücke den letzten Biss von meinem Burger.

»Wie kommt es, dass du dich in einen Kerl verliebst, der niemand an sich heranlässt? Der mit niemandem redet oder sich um andere schert? Er ist ein heißer Typ und wenn ich die Gelegenheit hätte, ich würde sofort mit ihm in die Kiste steigen. Aber vom bloßen ansehen kann man doch keine Gefühle entwickeln?«

»Ich habe ihn nicht bloß angesehen. Ich habe ihn in seiner Werkstatt aufgesucht und später hat er einen antiken Schrank bei mir im B&B abgeholt. So sind wir ins Gespräch gekommen. Außerdem bin ich nicht verliebt. Ich finde ihn vielleicht interessant, mehr nicht.« Langsam bin ich genervt. Ich möchte nicht mehr über Dylan reden.

»Du hast dich verguckt.«

Oh, ich könnte Em würgen. Ich funkle sie böse an, doch sie schnappt sich bloß ein Kartoffelstäbchen und kaut herzhaft drauf herum.

»Verliebt, verguckt, schlussendlich läuft doch beides aufs Gleiche raus.« Pru stützt die Ellbogen auf den Tisch und lässt den Kopf in die Hände fallen. »Und, wie ist er so?«

Es ist kein Geheimnis für mich, wie angetan Pru von Sawyer ist. Und ich kenne ihren Männerverschleiß. Auch geistert mir ihre vorherige Bemerkung, dass sie sofort mit Dylan ins Bett gehen würde, hätte sie die Chance dazu, im Kopf herum. Weshalb ich weniger Lust habe, ihr von ihm zu erzählen.

»Wie du vorhin angedeutet hast: Unzugänglich und verschlossen.« Wahnsinns braune Augen. Eine Stimme, die ein Kribbeln in meinem Körper verursacht. Arme so muskulös, dass ich jede Nacht davon träume von ihnen gehalten zu werden, seit ich in seiner Werkstatt war. »Er ist kein Typ, der gerne Konversation führt.«

»Und trotzdem denkst du ständig an ihn«, wirft Emily ein.

Jetzt bin ich wirklich kurz davor, ihr den Hals umzudrehen. »Lasst uns von etwas anderem reden. Hast du den Little-Pearl-Auftrag endlich an Land gezogen?« Emily strahlt, als ich mit in Ketchup getunkter Pommes zwischen den Finger zu ihr rübersehe. »Das heißt wohl ja?«

 

»Es war knapp, aber ja, wir haben den Job.« Emily arbeitet in einer der größten Werbeagenturen von Maryland. Sie ist eine hervorragende Marketingfachfrau und hat mir mit ihrem Wissen und ihren grandiosen Ideen schon oft bei der Reklame für das B&B geholfen. Ich bin ihr unheimlich dankbar, dass sie meine Website von Zeit zu Zeit auf Vordermann bringt. Für solche Sachen habe ich einfach keine Geduld.

»Von was quatscht ihr?«

Em sieht voller Stolz zu Pru. »Mein Team und ich planen die Werbung für das nächste Pfirsichfest.«

Jedes Jahr wird im August ein Riesenfest ausgerichtet, an dem an die tausend Touristen in unserer Kleinstadt strömen. Und jedes Mal findet unter den Agenturen ein erbitterter Wettkampf statt, wer die Werbekampagne dafür ausführen wird.

»Cool.«

Wahnsinnig begeistert hat das eben nicht geklungen. Pru wirkt eher angepisst, als dass sie sich für ihre Freundin freuen würde. Vielleicht liegt es daran, dass sie in einem Souvenirladen arbeitet, während Emily einem interessanten Beruf nachgeht und ich ein eigenes Bed and Breakfast führe. Dieses Thema sorgt immer mal wieder für Spannung.

Nur können weder Em noch ich Pru helfen. Wir haben ihr während der Highschool immer wieder zugeredet, ebenfalls aufs College zu gehen. So wie es Emily und ich geplant hatten, um später einen besseren Job zu bekommen. Oder wählen zu können und nicht jeden beliebigen Job annehmen zu müssen. Na gut, ich hatte das Glück – im Unglück -, dass ich für meine Eltern das Blue House Inn habe weiterführen können. Ich brauchte nicht nach einer Arbeitsstelle suchen, dazu ist es noch mein Traumberuf. Das war aber erst, nachdem ich mit dem College fertig war. Für mich war eine Hochschule immer schon wichtig.

Pru wollte vom College oder der Uni nichts wissen, obwohl sie die Chance dazu gehabt hätte. Lieber lebte sie in den Tag hinein. Jobbte mal da mal dort. Auch heute noch wechselt sie fast jährlich ihre Stelle. Ob sie freiwillig geht oder ob sie gehen muss, werde ich wahrscheinlich nie erfahren.

Ich habe ihr einmal angeboten, bei mir auszuhelfen, als sie gerade einen Durchhänger und keine Arbeit hatte. Es wird bei diesem einen Mal bleiben. Hundertprozentig. Denn den Augenblick, wie sie mich wie eine Furie angefaucht und mich beschuldigt hatte, ich wolle sie nur für die Drecksarbeit anstellen, werde ich nicht mehr so schnell vergessen.

»Ich bin total happy, dass ich unseren Bürgermeister von meinen Vorschlägen begeistern konnte.«

»Klar. Aber warum macht ihr Werbefuzzis so ein Ding aus dem Pfirsichfest? Was ist mit dem Badewannenrennen oder dem High-Heels-Race?«

»Die mögen für Little Pearl interessant sein, doch das Pfirsichfest geht weit über die Grenze hinaus, und deshalb viel lukrativer für uns Werbefuzzis, wie du uns so schön nennst.«

Pru grummelt irgendwas, was ich nicht verstehen kann und greift nach den Fritten.

Em verpasst Pru eins auf die Hände. »Du kannst dir selbst eine Portion bestellen. Ich habe Hunger.«

»Sei nicht so geizig.«

»Bin ich nicht, aber du hast mir schon fast die Hälfte weggefuttert.« Wenn es um ihr Essen geht, oh, da kann Emily richtig zur Bestie werden. Ständig hat sie Panik, sie könnte zu wenig bekommen. »Ruf nach Leyla.«

»Ich habe meinen Namen gehört?« Kaum hat Emily den Namen der Kellnerin ausgesprochen, steht sie neben uns.

»Was für verdammte Lauscher hast du denn?« Pru sieht mit zusammengekniffenen Augen zu Leyla.

»Ich war gerade einen Tisch hinter euch.« Es klingt, als wolle sich Leyla für ihr schnelles Auftauchen entschuldigen.

Ich rolle mit den Augen. Pru ist meine Freundin, was aber nicht bedeutet, dass ich all ihre Macken gutheiße.

»Bring mir eine Portion Pommes und ein Fanta.«

»Kommt sofort.«

Ich sehe Leyla hinterher, wie sie mit leicht verspanntem Rücken in die Küche geht.

»Was ist denn dir über die Leber gelaufen?«, frage ich Pru. »Du brauchst nicht herablassend zu sein, sie hat dir nichts getan.«

»Ich bin nicht herablassend. Leyla ist unsere Bedienung und basta.«

»Alles gut bei dir?«, erkundigt sich nun Emily, die die vergangenen Minuten stumm auf ihrem Platz gesessen hat.

Pru gibt einen genervten Seufzer von sich. »Es war ein langer Tag. Mir tun die Füße weh, und als wäre das nicht genug, nerven die Touris.«

»Aber wir sind auf sie angewiesen.« Ich denke, da kann mir niemand widersprechen.

»Ja, leider.« Pru lässt den Kopf in ihre aufgestützte Hand fallen. »Wollen wir nachher noch ins Planet? Ich muss etwas Dampf ablassen.«

Planet ist das bekannteste Pub in Little Pearl. Mindestens drei Mal die Woche spielt dort eine Band. Die meisten sind unbekannt, aber gut. Ich glaube, ich habe erst ein einziges Mal erlebt, wo ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

»Gute Idee.« Ablenkung kann nicht schaden. Wer weiß, vielleicht habe ich ja Glück und kann einen gewissen geheimnisvollen Typ für einen Abend lang vergessen. Wenn ich enormes Glück habe, sogar ganz aus meinen Gedanken streichen.

Kapitel 4

Mann, bin ich müde. Gestern ist es richtig spät geworden. Ich muss mir ständig über die Augen reiben, während ich meinen Toyota zum Supermarkt lenke. Ich hätte wohl etwas weniger tief ins Glas schauen und mich früher ins Bett legen sollen. Es steht ein riesiges Programm auf dem Plan. Zudem müssten am Nachmittag noch neue Gäste einchecken.

Glücklicherweise habe ich die liebe Mrs. Harsen, die praktisch jeden Morgen das Frühstück für die Besucher von Blue House Inn zubereitet, und die außerdem sehr flexibel ist. Wenn ich sie brauche, ist sie zur Stelle. So konnte ich heute Morgen wenigstens eine Stunde länger schlafen.

Ich renne fast durch den Laden, schnappe mir die dringendsten Sachen. Schließlich packe ich etliche Einkaufstüten in den Kofferraum. Gerade als ich den Deckel zuschlage, erregt ein Paar, das über den Platz geht, meine Aufmerksamkeit. Er hat den Arm über ihre Schulter gelegt, sie hält ihn um die Taille fest. Ein dunkelblaues Cap verdeckt sein Gesicht, dennoch erkenne ich ihn. Es gefällt mir nicht, wie sie ihn an sich drückt, als sie bei seinem Pick-up stehen bleiben. Wie sie sich streckt, um ihn auf den Mund zu küssen.

Ich habe überhaupt kein Anrecht auf ihn. Ich kenne ihn kaum, habe erst wenige Worte mit ihm gesprochen. Trotzdem möchte ich es sein, die dort steht und die Lippen auf seine senkt.

Obwohl ich mich gestern prächtig amüsiert und obendrein einen netten Kerl kennengelernt habe, so wollte Dylan trotz allem nicht aus meinem Kopf.

Jetzt sehe ich ihn mitten auf einem Parkplatz mit einer anderen herumknutschen. Warum jetzt? Warum nicht früher? Warum nicht bevor ich bei ihm in der Werkstatt war? Dann hätte mich dieser Anblick kaltgelassen. Oder? »Ja, bestimmt.« Ich nicke mit dem Kopf. »Bestimmt wäre es mir da am Arsch vorbeigegangen.«

Gott, jetzt halte ich schon Selbstgespräche und gaffe das Paar an, das es zwischen den Autos fast miteinander treibt.

Schnell schließe ich den Deckel des Kofferraums und schlüpfe hinters Steuer. Ich werfe meine Tasche auf den Beifahrersitz und setze zurück. Als ich nochmals einen Blick zu ihnen werfe, trifft mich fast der Schlag. Er hat die Augen offen und starrt mich an, während die Zunge der Schwarzhaarigen in seinem Mund steckt.

Es kratzt, als ich einen Gang höher schalte. Mein ältester Bruder würde jetzt sagen: Schönen Gruß vom Getriebe. Meine Wangen färben sich rot, ich fühle die Wärme. Ich getraue mich nicht nochmals in seine Richtung zu schauen. Vermutlich lacht er sich über meine Fahrfähigkeit kaputt. Oder er hat mich gar nicht bemerkt und ich habe mir seinen Blick nur eingebildet. Das Zweite wäre mir momentan lieber.

Ich fahre auf die Main Street und mache mich auf den Heimweg. Auf der Strecke lege ich noch einen Zwischenstopp bei meinen Eltern ein. Es ist angenehm warm, sicherlich sitzen sie draußen auf der Veranda. Sie sind die meiste Zeit irgendwo im Freien - besonders Dad.

Ihr einstöckiges Haus ist beinahe dreimal so groß wie meins. Es verfügt über so viel Platz, dass meine kleine Schwester zwischen drei Zimmern wählen könnte, wäre nicht eins zu einem Gästezimmer und eins für Dad für seine Physiostunden und Krafttrainings umfunktioniert worden.

Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, haben meine Eltern vor knapp drei Jahren verkauft. Alle waren traurig darüber, aber es hätte keinen Sinn gemacht, noch länger darin wohnen zu bleiben. Das hat irgendwann jeder verstanden.

»Cee! Cee!« Meine Schwester kommt ums Haus gelaufen. Ein riesiges Grinsen auf dem Gesicht.

»Hannah!« Ich breite die Arme aus und drücke sie an mich, sobald sie bei mir ist. Ich gebe ihr einen Kuss auf den Scheitel und fahre ihr einmal über das blonde Haar. Es hat fast die gleiche Farbe wie meins. Vielleicht eine Nuance heller. »Musst du nicht in der Schule sein?«

»Mein Englischlehrer ist krank.«

»Zu deinem Glück, nehme ich an. Nun ist mir auch klar, warum du so grinst.«

»Klar doch.« Ihre braunen Augen leuchten. »Kann ich dir helfen?«, fragt sie, als ich den Kofferraum öffne.

»Du könntest diese Tüte nehmen.« Ich reiche ihr eine der vielen Einkaufstaschen. »Halte sie unten, nicht dass sie reißt.«

Mit ebenfalls einer Tasche in der Hand gehe ich neben meiner vierzehnjährigen Schwester über eine Rampe auf die Veranda zum Hintereingang.

Hannah ist ein Spätling. Es war ein ziemlicher Schock für mich und meine Brüder, als unsere Eltern uns mit dem Baby vor Augen führten, dass sie es immer noch miteinander tun. Aber das habe ich vergessen, sobald Hannah auf der Welt war. Ich habe es genossen, mit ihr auf dem Boden zu liegen oder ihr den Schoppen zu geben, als sie noch ein Baby war. Ich habe ihr ständig die Haare geflochten, das mache ich heute noch ab und zu. Sie ist ein wahrer Sonnenschein.

»Gehen wir mal wieder zusammen ins Kino? Es läuft gerade ein lustiger Trickfilm, den ich mir unbedingt ansehen möchte.«

»Klar doch. Aber willst du denn nicht mit deinen Freundinnen hin?«

Hannah schüttelt den Kopf. »Ich möchte mit meiner coolen Schwester ausgehen. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«

»Stimmt. Und wann würdest du denn gern gehen? Ich bin mir sicher, du hast dir bereits einen Tag ausgesucht.«

Sie rümpft die Nase, auf der sie ganz viele Sommersprossen hat. Dann grinst sie. »Sonntag?«

»Gebongt. Sag mir welchen Film und ich reserviere für uns.«

»Supi«, freut sich meine Schwester. Ich bin mir sicher, sie würde klatschen, würde sie nichts in den Händen halten.

Ich lache. Wir biegen um die Ecke und kommen auf die Rückseite. »Wo sind Mom und Dad?«

»Hallo, meine Kleine.« Mein Vater kommt soeben aus dem Haus gerollt. »Was machst du denn hier?«

»Hey Dad.« Ich reiche Hannah die Tüte, ehe ich mich nach vorne beuge, um Dad einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann gehe ich vor ihm in die Knie. »Ich habe für Mom ein paar Besorgungen gemacht. Außerdem habt ihr mir gefehlt.«

»Und sehen, ob alles in Ordnung ist?«

Meine Schwester verschwindet im Hausinnern.

»Na logo.«

»Es ist alles bestens.«

»Ich sehe es.« Heute sieht Dad wirklich gut aus. Er mag sogar Witze reißen. Aber es gibt Tage, an denen er kaum ein Ton herausbringt. Es sind nicht viele, dennoch gibt es sie.

Ich lege meine Hände auf seine Beine und stütze mich darauf ab. Ich könnte ihn kneifen, er würde es nicht spüren. Vor vier Jahren war er und Evan mit dem Rennrad unterwegs, als Dad von einem Auto von der Seite erfasst wurde. Seit da hat er keine Gefühle mehr in den Beinen. Wenigstens kann er noch den Oberkörper und die Arme bewegen. Das sage ich mir fast täglich, um bei seinem Anblick nicht in Tränen auszubrechen. Er war immer so sportlich. Für ihn waren die Radtouren, sowie das morgendliche Jogging sowas wie Yoga. Er hat es gebraucht, um abzuschalten und Energie zu tanken. Jetzt kann er nur noch im Rollstuhl herumfahren.

Es wäre aber nicht mein Dad, wenn er gar keinen Sport mehr machen würde. Er hat ein ganzes Zimmer voll mit Geräten, an denen er Gewichte stemmt, um seinen Oberkörper in Form zu halten. Außerdem hat er eine Leidenschaft fürs Rollstuhlrennen entwickelt. Er macht sogar an Wettkämpfen mit.

»Kommst du gerade von deinen Übungen?«

 

Er hat ein Handtuch um den Hals, das ihn verrät. Zudem sind seine kurzen, schwarzen Haare, die immer mehr grau werden, leicht feucht.

Dad legt seine Hände auf meine und drückt sie leicht. »Ich muss trainieren, am Samstag habe ich in Annapolis einen Wettkampf.«

»Warum sagst du mir das erst jetzt? Ich muss doch sehen, dass ich mir dann freinehmen kann.«

»Du brauchst doch nicht jedes Mal mitkommen. Ich habe sowieso keine Chance gegen die anderen.«

»Nein?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Was war denn beim letzten Mal? Da wurdest du Fünfter.«

»Siehst du?«

»Hast du auch schon bemerkt, dass du bei jedem Rennen besser wirst?«, frage ich ihn, lächle ihn dabei mit schräggelegtem Kopf an.

Seine blauen Augen beginnen zu leuchten, trotzdem sehe ich die tiefen Spuren, die das Leben in sein Gesicht gezeichnet hat. »Ich gebe mir Mühe.«

»Würden wir etwas anderes von ihm erwarten?« Mom betritt die Veranda und zwinkert mir amüsiert zu.

»Natürlich nicht«, antworte ich. »Hey, Mom.«

Sie drückt kurz Dads Schulter, ehe sie zu mir kommt.

Ich erhebe mich und lasse mich von Mom in die Arme ziehen. Wir sind praktisch gleich groß.

»Hey, Kleines, du siehst müde aus.«

»Ich war gestern wohl ein wenig zu lange unterwegs.«

»So, so.« Mom streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr, dabei lächelt sie mich liebevoll an. »Danke, dass du für mich den Einkauf erledigt hast.«

»Gern geschehen. Dad hat mir soeben gesagt, dass er am Samstag einen Wettkampf hat. Wann fährt ihr los?«

»Du brauchst wirklich nicht mitkommen«, wirft Dad ein.

Mom tätschelt Dads Schulter. Ihre braunen Augen strahlen ihn voller Liebe an. »Du kennst doch unsere Tochter?« Sie wendet sich an mich. »Um sechs.«

»Gut, dann werde ich sehen, ob mir Everly aushelfen kann. Wir sehen uns also spätestens am Samstag wieder. Jetzt muss ich los. Es kommen bald neue Gäste und ich habe noch irre viel zu tun.«

»Sagst du mir, wenn du meine Hilfe brauchst?«, fragt mich Mom, während sie ihre langen dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückbindet.

»Klar doch.«

Vor drei Jahren hat sie mir die Führung des Blue House Inns übergeben, weil ihr das B&B und die Sorge um Dad zu viel wurden. Doch wenn Not am Mann ist, kann ich auf sie zählen. Und ich weiß, dass mein Dad mir ebenso gerne behilflich wäre, nur es leider nicht kann, was, wie ich eben sehe, ihm immer wieder von Neuem zusetzt. Er sieht betrübt zu Boden, als ich mich abermals vor ihn kniee.

»Du wirst am Samstag unter den ersten drei sein. Das fühle ich.« Umso stärker er in den Wettkämpfen wird, umso besser kann er mit seinem Schicksal umgehen.

»Danke.« Seine Mundwinkel zucken.

Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich mich auch bei Mom verabschiede. »Bis bald.« Ich wende mich ab. Noch bevor ich um die Ecke bin, drehe ich mich nochmals um. »Sagt Hannah Bescheid, dass ich sie am Sonntag abholen komme«, rufe ich während ich rückwärtsgehe. Dann winke ich und laufe zu meinem Auto.

Ich hebe den Kopf, als ich einen tiefen Motor höre, der sich dem Haus meiner Eltern nähert. Ein schwarzer Pick-up fährt die Straße entlang. Auf meiner Höhe wendet der Fahrer seinen Kopf in meine Richtung. Ich schnappe hörbar nach Luft und mein Herz macht kleine Hüpfer, sowie sich unsere Blicke treffen. Gott, Dylan sieht so unverschämt gut aus. Freudig stelle ich fest, dass der Platz neben ihm leer ist und er alleine unterwegs sein muss. Ich lächle, doch das bemerkt er nicht, denn er ist schon an mir vorbei und ich sehe bloß noch, wie er um die nächste Kurve biegt.

Ich verdrehe die Augen und schüttle den Kopf, weil ich auf jemanden, den ich im Grunde genommen nicht kenne, wie ein verknallter Teenie reagiere. Und weil sich meine Libido nach jemandem sehnt, der mir keine große Beachtung schenkt.

Verstohlen sehe ich zum Haus meiner Eltern. Hoffentlich hat mich von ihnen niemand beobachtet, wie ich einem Bad Boy, der ständig für skandalöse Gerüchte sorgt, hinterhergegeifert habe.

Mit einer Sehnsucht in der Brust, die ich nicht beschreiben und deren Ursache ich nicht nachgehen will, fahre ich ins Bed and Breakfast, wo mich Everly Harsen bereits sehnsüchtig erwartet.

»Tut mir leid, dass ich heute so lange gebraucht habe«, begrüße ich meine gute Fee, sobald ich aus dem Auto gestiegen bin und zum Kofferraum gehe.

»Hör auf, dich jedes Mal zu entschuldigen, wenn ich für dich einspringen soll.« Sie kommt zum mir und langt ins Auto, um sich zwei Tüten zu schnappen.

Everly Harsen ist fünf Jahre jünger als meine Mom, aber manchmal denke ich, sie ist kaum älter als ich. Sie ist unheimlich jung geblieben. Fit wie ein Turnschuh. Aber wenn ich die Erlaubnis hätte, würde ich ihr mal eine andere Frisur verpassen. Ständig trägt sie ihre blondgefärbten Haare in einem Dutt und hat eine goldene Retrobrille auf der Nase, was sie wie eine Oma aussehen lässt.

»Haben die Franklins schon ausgecheckt?«

»Vor zwanzig Minuten. Sie hatten gehofft, dich nochmals zu sehen, ehe sie abreisen würden, weil sie im Herbst wiederkommen wollen. Ich habe dir in der Küche einen Zettel hinterlassen, auf dem du alle nötigen Daten findest.«

»Wow.« Das ist das beste Kompliment das man kriegen kann, wenn die Gäste zurückkommen. Ich grinse vor Freude.

Everly nickt wissend mit dem Kopf, wobei sie ebenso lächelt wie ich. »Jetzt lass uns die Tüten hineinbringen. Was hast du denn wieder alles eingekauft?«, fragt sie mit großen grünblauen Augen, als sie beladen durch den Hintereingang in die Küche geht.

Ich folge ihr - ebenfalls voll bepackt. »Das was du mir auf die Einkaufsliste geschrieben hast.«

»Ja, ja«, sagt sie mit einem Lächeln in der Stimme. Everly stellt die Sachen neben das Kochfeld auf den langen, hellen Holztresen und beginnt sie auszupacken.

»Du kannst ruhig gehen. Das schaffe ich jetzt auch allein.«

Sie rückt sich ihre Brille zurecht. »Sicher?«

»Du hast bereits genug getan. Wir sehen uns morgen.« Ich gehe zum Tisch, der gegenüber des Tresens steht und lege die Tüten ab.

»Zum Frühstück?«

»Soll das eine Anspielung sein, Mrs. Harsen?« Ich drehe mich zu ihr und kneife die Augen zusammen.

Sie hebt die Hände in die Höhe. »Nein, worauf auch?«, zieht sie mich auf.

»Ich habe verstanden. Heute werde ich nicht wieder so lange ausgehen.« Als ich ein Gähnen unterdrücken muss, korrigiere ich mich. »Heute werde ich definitiv zu Hause bleiben und früh ins Bett gehen, damit ich Morgen pünktlich bin.«

»Gut so, Mädchen.« Everly tätschelt mir lachend die Hand. »Bis morgen dann.«

»Grüß Sean von mir.«

»Mach ich.«

Nachdem meine Hilfskraft verschwunden ist, räume ich die Tüten weg und mache mich dann an die Zimmer und an die Wäsche. Als alle Räume wieder präsentabel sind und die eine Wäsche aufgehängt ist, bereite ich mir eine Schüssel Salat zu. Mit meinem Mittagessen lasse ich mich hinter dem Haus auf eine Bank sinken und genieße die Sonne auf dem Gesicht.

Ich habe kaum einen Bissen genommen, da klingelt mein Handy. Etwas verärgert, weil ich in meiner Pause gestört werde, greife ich in meine hintere Hosentasche. Da ich für meine Freunde und meine Familie einen eigenen Klingelton habe, weiß ich, dass es jemand Fremdes sein muss. Kurz überlege ich mir, ob ich es einfach weiterläuten lassen soll. Jeder hat ein Anrecht auf einen Moment Ruhe. Doch dann überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Ich will nicht riskieren, dass ich es mir mit einem Gast verspiele. Sobald ich das Telefon in der Hand halte, drücke ich auf den grünen Knopf, ohne vorher auf das Display geguckt zu haben.

Ich lasse mein Essen stehen und gehe ins Haus, während ich den Anrufer begrüße. »Blue House Inn, Cécile am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Bin ich richtig beim B&B der Johnsons aus Little Pearl?«, fragt mich eine eher junge Frau, wie ich sie nach ihrer Stimme einschätze.

»Ja, das sind sie.«

»Mir hat Sie ein Freund empfohlen. Er war letzten Sommer bei Ihnen und hat mir seit da immer wieder von Ihrem Kaff vorgeschwärmt.«

Dass sie Little Pearl als Kaff bezeichnet, nervt mich ein wenig. Aber ich halte lieber den Mund, nicht, dass ich noch etwas sage, was ich nachher bereuen würde. Stattdessen antworte ich: »Das freut mich.«