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Madlen Schaffhauser

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1.

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3.

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18.

19.

20.

21.

Danksagung

Über die Autorin

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Leseprobe Tödliches Verlangen

Impressum neobooks

Zu diesem Buch

Ich hätte den Fall abgeben sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte, aber der anziehende und mächtige Millionär Oliver Falk, Sohn meiner krebskranken Klientin, zieht mich sofort in seinen Bann. Das anfänglich leise Knistern zwischen uns lodert bald in einem heißen Feuer und wir vergessen uns in wilder Leidenschaft.

Dank ihm beginne ich wieder zu leben und wie mir scheint, verhält es sich bei Oliver gleich, bis es zu einem verhängnisvollen Treffen kommt. Bei jener Begegnung erfährt er, dass ich über seine schreckliche Vergangenheit, die er stets von mir fernhielt, schon längst Bescheid weiß.

Wird mein Verrat alles was wir haben zerstören? Unser gemeinsames Glück, unsere Zukunft, unsere Liebe?

Widmung

Für Celine und Dustin, die mein Leben bereichert haben und es auf Trab halten.

1.

Ich sitze in meinem Büro und lege die restlichen Blätter meines letzten Falles in die Akte. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schliesse ich den Ordner und streiche mit den Händen über den Ordnerrücken, als ich ihn hoch hebe und ihn ins gegenüberliegende Regal stelle.

Nach wochenlanger und intensiver Suche konnte ich endlich zwei Geschwister wieder zueinander führen, die sich vor über dreissig Jahren aus den Augen verloren haben.

Es war keine einfache Aufgabe Erich ausfindig zu machen und aus diesem Grund bin ich um so stolzer auf mich, dass ich es geschafft habe Luisa, die mich engagiert hat, und ihren Bruder wieder zu vereinen.

Ich sehe die tränenreiche Begegnung noch ganz deutlich vor mir. Wie sie sich ungläubig in die Arme genommen haben und es nicht wahr haben wollten, dass dieses Zusammentreffen doch tatsächlich geschieht.

Dieses Gefühl, das ich gestern erfahren durfte, hat mich abermals in meinem Tun bestärkt und mir bewiesen, dass ich genau den richtigen Beruf ausübe und mir offen gezeigt, dass ich nicht aufgeben darf, auch wenn der Weg noch so schwierig und steinig zu sein scheint.

Ich setzte mich wieder hinter meinen Schreibtisch und starte meinen Laptop auf. Gerade als ich das Mailprogramm öffnen und die ungelesen E-Mails durchsehen möchte, klopft es an meiner Tür, woraufhin Tina, meine Schwester, die die rechte Hand in meinem Büro für Personensuche bildet, zaghaft ihren Kopf durch den Spalt steckt.

„Ich weiss du wolltest heute nicht mehr gestört werden, aber da draussen steht eine Frau, die mich angefleht hat, dich für wenige Minuten sprechen zu dürfen. Sie sieht so mitleiderregend aus, dass ich es einfach nicht über mich gebracht habe, sie wieder wegzuschicken.“

Ich habe gehofft, dass ich heute etwas administrative Arbeit erledigen kann, wie das beantworten von Mails, die schon lange auf eine Antwort warten oder den grossen Stapel Post durchzugehen, der auf meinem Schreibtisch liegt.

Einen Blick auf den Bildschirm meines Computers und wieder zurück zu meiner Schwester, wird mir die Entscheidung leicht gemacht.

„Biete ihr einen Kaffee oder sonst was an. Ich komme gleich nach.“

Tina lächelt mich kurz an, bevor sie die Tür hinter sich zuzieht und ich leise Stimmen von nebenan höre.

Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder meinem Laptop zu und gehe die obersten ungelesenen E-Mails durch, die ich in den letzten Tagen erhalten habe. Die meisten sind irgendwelche Werbungen, die ich sofort lösche ohne sie zu lesen.

Die Nächste, die ich öffne, erhält ein herzliches Dankesschreiben. Die Absenderin beteuert darin ein weiteres Mal, dass sie unendlich froh darüber sei, dass sie auf mich zugekommen ist und mich um meine Hilfe gebeten hat. Endlich kann sie wieder ihre Schwester in die Arme nehmen und mit ihr über verloren geglaubte Zeiten reden und lachen.

Bei dieser hinreissenden Nachricht kommen mir beinahe die Tränen, die mich an mein eigenes Schicksal erinnern.

Nach einigen Minuten erhebe ich mich aus meinem Bürostuhl und gehe in den vorderen Bereich der Geschäftsräume und wo sich der Empfangstresen befindet. Meine Schwester nickt mir zu und deutet Richtung Warteraum, der durch eine milchige Schiebetür von Tinas Arbeitsplatz abgetrennt ist.

„Sie ist schon ganz ungeduldig.“

„Wie ist ihr Name?“

„Das wollte sie mir nicht sagen. Ausserdem erscheint sie mir äusserst nervös zu sein. Aber sie wirkt sehr entschlossen.“

„Dann werde ich mal sehen, was ich für sie tun kann.“ Ich klopfe kurz auf den Tresen, ehe ich auf die undurchsichtige Tür zugehe. Noch bevor ich diese öffne, bringe ich kurz mein Äusseres in Ordnung und trete ein.

Sie sitzt auf einem der vier roten Stühle, die in einer Reihe an der Wand entlang stehen. In ihren Händen hält sie eine Frauenzeitschrift, ohne jedoch darin zu blättern. Ihr Blick ist starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, an der ein Bild hängt, auf dem zwei Mädchen Hand in Hand durch ein Blumenbeet gehen, weg von den Betrachtern und in den Sonnenuntergang spazieren.

Kaum hat sie mich bemerkt, dreht sie ihr Gesicht zu mir und steht sofort auf. Das Magazin hält sie weiterhin fest umklammert in ihren Händen.

Ich strecke ihr die Hand hin und nenne meinen Namen.

„Ich weiss wer sie sind, Frau Rapone. Ich habe schon vieles über sie gelesen und hoffe, dass sie ihrem Ruf gerecht werden.“ Die Frau mit leicht ergrautem Haar sieht mich eindringlich an, als sie meine Hand ergreift.

„Und mit wem habe ich die Ehre?“ frage ich sie, als sie sich mir noch immer nicht vorgestellt hat.

„Kyssen. Emma Kyssen.“ Sie macht eine kurze Pause. Dabei kann ich deutlich sehen, wie sie nach Luft schnappt. „Es tut mir leid. Normalerweise bin ich nicht so abweisend. Aber ich bin ziemlich angespannt.“

„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Gehen wir doch in mein Büro und unterhalten uns da weiter darüber, warum Sie mich aufgesucht haben.“

Sie folgt mir aus dem Warteraum heraus und als wir an Tina vorbeigehen, bitte ich meine Schwester uns eine kleine Erfrischung zu bringen.

Nachdem ich die Tür von meinem Arbeitsraum geschlossen und gewartet habe bis die Frau auf der anderen Seite von meinem Schreibtisch Platz genommen hat, beginne ich sie über ihr Anliegen auszufragen.

„Also Frau Kyssen, was hat sie zu mir gebracht? Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Es geht um meinen Sohn.“ Sie verstummt einen Augenblick und senkt ihren Kopf, bevor sie zitternd weiterfährt. „Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich hier sitze und sie engagieren möchte mir zu helfen, meinen Ian zu finden und ihn zu mir zurückzubringen. Wahrscheinlich bringt es sowieso nichts.“

„Warum denken Sie, dass es nichts bringt?“

„Das sagt mir mein Gefühl.“

„Seit wann haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“ frage ich sie, ohne auf ihre Zweifel einzugehen.

 

„Über zwanzig Jahre. Genauer gesagt, heute in drei Wochen sind es einundzwanzig Jahre.“

Ich nehme einen Stift in die Hand und mache mir Notizen, bevor ich ihr weitere Fragen stelle. „Sie hatten demnach kein einziges Mal Kontakt zu ihm?“

„Nein, hatte ich nicht. Aber ich bereue jeden Tag aufs Neue, dass ich ihn weggegeben habe.“

„Warum haben Sie ihn weggegeben?“ Ich sehe ihr direkt in die Augen und warte gespannt auf ihre Antwort. Sie hält meinem Blick einige Sekunden stand, ehe sie abermals ihren Kopf senkt, nervös ihre Finger knetet und mit leiser Stimme auf meine Frage reagiert.

„Als mein Mann seine Arbeit verloren hat und leider auch nichts mehr fand, weil er sich im Alkohol verloren hat, war ich gezwungen Ian wegzugeben, da ich ihm ein besseres Leben wünschte. Obwohl es mich innerlich zerriss, wusste ich, dass es das Beste war, was ich machen konnte.“

„Was ist mit Ihrem Mann?“

„Er ist vor zehn Jahren gestorben.“

„Hat er auch darunter gelitten, dass Sie ihren Sohn weggegeben haben?“

„Nicht so sehr wie ich.“

„Ist Ian ein Einzelkind?“

„Ja. Wir wollten mehr Kinder, aber es war uns nicht vergönnt, noch ein weiteres zu bekommen. Im Nachhinein kann ich von Glück reden, dass ich kein zweites Mal schwanger wurde.“

Es klopft an der Tür, wodurch ich mir mit der nächsten Frage Zeit lasse, bis Tina unsere Getränke auf dem Tisch abgestellt und den Raum wieder verlassen hat.

„Wo haben Sie Ian hingegeben?“

„In eine Pflegefamilie.“ kommt die knappe Antwort. „Aber da blieb er nicht lange.“

„Warum?“

„Ich muss zugeben, dass Ian ein etwas schwieriges Kind war und anscheinend kam seine neue Familie nicht mit ihm zurecht.“

„Kam er zu einer anderen Familie?“

„Nein.“

Ich erkenne Ihren Kampf. Der Selbstzweifel, der sie zu zerbrechen droht, ist deutlich in ihre Augen geschrieben. Ich bleibe ruhig sitzen und gebe ihr die nötige Zeit, um sich wieder sammeln zu können.

In den fünf Jahren seit ich meinen Personensuchdienst anbiete, habe ich schon ziemlich früh gelernt, wann ich schweigen und abwarten soll. Und genau jetzt ist so ein Moment, in dem es ratsam ist die Kundin nicht zu drängen.

Nach einem kurzen Augenblick hat sie sich wieder gefangen. „Nach der Pflegefamilie kam Ian in das Kinderheim Alt St. Johann.“

„Wann war das?“

„Kurz vor Weihnachten.“

„Im selben Jahr, als Sie ihn weggegeben haben?“ frage ich sie etwas verdutzt, ohne jedoch meine Verwunderung anmerken zu lassen.

„Ja.“

„Haben Sie ihn besucht?“

„Ich habe es versucht. Aber er hatte sich geweigert, mich zu sehen.“

„Ich nehme an, das war nicht seine letzte Station?“

„Nein, das war es nicht.“

„Wie lange war er dort?“

„Ich habe keine Ahnung. Kurz nachdem Ian ins Kinderheim kam, hat er jeglichen Kontakt zu uns abgebrochen. Er hat alles unternommen, um mich und meinen Mann aus seinem Leben streichen zu können.“

„Können Sie ihm das verübeln?“

„Nicht wirklich. Und trotzdem schmerzt es zutiefst.“

Ich reiche ihr ein Taschentuch, was sie dankbar entgegen nimmt. Sie wischt über ihre tränenfeuchten Augen und zerknüllt es anschliessend in der Hand.

„Demnach wissen Sie auch nicht, in welches Heim er danach kam?“

„Hier endet leider mein Wissen darüber, wie es meinem Sohn geht oder wo er lebt. Deshalb habe ich auch Sie aufgesucht.“

Nachdem mir Frau Kyssen noch einiges über sich und ihre Familie erzählt hat, während ich mir jedes nützliche Detail aufgeschrieben und ich eine neue Kundin erhalten habe, nähern wir uns dem Ende unserer Besprechung.

„Aus welchem Grund haben Sie mich ausgewählt? Schliesslich haben Sie einen längeren Weg auf sich genommen, um mich aufzusuchen. Es gibt bestimmt noch andere Personensuchbüros, die näher bei Ihrem Wohnort liegen.“

„Ich weiss, dass Sie Ihre Arbeit hervorragend machen und ich vertraue Ihnen.“

Auch wenn ich sie für aufrichtig halte, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mir etwas Wesentliches verschweigt.

„Eine Frage hätte ich allerdings noch.“ wende ich mich an meine Auftraggeberin, als sie bereits die Tür erreicht hat und nach dem Griff tastet. „Was hat Sie dazu veranlasst, nach so vielen Jahren nach ihrem Sohn zu suchen? Warum haben Sie solange gewartet?“

„Ich habe mir immer eingeredet, dass es Ians Wunsch sei, mich nie mehr zu sehen. Diesen Wunsch wollte ich ihm erfüllen. Wenigstens einen.“

„Und warum suchen Sie trotzdem nach ihm?“

Die ältere Frau atmet einmal tief ein, bevor sie sich wieder ganz zu mir dreht. „Mir war klar, dass Sie das fragen werden und doch fällt es mir schwer darüber zu sprechen.“

„Wenn Sie wollen, dass ich meine Arbeit gut mache, müssen Sie offen und ehrlich zu mir sein.“

„Ich habe eine unheilbare Krankheit.“ platzt es aus ihr heraus.

„Verraten Sie mir welche?“

„Ich habe Krebs. Leider wurde er viel zu spät entdeckt, so dass die Ärzte im Grunde genommen nichts mehr für mich tun können. Sie wollten mich zu einer Chemotherapie überreden. Ich würde zwar noch etwas länger leben, aber was bringt mir das, da ich schlussendlich doch keine Chance mehr gegen meine Krankheit habe? Ich möchte die mir noch verbleibende Zeit geniessen und nicht ständig von einem Arzttermin zum anderen springen. Wenn ich nur schon daran denke, was diese Therapie mit dem Körper anstellt, wird mir ganz unbehaglich.“ Sie sieht mich über den Schreibtisch hinweg an. „Nein. Der Krebs hat mich besiegt. Das habe ich akzeptiert. Aber mein grösster Wunsch ist, dass ich noch einmal meinen Sohn sehen kann und er mir verzeiht, was ich ihm angetan habe.“

„Es tut mir leid.“

Frau Kyssen zuckt kurz mit den Schultern, bevor sie entgegnet. „Wahrscheinlich habe ich es nicht anders verdient.“

„Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich etwas herausgefunden habe.“

„Danke.“

Ich begleite Sie aus dem Büro und sehe ihr nach, wie sie mit einem aufrechten Gang auf dem Bürgersteig die Strasse entlang geht, zu ihrem Auto das sie nur wenige Meter entfernt geparkt hat. Obwohl sie mehrere Schicksale ertragen musste und weitere einstecken muss, lässt sie sich nicht unterkriegen, wie mir in diesem Moment bewusst wird.

„Hast du einen neuen Auftrag?“ ertönt Tinas Stimme und reisst mich aus meinen Überlegungen.

„Sie sucht Ihren Sohn.“

„Das müsste kein Problem für dich sein, oder?“ meine Schwester lächelt mich zuversichtlich an.

„Das wird sich herausstellen.“

„Ach ja, bevor ich es vergesse. Herr Kampmann hat vorhin angerufen. Er hat deine Nachricht erhalten und einem Treffen mit seiner Nichte zugesagt.“

„Das sind ja gute Neuigkeiten.“ Ich kann meine Freude kaum verbergen und sehe meine Schwester mit einem strahlenden Lächeln an.

„Soll ich mich um einen Treffpunkt für die beiden kümmern?“

„Ja, gerne.“

2.

Vor bereits zwei Wochen kam Frau Kyssen in mein Büro, um sich meine Dienste zu sichern. Nur leider bin ich mit meinen Nachforschungen nicht weit gekommen. Weder Tina noch ich haben eine Spur von diesem Ian Kyssen verfolgen können.

Nachdem er in drei verschiedenen Erziehungsanstalten war, die in der ganzen Ostschweiz verstreut sind, in ein weiteres Kinderheim im Kanton Luzern kam, in dem er anscheinend mit fünfzehn aufgenommen wurde, verlieren wir seinen Weg. Und obwohl mir sein letzter Aufenthaltsort bekannt ist, kennt niemand von den Angestellten im Kinderheim Schorenstein einen Ian Kyssen. Auch auf den Listen der eingetragenen Kinder wurde kein solcher Name gefunden.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ian nicht gefunden werden möchte und eine falsche Fährte gelegt hat, um solche wie mich, die nach ihm suchen, zu verwirren. Entweder wurde absichtlich ein falsches Heim angegeben oder aber er hat seinen Namen geändert. Aber an dem Tag, an dem Ian im Schorenstein hätte aufgenommen werden sollen, kam kein einziger Neuling in das besagte Kinderheim.

Weder das Suchen auf Facebook oder Twitter, als auch alles googeln, half uns nicht weiter. Erneut gehe ich alle Informationen durch, die ich über diesen Jungen, der bald seinen dreissigsten Geburtstag feiert, gesammelt habe ohne etwas Neues zu entdecken.

Ich stemme den Kopf in meine Hände und überlege angestrengt, was ich weiter unternehmen könnte, um den Sohn von Emma Kyssen aufzuspüren. Bin ich vielleicht an dem Punkt angelangt, wo ich die Suche beenden sollte? Ian möchte nicht gefunden werden, daran zweifle ich nicht mehr. Aber wenn ich an den Gesichtsausdruck und an die verzweifelten Augen seiner Mutter denke, kann ich nicht einfach aufgeben und alles in den Aktenordner legen, ohne doch noch alles in meiner Macht stehende unternommen zu haben, um meiner Kundin zu helfen.

Ein Klopfen unterbricht meine verzweifelten Gedanken. Ich hebe den Kopf und erkenne Tina in der Tür, die ein gewinnendes Lächeln auf dem Gesicht trägt.

„Du hast einen Gast.“ verkündet sie mir fröhlich. „Hast du Zeit?“

„Wer ist es denn?“ Hoffentlich nicht Frau Kyssen, füge ich im Stillen hinzu.

„Herr Kampmann möchte dich sehen.“

„Ich komme gleich.“

Nachdem meine Schwester das Büro verlassen hat, erhebe ich mich aus meinem Stuhl, streife meinen Rock glatt und werfe einen Blick in den Handspiegel, den ich aus der obersten Schublade genommen habe und fahre mit meinen Fingern kurz durch die Haare, die während meinem quälendem Grübeln etwas durcheinander geraten sind.

Schon wenige Sekunden später stehe ich vor meinem ehemaligen Kunden und strecke ihm meine Hand entgegen.

„Guten Tag Herr Kampmann. Schön Sie zu sehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits.“

„Wollen wir in mein Büro gehen?“

„Gerne.“

Wir gehen nebeneinander in mein Arbeitszimmer.

„Nehmen Sie bitte Platz.“ und deute auf den runden Holztisch, der in der linken Ecke meines Büros steht. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee, Wasser, Orangensaft?“

„Kaffee klingt gut.“

Ich mache einen Schritt in den Flur heraus und bitte Tina um zwei Kaffees. Danach setze ich mich Herr Kampmann gegenüber hin und noch bevor ich ihn fragen kann, was seinen Besuch zu bedeuten hat, kommt er mir zuvor.

„Ich möchte mich persönlich recht herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir geholfen haben, meine Nichte zu finden und dass Sie sie dazu gebracht haben, mich zu treffen. Susi und ich sind nachher zum Mittagessen verabredet. Das wird bereits unser drittes Beisammensein.“ Die Augen des etwas älteren Mannes leuchten vor Glückseligkeit auf, als er von seiner Nichte spricht und mir von seinen ersten beiden Treffen berichtet.

„Es freut mich, dass Sie zueinander gefunden haben.“

„Das verdanke ich nur Ihnen.“

„Es gibt nichts schöneres, als jemandem wie Ihnen helfen zu können.“

„Dann möchte ich Sie mal nicht länger aufhalten. Sie haben doch bestimmt allerhand zu tun.“

Wir erheben uns aus den Stühlen und gehe zur Tür. Noch im selben Moment, als ich ihm die Hand zum Abschied entgegenstrecke, kommt mir eine Idee.

„Da fällt mir gerade etwas ein, Herr Kampmann. Sie waren doch Institutionsleiter in einem Kinderheim?“

„Ja, das war ich. Aber das ist mittlerweile schon einige Jahre her.“

„Welches Heim war es schon wieder?“

„Im Finkenheim.“

„Das war im Kanton Luzern, nicht wahr?“

„Ja, warum fragen Sie mich das?“ verwirrt blickt er mich an.

„Na ja. Ich bin gerade an einem Fall, bei dem sich alle Spuren im Sand verlieren.“

„Dann möchte diese Person nicht gefunden werden und Sie sollten es dabei belassen.“

„Da haben Sie ganz bestimmt recht. Aber wenn Sie seine Mutter gesehen hätten, würden selbst Sie versuchen ihn zu finden. Denken Sie doch nur mal über Ihre eigene Geschichte nach?“

Einen kurzen Augenblick herrscht absolute Stille. Und als er beginnt zu sprechen, weiss ich, dass er einen Entschluss gefasst hat.

„Was möchten Sie wissen?“

„Setzten wir uns doch wieder hin.“ Ich weise auf die Stühle neben uns. „Möchten Sie noch einen Kaffee oder etwas anderes?“

„Wasser ist gut.“

Nachdem ich zwei Gläser mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt habe, hole ich meinen Notizblock und nehme auf meinem Stuhl Platz. „Hatten Sie Kontakt zu anderen Kinderheimen?“

 

„Ja. Der fast tägliche Austausch war unvermeidlich. Schwebt Ihnen ein bestimmtes vor?“

Ich erzähle dem ehemaligen Institutionsleiter von der Suche nach Ian Kyssen. Aber ich verrate ihm nur so viel, wie er auch wirklich wissen muss, um mir helfen zu können. Der gesundheitliche Zustand meiner Kundin erwähne ich mit keinem Wort.

„Ian Kyssen. Ian Kyssen“ wiederholt Kampmann nachdenklich, als ich mit meine Schilderung beende.

„Sagt Ihnen der Name etwas?“ Voller Hoffnung blicke ich ihn über den Tisch hinweg an.

Er sagt lange Zeit nichts, sondern sieht mich nur an. Ich habe keine Ahnung, wie ich sein Verhalten deuten soll, aber mein Gefühl sagt mir ganz deutlich, dass er irgendwas weiss, was mir weiterhelfen kann.

„Hmm, wo soll ich beginnen?“ Er tippt mit seinem Zeigefinger auf seinen Mund. „Als Institutionsleiter hat man eine gewisse Schweigepflicht, auch nachdem man schon lange pensioniert ist.“ Wieder verharrt er stillschweigend und aufrecht sitzend auf seinem Stuhl, um mich mit seinen gläsernen, alternden Augen zu mustern.

Ich rühre mich nicht von der Stelle, obwohl ich kaum erwarten kann, was er mir zu sagen hat. Nun gibt es keinen Zweifel mehr, dass er etwas weiss, was mich weiterbringen wird.

Mit einem Räuspern fährt er weiter. „Ich bin mir im Klaren darüber, wie gewissenhaft Sie Ihre Arbeit machen und ich weiss, dass Sie Informationen, die Sie erfahren, nur für Ihre Suche nach Personen benützen und nicht um jemanden damit zu schaden.“

„Da können Sie sich hundertprozentig sicher sein.“

Er holt abermals tief Luft. „Ich kann mich noch glasklar an Ian Kyssen erinnern, als wäre es erst gestern gewesen.“

Ich kann mein Glück kaum glauben und starre mein Gegenüber mit grossen Augen an, als er weitererzählt.

„Er war damals kaum dreizehn Jahre alt, als er zu uns stiess. Ich muss gestehen, dass Ian kein einfacher Knabe war. Er versuchte alle durch seine Unverfrorenheit zum Narren zu halten, was er auch bei vielen schaffte. Aber jemand glaubte vom ersten Tag, als er durch unser Tor schritt, an ihn und gab nie auf, ihn auf den rechten Weg zu bringen.“

„Waren Sie das?“

„Nein. Denn ich hatte mit den Kindern im Allgemeinen nicht viel zu tun. Es war einer seiner Lehrer. Er galt als streng und unnachgiebiger Pädagoge. Unter seiner Oberfläche verbarg sich jedoch eine einfühlsame Seele, die es schaffte, die hohe Mauer, die Ian zum Selbstschutz errichtet hatte, zu durchbrechen. Viele haben sich in Ian getäuscht. Wenn ich ehrlich bin, auch ich.“

„Warum wurde bei den Behörden ein falsches Kinderheim angegeben?“

„Weil er nicht gefunden werden möchte.“

„Meinen Sie ich mache das Richtige, wenn ich ihn trotzdem aufsuchen werde?“

„Obwohl er nie über seine Eltern gesprochen hat, kann ich mir beileibe nicht vorstellen, dass er sie wirklich nie mehr sehen möchte.“

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Hilfe, Herr Kampmann.“

„Da wäre noch was, das Sie vielleicht wissen sollten.“

„Ja?“

„Ian Kyssen lebt nicht mehr.“

Erschüttert sehe ich von meinen Notizen auf, die ich in aller Eile mitgeschrieben habe. „Wann? Warum? Was ist passiert?“ Die Fragen rutschen mir nur so aus dem Mund.

„Er ist nicht wirklich gestorben, aber Ian Kyssen existiert nicht mehr, denn er hat in seinem dreizehnten Lebensjahr seinen Namen geändert. Er heisst nun Oliver Falk.“

Meine Bestürzung, über die Wendung meines neusten Falles, hat sich noch immer nicht gelegt, als ich unterwegs in die Zentralschweiz bin. Mit einem mulmigen Gefühl fahre ich über die Autobahn und komme immer näher an mein Ziel.

Wie soll ich dem momentan begehrtesten Fussballer der Welt erklären, dass mich seine Mutter beauftragt hat ihn zu finden, weil sie sich bei ihm entschuldigen möchte? Ich habe keinen Plan, wie ich ihn dazu bringen kann, dass er mich anhört und das entmutigt mich immer mehr, mit jedem Kilometer den ich fahre.

Bis zum heutigen Tag hatte ich keinen so komplizierten Fall, wie es dieser werden wird. Auch hatte ich bis jetzt mit keiner Berühmtheit zu tun. Aber diese Angelegenheit sprengt deutlich den Rahmen. Nur ein kurzes Gespräch mit einer Mutter, die verzweifelt versucht ein letztes Mal ihren Sohn zu sehen, bevor der Krebs sie von dieser Erde holt, hat dies alles ausgelöst.

Langsam lenke ich mein Auto auf den Besucherparkplatz der Fussballarena von Weggis, die Thermoplan-Arena. Es ist bereits nach fünf Uhr, als ich aus dem Auto steige und auf das grosse Fussballstadion zugehe.

Wie ich gleich feststellen werde, bin ich gerade zur rechten Zeit gekommen, um den Fussballern beim Spielen zuzusehen.

Kaum bin ich auf der Zuschauertribüne, entdecke ich den gut aussehenden, muskulösen Oliver Falk, wie er über den Rasen sprintet und den Ball mühelos an sich reisst.

Er sieht in Wirklichkeit noch viel besser aus, als auf den Bildschirmen oder in den Zeitungen, in denen er ständig zu sehen oder abgebildet ist.

Oliver Falk strahlt eine Kraft von Entschlossenheit aus, die niemand daran zweifeln lässt, dass er sein Ziel erreichen wird, das er sich gesetzt hat.

Mit einer für mich aussergewöhnlichen Faszination verfolge ich das Trainingsspiel und lasse den Mann, den ich bereits seit bald drei Wochen suche, nicht mehr aus den Augen.

Als der Trainer das Spiel mit dem Schlusspfiff beendet, gehe ich so locker wie möglich bis zur Abschrankung, die die Tribüne vom Spielfeld trennt.

Alle ausser Oliver, der noch ein paar Runden joggt, gehen in Richtung Umkleidekabinen, um sich unter die Duschen zu stellen. Die Reporter rufen ihnen zu, woraufhin der eine oder andere stehen bleibt und ein kurzes Interview gibt.

Ich schenke den Fragen der Journalisten kein Gehör, sondern konzentriere mich voll und ganz auf meine Zielperson. Fasziniert sehe ich ihm zu, wie er mit einer Leichtigkeit über den Rasen rennt, als würde er schweben. Nur der Schweiss, der ihm über den Rücken läuft und sein rot, weisses Trikot nass werden lässt, verrät dass die sportliche Aktivität nicht ohne Mühe an ihm vorbeigeht. Geduldig warte ich, bis Oliver Falk in meine Nähe kommt und gerade als er in den Katakomben, die zu den Umkleidekabinen führen, verschwinden möchte, rufe ich laut und mit starker Stimme seinen Namen. Dabei winke ich ihm mit heftigen Bewegungen zu, damit er mich bemerkt. Nach dem dritten Mal dreht er sich endlich zu mir. Er sieht mich argwöhnisch an und geht ungerührt weiter.

Ich versuche die Reporter und Fotografen, die um mich stehen, zu ignorieren und all die anderen Menschen, die sich hier befinden, auszublenden.

„Oliver Falk!“ rufe ich abermals lauthals. „Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen? Bitte!“

Doch er macht keine Anstalten, mir zuhören zu wollen und weg ist er. Deprimiert nehme ich auf dem nächsten freien Stuhl Platz. Mein Blick schweift über das Spielfeld, wobei ich angestrengt überlege, wie ich den weltberühmten Fussballspieler dazu bringen kann, dass er mir einige Minuten seiner Zeit schenkt.

Plötzlich erscheint ein Schatten neben mir und eine tiefe Stimme spricht mich anklagend an. „Sie sind keine Reporterin und auch keine Fotografin.“ Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. „Sind Sie ein Fan von Oliver?“

Erschrocken sehe ich auf und sehe einen Mann neben mir stehen, den ich vorhin auf der Seite des Spielfeldes schon gesehen habe. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, nur kann ich ihn momentan nicht zuordnen. Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, die hinterste Ecke meines Gehirns zu durchkämmen, fällt mir nicht ein, mit wem ich es hier zu tun habe.

„Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Ich bin sein Manager. Und Sie?.“

Jens Gudet. Mit einem Mal fällt mir der Groschen, woher ich diesen Mann kenne. Er weicht kaum von Olivers Seite und verteidigt den Fussballer, wo er nur kann.

„Ich habe etwas Privates mit ihm zu besprechen.“ sage ich schlicht.

„Und das wäre?“

„Darüber kann ich nur mit Herr Falk sprechen. Können Sie ihm bitte mitteilen, dass ich auf ihn warte? Es ist wirklich sehr wichtig.“

„Es tut mir leid, aber ich kann Sie nicht zu ihm lassen.“

So komme ich nicht weiter. Ich fingere in meiner Handtasche herum und nehme eine von meinen Visitenkarten hervor. „Könnten Sie ihm wenigstens diese hier geben?“ und strecke ihm die Karte hin.

„Personensuchdienst, Verena Rapone.“ liest Olivers Manager leise vor, so dass es niemand hören kann und verengt dabei seine Augen. „Was soll das bedeuten?“

„Ich kann Ihnen leider nicht mehr verraten. Geben Sie ihm die Karte? Er soll mich anrufen. Es ist wichtig.“ beteuere ich ein zweites Mal. „Ich werde noch bis Morgen Mittag im Hotel Seesicht sein.“

„Ich werde es ihm ausrichten. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.“

„Danke.“

Der hochgewachsene Mann, Mitte vierzig, nickt mir kurz zu und geht ebenfalls auf den Tunnel zu, in dem Oliver zuvor verschwand.

Enttäuscht erhebe ich mich und verlasse die Hotelbar. Es ist bereits nach zehn Uhr und dunkel draussen, als ich mich entschliesse auf mein Zimmer zu gehen und mir einräumen muss, dass er nicht daran interessiert ist, zu wissen, was ich ihm zu sagen habe und dass er nicht kommen wird.

In meinem Zimmer mache ich es mir auf meinem Doppelbett bequem und nehme die Unterlagen, die ich über Oliver Falk gesammelt habe, zur Hand, um sie zum wiederholten Mal durchzulesen, obwohl ich alle Details auswendig weiss.

Viel mehr, als mich auf meine Akte zu konzentrieren, überlege ich mir, wie ich ihn dazu bringen kann, mich anzuhören. Es muss doch irgendeinen Weg geben, um ihn genug neugierig zu machen, so dass er Kontakt zu mir aufnimmt?

Nach langem grübeln, nehme ich ein Stück Papier in die Hand und kritzle ein paar Stichworte darauf. Nur so viel, dass er erahnen kann, über was ich mit ihm reden möchte, aber dass es für einen Aussenstehenden keinen Sinn ergibt.

Bis morgen Mittag werde ich in der Hotellobby auf ihn warten. Falls er bis zu jenem Zeitpunkt nicht erscheint, werde ich noch einen einzigen Versuch starten, um ihn zu einem Gespräch zu bewegen. Andernfalls muss ich mich geschlagen geben.

Jetzt werde ich mich erst einmal unter die Dusche begeben und danach ein paar Stunden Schlaf gönnen.