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Tausend und ein Tod - Leseprobe

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Otto nutzte die Gelegenheit und warf einen raschen Blick auf seinen Wecker. Es war schon fast fünf Uhr morgens. Er musste länger im Sitzen geschlafen haben, als ihm bewusst war.

»Ich verstehe«, sagte er. »Das muss ganz schön ermüdend sein, all diese Geschichten zu hören.«

»Das kannst du wohl sagen. Ich höre nie etwas Neues. Es ist alles schon mal da gewesen und belanglos. Auf die Dauer ist das so was von ätzend!«

»Junge, du hast aber einen ganz schönen Slang drauf«, grinste Otto.

»Oh. Ja, ja, das habe ich von den Jugendlichen.«

»Was hast du mit denen zu schaffen?«, fragte Otto. »Ich meine, die sind doch noch viel zu jung zum …«

»Och, das ist schon meine Zielgruppe, alter Mann. Selbstmord, Krankheit, Leichtsinn, Kriminalität, da kommt einiges zusammen.«

»Mh, verstehe.«

Tod gackerte vor sich hin.

»Drogendealer!«

»Was ist mit denen?«

»Man könnte sie meine Gehilfen nennen, Handlanger.«

»Aus deiner Sicht stimmt das wohl. Genauso wie Mörder oder Terroristen?«

Die Kapuze nickte.

»Musst du dir wirklich für jeden so viel … hm … Zeit nehmen? Wie machst du das, wenn zum Beispiel in einem Krieg gleich Dutzende Menschen auf einmal sterben?«

Der Gevatter rieb sich versonnen die Hände.

»Ah ja, das waren noch Zeiten. Die großen Kriege, Seuchen …«

Otto wartete geduldig, bis sein Besucher fertig geschwelgt hatte.

»Also?«

»Ja, das war schon leichter damals. Wer im Krieg stirbt, fragt meist nicht lange nach dem Warum.«

»Aber gestorben wird doch immer. Und es leben so viele Menschen auf der Erde.« Otto schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du das alles allein schaffst. Seit wann existierst du?«

Die Kutte schien vor Ottos Augen zu wachsen.

»Ich war da, bevor das Leben an sich geschaffen wurde.«

»Wirklich?« Otto strich nachdenklich über die zurückgeschlagene Bettdecke neben sich. »Mir ist jetzt doch etwas frisch. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zudecke?«

»Nur zu. Ich möchte doch, dass du es bequem hast.«

»Sarkasmus? Ich bitte dich.«

»Entschuldige.«

Otto zog die Decke zu sich herüber und legte sie über seine Beine.

»Mir leuchtet das nicht ganz ein«, sagte er dann.

Tod zuckte zusammen, als sei er in Gedanken versunken gewesen.

»Was?«

»Dass du schon vor dem Leben da warst. Ich meine … Leben und Tod sind doch ein Gegensatzpaar. Das eine ist ohne den anderen nicht denkbar. Nur das, was lebt, kann sterben.«