Halbe-Halbe, einmal und immer

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Halbe-Halbe, einmal und immer
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L. S. Anderson, Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1 – Sophie hatte sich entschieden

2 – Sophie entdeckte den Brief

3 – In ihren letzten zehn Arbeitstagen

4 – Während der Feiertage

5 – Sophie suchte zum ersten Mal

6 – Nach dem Termin mit dem Notar

7 – Die Heizung von Sophies Wagen

8 – Sophie hatte keinen Wecker

9 – Wer immer da am Steuer saß,

10 – Sophie schloss ihr Auto ab

11 – In dem Lokal

12 – Sophie zahlte an der Theke,

13 – Das Bad in ihrem Hotelzimmer

14 – Um herauszufinden,

15 – Sophies Telefon tüdelte,

16 – Sophie war an einem Sonntag

17 – Sophie kannte einige Leute,

18 – Sophie bezog ein kleines,

19 – An jedem zweiten Tag

20 – In dem allgemeinen Trubel,

21 – Am Abend vor ihrer Abreise

22 – Als Stadtkind

23 – »Trenck.«

24 – Es war bitterkalt

25 – An einer Ampel

26 – »Das Haus ist gesund«,

27 – Sophie musste ihre

28 – Der Termin mit dem Notar

29 – Die Fahrt nach Hause

30 – Außer dem kleinen Rollkoffer,

31 – Die Leichtigkeit

32 – Sophie war wieder

33 – Es war noch dunkel,

34 – Sie begannen mit der Räumung

35 – Der Morgen graute,

36 – Geld war nur eines

37 – Während Sophie sich durch das Bad

38 – Als die Temperaturen stiegen,

39 – Sophie sah Trenck

40 – An einem frühsommerlichen Samstagmorgen

41 – Sophie badete

42 – In der Grobitzer Landstraße 210

43 – Im Internet

44 – Als sie im März

45 – Sophie und Trenck

46 – Es war, als hätte der Hochsommer

47 – Sophie hatte an der Grobitzer Landstraße

48 – In den Wochen nach dem Besuch

49 – Die Clubfrauen in Karolinas Gästehaus

50 – Um den immer wiederkehrenden

51 – Sophie war verhältnismäßig früh

52 – Sophie fand es unsinnig,

53 – An einem kühlen, trüben Vormittag

54 – Nachdem sie in etwa zwei Wochen

55 – Der Strom

56 – Als Trenck abfuhr,

57 – Während sie zunehmend lustlos

58 – Constanzes Besuch

59 – Sophie bekam nicht nur

60 – Die Tage waren

61 – Sophie hatte für die Räumung

62 – An ihrem letzten Tag

63 – Es gefiel Sophie,

64 – Am Tag ihrer Abreise

65 – Die Ungewissheiten,

66 – Sophie schlief schlecht

67 – Während Sophie Einrichtung zerlegte

68 – Die erste Hälfte

69 – Vitali wartete am Ortsausgang

70 – Sonntag fuhr Sophie gegen Mittag

71 – Am Montag nach dem Essen

72 – Irgendwie ging das letzte Wochenende

73 – Natürlich lag Sophie

74 – Im Nachhinein bedauerte Sophie,

75 – Mitten in der Nacht

76 – Statt eines Epilogs ein Kurzfilm:

Impressum neobooks

1 – Sophie hatte sich entschieden

Halbe-halbe, einmal und immer

Roman von L. S. Anderson

© 2021 L. S. Anderson

Sie würde unterschreiben. Doch bevor es so weit war, musste sie noch ein paar Formalitäten über sich ergehen lassen. Ihr gegenüber an dem langen Tisch des Konferenzraumes saßen ihr Gruppenleiter, ein Mann aus der Personalabteilung und eine Kollegin vom Betriebsrat.

»Du weißt ja schon Bescheid, Sophie«, sagte die Betriebsrätin, »aber fürs Protokoll muss ich dich noch mal ausdrücklich darauf hinweisen: Du brauchst den Aufhebungsvertrag nicht zu unterzeichnen. Wie alle anderen Kollegen hast du eine Arbeitsplatzgarantie und Anspruch auf einen gleichwertigen Job am neuen Standort unserer Firma.«

Nur ist der dreihundert Kilometer entfernt, dachte Sophie und sagte: »Ich weiß, Gabbi.«

»Hast du es dir auch gut überlegt? Du gibst immerhin eine feste Anstellung gegen eine Abfindung her – ich meine, das ist vielleicht kein so guter Tausch … heutzutage.«

»Ich finde schon wieder was«, sagte Sophie.

»Ich würde dich gern als Kollegin behalten, Sophie«, sagte der Gruppenleiter. »Du gehörst zu meinen besten Mitarbeitern. Du hast Erfahrung, gute Kennzahlen, du bist bei unseren Kunden beliebt, und alle, die mit dir zusammenarbeiten, mögen dich.«

 

»Danke, Werner«, sagte Sophie.

»Du musst dich auch nicht heute entscheiden. Du kannst bis Weihnachten warten. Vielleicht überlegst du es dir ja noch mal und änderst deine Meinung. Es würde mich wirklich freuen.«

»Es tut mir leid, Werner«, sagte Sophie. »Wie ich dir schon gesagt habe, es sind persönliche Gründe, warum ich nicht umziehen will. Es hat nichts mit euch oder mit der Firma zu tun. Ich habe immer gern hier gearbeitet.«

Werner seufzte.

Es tat Sophie wirklich leid. Ihr Job war nicht der beste der Welt und auch nicht riesig bezahlt, aber sie war gut in dem, was sie tat, ihre Kollegen waren auch ihre Freunde und die Firma ein wenig wie Heimat für sie. Wie es sich eben so ergab, wenn man ein paar Jahre irgendwo arbeitete. Trotzdem, ihr Entschluss stand fest.

»Wenn Sie unterschrieben haben«, sagte der Mann von der Personalabteilung, »faxe ich den Aufhebungsvertrag in die Zentrale, und jemand anderes bekommt Ihren Job. Wir haben mehrere Bewerber, und wenn wir einem zugesagt haben, dann können wir das nicht mehr rückgängig machen. Das wäre nicht fair, verstehen Sie? Nach Ihrer Unterschrift gibt es kein Zurück für Sie.«

»Ich weiß«, sagte Sophie.

»Und Sie wollen es sich auch nicht noch einmal überlegen?«

Sophie schüttelte den Kopf.

Der Mann von der Personalabteilung schob Vertrag und Kugelschreiber über den Tisch, und Sophie unterschrieb an den angekreuzten Stellen. Es war ganz einfach. Kein Drama. Sie schrieb zweimal ihren Namen und besiegelte damit, dass sie in drei Wochen, zu Beginn des neuen Jahres, arbeitslos sein würde – zum ersten Mal in ihrem Leben. Das beunruhigte sie nicht. Sie hatte gute Zeugnisse, war noch jung und überhaupt eine Optimistin. Sie würde einen anderen Job finden. Vielleicht sogar etwas Besseres? Und wenn nicht sofort, dann später. Irgendwas ging immer. Vorläufig kam es ihr erst einmal darauf an, nicht umziehen und dann über dreihundert Kilometer hinweg eine Fernbeziehung führen zu müssen.

Sophie war die Letzte, die in dem Konferenzraum ihren Aufhebungsvertrag unterzeichnet hatte. Mit ihrer Unterschrift war die Sitzung geschlossen. Alle erhoben sich, um zu gehen. Über den Tisch hinweg schüttelte der Mann von der Personalabteilung Sophies Hand und sagte: »Alles Gute, Frau Schatz.«

Sophie und Werner hatten denselben Weg. Während sie nebeneinander durch einen trüb beleuchteten Korridor liefen, sagte Werner: »Echt schade, dass du nicht mitkommst. Hast du schon Pläne, was du als Nächstes machst?«

»Nicht wirklich«, antwortete Sophie.

Gabbi holte die beiden ein und hörte Werners Frage. Sie war neugierig, aber auf eine nette, harmlose Art und Weise. Wahrscheinlich gehörte das zu ihrer Funktion als Betriebsrätin. Sie sagte: »Bleibst du, weil ihr demnächst heiratet, Sophie?«

»Du heiratest?«, sagte Werner.

Sophie wehrte ab. »Das ist noch nicht raus«, sagte sie.

»Wie lange seid ihr denn schon zusammen, Jens und du?«

»Fünf Jahre«, antwortete Gabbi an Sophies Stelle. »Lange genug, um sicher zu sein.«

»Wir haben noch nicht darüber gesprochen«, sagte Sophie.

»Heiraten ist natürlich ein guter Grund dafür, nicht wegzuziehen«, sagte Werner. »Das verstehe ich.«

»Jetzt hört doch mal auf«, sagte Sophie mit Nachdruck. »Ich heirate doch noch gar nicht!«

»Nicht? Wann denn dann? Du solltest aber. Heirate, solange du noch jung bist.«

»Neunzehn ist jung«, sagte Sophie. »Ich bin neunundzwanzig.«

»Na, dann wird es doch höchste Zeit.«

»Heirate doch selbst, wenn’s dir so wichtig ist.«

»Ich bin für die Ehe nicht gemacht«, sagte Gabbi. »Bis später.«

Sie waren vor der Abteilung angelangt, in der Sophie und Werner arbeiteten. Gabbi musste weiter. Sophies Arbeitsplatz befand sich in einem großen, fensterlosen Raum. In blassem Neonlicht saß ein Dutzend Männer und Frauen, jeweils getrennt durch Sichtblenden, an langen Tischen vor großen Monitoren. Die Hälfte von ihnen trug Headsets, und einige waren dabei, ein Telefongespräch zu führen. Gemeinsam erzeugten sie ein halblautes, einschläfernd gleichmäßiges Stimmengewirr, das zusammen mit dem Rauschen der Rechnerlüftungen und der Klimaanlage und dem Summen der Leuchtstoffröhren den Raum erfüllte. Sophie fuhr ihren Rechner nicht hoch, als sie an ihrem Platz angekommen war. Sie saß untätig da und beobachtete für eine Weile einen großen Bildschirm unter der niedrigen Decke. Der zeigte an, ob und wie viele Anrufer sich in der Warteschleife befanden (und sich dabei eine nervtötende elektronische Melodie in Endlosschleife anhören mussten). Niemand wartete, und es war Viertel nach drei. Sophie entschied, dass das Anrufvolumen an diesem Tag so gering bleiben und sie nicht mehr dringend gebraucht werden würde und beschloss, einen Teil ihres Zeitguthabens abzufeiern. Sie stand auf, raffte ihre Sachen zusammen und ging.

Sophies Arbeitgeber war eine internationale Spedition. Um vom Verwaltungsgebäude der Firma zum Parkplatz der Angestellten und zu ihrem Wagen zu gelangen, musste sie sich im Halbdunkel des Dezembernachmittags einen Weg durch Schneematsch und zwischen schwarzen Pfützen vorbei an Reihen haushoher Sattelzüge und abgestellter Auflieger suchen. Ihr zwölf Jahre alter Golf startete nur widerwillig. Weil sein Innenraum erst nach längerer Fahrt zögernd und dann auch nur lauwarm wurde, behielt sie ihren Daunenmantel an. Hinter beschlagenen Fenstern schlängelte und drängelte sie sich eine Dreiviertelstunde lang durch den Nachmittagsverkehr. Es war fast Nacht, als sie auf der anderen Seite der Stadt, im Dortmunder Nordosten, zwischen anderen Wohnblöcken denjenigen erreichte, in dem sie sich im siebten Stock mit ihrem Partner eine kleine Wohnung teilte.

An gewöhnlichen Tagen war Jens oft vor ihr zu Hause und hatte bereits den Briefkasten geleert, wenn Sophie eintraf. Dieses Mal nahm sie, was auf den ersten Blick aussah wie die übliche Sammlung von Ramschpost, mit nach oben, um sie in einer ruhigen Minute zu sortieren, bevor sie die Werbeschreiben entsorgte. Es konnte ja doch einmal etwas Wichtiges dabei sein, und die Flyer der Essensbringdienste hob sie gern eine Zeit lang auf, für alle Fälle und die Wochenenden. Sophie konnte nicht richtig kochen, Jens erst recht nicht

In der kleinen Wohnung war es kalt und die Luft verbraucht. Sie behielt ihren Mantel an, während sie die Runde machte und lüftete. Drei, vier Minuten lang lauschte sie stehend und mit den Händen in den Manteltaschen dem entfernten, Rauschen des Verkehrs. Dann drehte sie die Heizkörper auf, schloss Balkontür und Fenster und legte ihren Mantel ab.

Jens kam eine Stunde später. Sophie stand in der winzigen Küche und sagt ohne Gruß und Einleitung über die Schulter in Richtung der Diele, von wo sie Jens hörte, »Ich mache was zu essen. Hast du einen besonderen Wunsch?«

»Ich esse jetzt nichts. Ich gehe noch mal ins Studio.«

Sophie antwortete nicht.

»Willst du nicht mitkommen?«

Die Frage traf Sophie unvorbereitet. Sie wusste nicht sofort, was sie antworten sollte. Wenn sie mitkam, würde sie sich langweilen. Sie fand Fitnesstraining öde, und Menschen, die mit fast religiöser Ernsthaftigkeit, ächzend und schnaufend, unter größter Anstrengung schwere Lasten oder sich selbst auf der Stelle bewegten, insgeheim einfältig oder albern. Natürlich wurde man davon auf die Dauer stärker, bekam eine bessere Figur und angeblich war es auch gesund – aber langweilig. Und obendrein auch noch anstrengend. Trainierte sie nicht, entging sie zwar Anstrengung und Langeweile, bekam dafür aber ein schlechtes Gewissen. Denn auch wenn sie sich insgesamt in ihrer Haut wohlfühlte, glaubte Sophie doch, dass ihr Körper an einigen wichtigen Stellen (und besonders auf der Rückseite) schmaler, flacher oder straffer sein sollte und es an ihrer Bequemlichkeit lag, wenn er das nicht war.

Jens’ sportlicher Eifer setzte sie zusätzlich unter Druck. Manchmal aber tat er ihr auch ein wenig leid. Seine in ihren Augen übertriebene Beschäftigung mit dem eigenen Äußeren, mit Äußerlichkeiten überhaupt, hielt sie für Mittel, mit denen er tatsächliche oder gefühlte persönliche Mängel auszugleichen suchte. Er trug tagsüber gewohnheitsmäßig Anzug und Krawatte, aber das musste wohl so sein, denn er arbeitete bei einer Bank. Er verbrachte viel Zeit im Fitnessstudio, verbrauchte Kosmetika in industriellen Mengen und fuhr ein auffälliges und gefährlich schnelles Auto. Entschädigte ihn das dafür, dass sein Haar immer dünner wurde und er nicht gerade hochgewachsen war? Er trug Schuhe, die ihn größer wirken ließen. Wenn sie ausgingen, verzichtete Sophie stillschweigend auf Absätze, mit denen sie ihn überragte. Ohne dass sie je darüber gesprochen hatten, wusste sie, dass ihm das unangenehm war.

»Willst du nicht mitkommen?«

Oops, da war sie wieder, die Frage. Wie fast immer entschied sie sich gegen die Langeweile und für ein schlechtes Gewissen. »Nein«, sagte sie. »Ein anderes Mal. Mir ist heute nicht nach Sport.«

Jens antwortete nicht. Sie hörte, wie er die Türen des Dielenschranks öffnete und schloss und seine Sportsachen zusammenkramte. Dann sagte er: »Bis später!«, die Wohnungstür ging, und weg war er.

Bis später, Jens«, sagte Sophie in die einsetzende Stille. »Viel Spaß mit deinen Gewichten. Könnten wir nicht, statt in ein Fitnessstudio, einfach mal tanzen gehen? So richtig, nicht zu dieser Maschinenmusik …« Ihr wurde bewusst, dass sie halblaut vor sich hinbrabbelte, und sie hielt erschrocken inne. Mein Gott, dachte sie, was ist los mit mir? Ich spreche mit mir selbst!

Die Lasagne, die sie in die Mikrowelle hatte schieben wollen, stellte sie zurück in den Kühlschrank und machte sich ein Käsebrötchen. Das aß sie zusammen mit einem Apfel vor dem Fernseher stehend und während sie durch die Sender zappte. Das Vorabendprogramm bot nichts, was sich anzusehen lohnte, und weil sie nach einem Tag vor dem Bildschirm auch keine Lust mehr hatte, noch etwas zu lesen, beschloss sie, ein Bad zu nehmen.

Das Badezimmer der kleinen Wohnung war winzig und die Wanne deshalb zu kurz, um sich darin auszustrecken, aber wenn man sie richtig voll und dann keine Wellen machte, dann war man auch mit angezogenen Knien noch komplett mit Wasser bedeckt. Sophie wusch zuerst ihr Haar, weil das ein größerer Akt war, denn sie hatte viel davon. Danach schüttete sie reichlich Badekristalle in die Wanne, füllte sie zur Hälfte, stieg hinein und ließ so viel heißes Wasser nachlaufen, dass die Temperatur fast unerträglich wurde. Sophie liebte heißes Wasser. Wenn die Buddhisten recht hatten und man wiedergeboren wurde, dann war sie in einem früheren Leben bestimmt ein rundlicher bunter Fisch in einer warmen tropischen Lagune gewesen. In ihrer Badewanne, bis zum Kinn versunken, umgeben von kleinen Gebirgen aus duftendem Schaum, ließ sie ihre Gedanken wandern, während der Rest der Welt weit weg war. Ihr fensterloser Arbeitsplatz im fahlen Neonlicht, der nasskalte Dezember, der Schneematsch und der nervtötende Verkehr, ihr Nachhauseweg durch das winterliche Zwielicht in ihrem kalten Auto – all das schien für eine behagliche halbe Stunde unwirklich wie eine ferne Erinnerung. Und tatsächlich, ging ihr auf, bald würde es ihren jetzigen Arbeitsplatz nur noch in ihrem Gedächtnis geben. In zwei Wochen war Weihnachten, an den Arbeitstagen danach bis Silvester würde sie den Rest ihres Jahresurlaubs abfeiern, und ab dem 1. Januar war sie arbeitslos. Abgesehen von der Suche nach einem neuen Job hatte sie frei. Sie konnte sich etwas vornehmen, Pläne machen. Das heiße Wasser, in dem sie bewegungslos lag, und die Erkenntnis, dass sie demnächst vorübergehend ohne berufliche Verpflichtung war, brachte sie auf die Idee zu verreisen. Natürlich mit Jens. Der konnte auch Urlaub brauchen, so angespannt, wie er immer war. Ja, Urlaub! Irgendwo, wo der Dezember und der Januar nicht kalt und dunkel waren und wo es ein badewannenwarmes Meer gab. In Thailand … auf Bali … oder in der Karibik. Für zwei Wochen. Besser drei. Nein, vier. Sie würde einen Teil ihrer Abfindung dafür auf den Kopf hauen, aber egal, das war es ihr Wert. Sie würde schwimmen bis zur Erschöpfung, Beachvolleyball spielen bis zum Umfallen, in der Sonne liegen, bis sie brutzelbraun war, abends tanzen und bunte Schirmchen-Cocktails trinken, bis sie ohnmächtig oder ihr schlecht wurde. Sie würde sich von Kokosnusswasser und Obstsalat ernähren und dabei zehn Pfund abnehmen. Dann, zurück in Deutschland, sonnenbraun und schlank und sexy, würde sie einen coolen, hoch bezahlten Job in einer Eventagentur finden und sich mit den Promis, die sie betreute, duzen.

 

Ach, ja …

Sophie tagträumte vor sich hin, bis ihre Fingerkuppen runzelig waren und ihr Badewasser ungemütlich kühl wurde. Nur widerwillig stieg sie aus der Wanne zurück in die Realität, in das kleine, vollgestopfte Badezimmer, in dem man sich kaum bewegen konnte, ohne irgendwo anzustoßen und dabei etwas aus Regalen und Ablagen zu werfen. Der Ganzkörperspiegel auf der Innenseite der Badtür war beschlagen und ersparte ihr gnädig zu sehen, dass sie weder sonnenbraun noch schlank und sexy höchstens für jemanden war, der winterbleiche moppelige Frauen mochte.

Sie trocknete sich ab, föhnte ihre Haare und cremte sich von Kopf bis Fuß ein. In einem übergroßen Plüschbademantel, mit Wollsocken an den Füßen rollte sie sich auf der Couch vor dem Fernseher ein, sah sich eine Folge von »The Mentalist« an, die sie schon kannte, und wartete darauf, dass Jens vom Training zurückkehrte.

Darüber fielen ihr die Augen zu. Sie schaffte es noch, die Stummtaste auf der Fernbedienung zu drücken, dann schlief sie ein. Sie erwachte wieder, aber nicht vollständig, als sie Jens an der Wohnungstür hörte. Im Halbschlaf verfolgte sie minutenlang seine Wege durch die Wohnung. Auch mit geschlossenen Augen wusste sie immer, wo er war und was er tat, wie er seine Schlüssel auf eine Konsole neben der Tür warf, die Schuhe abstreifte, die Toilette benutzte, seine Sportsachen verstaute, sich umzog und etwas aus dem Kühlschrank nahm. Sie hörte, wie er näherkam, und dann fühlte sie den Druck seines Körpers neben sich auf dem Sofa.

»Habe ich dich geweckt, Süße?«

»Wie viel Uhr ist es?«

»Gleich zehn«, sagte Jens, und dann fügte er hinzu: »Wir waren noch was trinken.«

Das stimmte. Er roch ein wenig nach Alkohol, aber nicht schlimm. »Und sonst?«

»Wie immer.«

Sophie öffnete die Augen, setzte sich auf und sagte: »Ich habe heute meinen Aufhebungsvertrag unterschrieben.«

»Deinen … was? Was heißt das?«

»Jens«, sagte Sophie vorwurfsvoll, »darüber haben wir doch schon ein paar Mal gesprochen.«

»Äh … ja. Du hast deinen Job gekündigt, oder?«

»Ja. Wenn nicht, dann hätte ich wegziehen müssen.«

»Ach so …«, sagte Jens. Aus seinem Tonfall glaubte Sophie herauszuhören, dass er entweder nicht begriff, was sie getan hatte, oder dass er mit seinen Gedanken woanders war. Vielleicht machte ihn auch der Alkohol langsam im Kopf. Langsamer, als er es eh schon ist, dachte sie und schämte sich ein wenig für diesen boshaften Gedanken. Sie wartete.

»Glaubst du, du kriegst so einfach wieder was?«, sagte Jens nach einer Weile.

Sie antwortete nicht. Enttäuschung, die die ganze Zeit an den Rändern ihrer Wahrnehmung auf eine Chance gelauert hatte, machte sich in ihr breit. Okay, sie wusste und hatte sich daran gewöhnt, dass Jens manchmal ein unsensibler Klotz war, aber trotzdem erwartet, nein – fest damit gerechnet, dass er ihre Entscheidung in irgendeiner Form gutheißen, ja sogar belohnen würde. Was war denn daran unklar, dass sie nicht dreihundert Kilometer entfernt von ihm leben wollte? Einen Moment lang war sie kurz davor, die von ihr erhoffte Reaktion von ihm zu erpressen, aber sie hielt sich zurück. Jens war ein Muttersöhnchen und geübt darin, Frauen nach dem Mund zu reden, vorausgesetzt, er erriet rechtzeitig, worauf sie hinauswollten, und hatte keine Gelegenheit mehr, sich einer Diskussion zu entziehen. Und außerdem, wenn sie ihn unter Druck setzte und er nicht geistesgegenwärtig genug war, ihr zu sagen, was sie von ihm erwartete, dann konnte es im schlimmsten Fall sein, dass sie auf eine provokante Frage, (»Hättest du lieber, dass ich wegziehe?«) eine Antwort bekam, die sie nicht hören wollte.

»Es ist gut, dass du nicht wegziehst«, sagte Jens, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen oder weil er erraten hatte, was von ihm erwartet wurde.

Und weiter?, dachte Sophie.

»So einen Job wie den, den du jetzt machst, bekommst du bestimmt wieder. Der kann so schwer nicht zu finden sein.«

Weil es ein Loserjob ist?, dachte Sophie. Einer, den niemand macht, außer er ist so dusselig wie ich? Ich werde mir einen besseren suchen. Ich habe einen besseren Job verdient.

Ihr Schweigen machte Jens unruhig. Er sagte: »Willst du ein Glas Wein? Ich hole mir welchen.«

Er kam mit zwei Gläsern aus der Küche zurück und setzte sich wieder nahe neben sie. »Cheers, Süße. Auf dich. Auf deinen Neuanfang. Mach dir keine Sorgen, du hast das Richtige getan.«

Ich mache mir keine Sorgen, dachte Sophie.

Jens trank, lehnte sich dann ein wenig zu ihr herüber und sagte: »Hmm … Du riechst gut.«

Seine Hand stahl sich unter ihren Bademantel. Sophie war nicht überrascht. Jens kam oft angeregt aus dem Fitnessstudio nach Hause. Sie richtete sich auf, schob seine Hand weg und sagte: »Lass uns verreisen.«

»Was?«

»Verreisen. Wegfahren. Urlaub machen. Irgendwo in der Sonne. Irgendwo, wo nicht Winter ist.«

»Aber …«

»Bitte!«

»Wie stellst du dir das vor? Wir können doch nicht einfach …«

»Doch, das können wir!«

»Nein … ich meine, du vielleicht. Ich nicht.«

»Warum denn nicht?« Sophie bereute ihre Frage sofort. Damit gab sie Jens eine Chance, sich rauszureden. Sie sprach hastig weiter. »Jens, ich muss mal raus. Raus aus dem Winter, der Nässe, der Kälte, der Dunkelheit. Raus aus dieser Stadt. Raus aus … allem. Wenigstens für ein paar Wochen … Bitte …«

»Ich kann nicht. Das weißt du doch. Ich habe für dieses Jahr keinen Urlaub mehr. Erst wieder Mitte nächsten Jahres.«

Sophie schwieg, und Jens fuhr fort: »Wir machen im Sommer Urlaub, versprochen. Wir fliegen, wohin du willst. Oder nach Island. Da scheint im Sommer dreiundzwanzig Stunden am Tag die Sonne, und überall kommt heißes Wasser umsonst aus dem Boden. Jedes Kaff hat ein Thermalbad. Wie findest du das?«

»Ich brauche eine Auszeit, Jens. Dringend. Jetzt. Nicht im Sommer. Im Sommer kann ich auch ins Freibad gehen oder an die See fahren. Außerdem habe ich bis dahin einen neuen Job und kann nicht gleich wieder Urlaub machen.«

»Wenn du nicht warten kannst«, sagte Jens, »dann flieg doch allein. Ist doch kein Problem. Andere Frauen tun so was auch.«

»Ach, Jens …«, sagte Sophie. »Ich möchte mit dir verreisen.« Gerade habe ich meinen Job aufgegeben, um mit dir zusammenzubleiben, dachte sie, und jetzt willst du mich allein in Urlaub schicken. Sie sprach den Gedanken nicht aus und entschied, für den Moment nicht weiter zu versuchen, Jens umzustimmen. Sie würde später, in ein paar Tagen, einen neuen Anlauf nehmen. Noch war ja Zeit. Viel Hoffnung hatte sie allerdings nicht, dass er seine Haltung änderte. Jens war nicht der Typ, der es wagte oder gar schaffte, seinem Arbeitgeber zwei Wochen außerplanmäßigen Urlaub abzuschwatzen. Und selbst wenn ihm das gelang, musste er immer noch seiner Mutter gegenüber durchsetzen, dass er vielleicht den Weihnachtsabend oder Silvester nicht ›zu Hause‹ verbrachte. Das war schlicht undenkbar – für sie und ihn. Trotzdem, beschloss Sophie, würde sie Jens weiter beknien. Und wenn es nur aus Prinzip war und erst einmal zu nichts führte, egal. Steter Tropfen … Er war ihr was schuldig, fand sie.

»Wir machen im Sommer gemeinsam Urlaub«, sagte Jens. »Und was deine Arbeit angeht, such dir halt einen Job, bei dem du erst im Herbst anfangen musst.«

Was? Sophie sagte: »Und was soll ich bis dahin tun?«

Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, rückte ein wenig näher an sie heran und schob seine Hand wieder unter ihren Bademantel. »Wir könnten doch schon mal einen kleinen … Kurzurlaub …«

Seine Hand kroch über ihren Oberschenkel.

»Nicht, Jens.«

»Nicht? Ferien, jetzt, gleich hier, auf dem Sofa?«

Sophie hatte gern Sex und reagierte auf erotische Reize rasch und manchmal auch intensiver, als ihr lieb war. Für einen Moment war sie geneigt, Jens’ Vorschlag anzunehmen, nicht, weil sie in Stimmung war, sondern einfach nur, weil sie sich gut fühlen wollte. Sie wollte Winterblues und Enttäuschung für eine Weile vergessen. Sex mit Jens sollte ihr dabei helfen. Aber Sophie spürte, dass sich gerade das Gefühl der Enttäuschung nicht vertreiben lassen würde. Es war zu stark und würde ihr den Spaß verderben. Sie packte Jens’ Hand durch den Stoff des Bademantels und sagte: »Nein. Hör auf!«

Jens befreite seine Hand aus ihrem Griff, aber er gab noch nicht auf. »Komm schon, Sophie, entspann dich. Du bist doch sonst auch nicht so.«

Sophie stand auf und raffte den Bademantel vor ihrem Körper zusammen. »Ich bin nicht so«, sagte sie. »Ich bin nur einfach nicht in Stimmung.«

»Hey, lass dir doch einfach von mir was Gutes tun. Es wird dir gefallen, bestimmt. Es gefällt dir doch sonst auch.«

»Heute nicht.«

»Ich verstehe ja, dass du dir Sorgen machst, oder schlecht drauf bist, oder so … irgendwas. Aber das brauchst du doch nicht an mir auszulassen«.

»Ich lasse nichts an dir aus«, sagte Sophie. »Ich gehe nur schlafen.«

»Jetzt schon? Es ist erst kurz nach zehn.«

»Na und? Ich muss morgen früh raus.« Sie wandte sich ab und hörte, wie Jens den Ton des Fernsehers wieder einschaltete.

»Mach den Fernseher nicht zu laut«, sagte sie über die Schulter. »Und sei bitte leise, wenn du kommst.«

Jens antwortete nicht.

Die Luftfeuchtigkeit im Badezimmer war so weit abgesunken, dass die Spiegel nicht mehr beschlagen waren. Sophie konnte sich beim Zähneputzen zusehen. Wenn nur der Winter schon vorüber wäre, dachte sie, während sie methodisch ihre Zähne schrubbte. Oder wenigstens Weihnachten und Silvester. Seit sie erwachsen und deshalb berufstätig war, empfand sie die Wochen von Mitte Dezember bis Anfang Januar als anstrengendste Zeit des Jahres. Abgesehen davon, dass Arbeits- und Feiertage wild durcheinander lagen und man erhebliches Organisationstalent brauchte, um Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden und zur rechten Zeit zu erledigen, waren die Stadt, die Kaufhäuser und die Läden überfüllt, die Parkplätze knapp, die Menschen leicht reizbar und das Wetter immer mies. Die Kunden, die Sophie für ihre Spedition am Telefon betreute, waren in der Vorweihnachtszeit noch anspruchsvoller und nörgeliger als im ganzen Rest des Jahres.

Das alles ist jetzt erst mal vorbei, dachte Sophie. Eigentlich konnte sie es noch gar nicht richtig glauben. Es war ihr zur Selbstverständlichkeit geworden, jeden Morgen um Viertel vor sechs aufzustehen. Tag für Tag drängelte sie sich von Viertel vor sieben bis halb acht durch den Berufsverkehr, um dann acht Stunden oder mehr zusammen mit einem Dutzend Kollegen in einem fensterlosen Raum am Telefon und vor Bildschirmen zu verbringen. Um die Mittagszeit saß sie eine zusätzliche halbe Stunde des Tages in der Kantine ihrer Firma, die, so schien es ihr, nur zehn Gerichte kannte, von denen immer zwei an einem Tag serviert wurden, eines davon vegetarisch. Diese immer selben Menüs kamen jede Woche von Neuem auf den Tisch. In sieben Jahren, schätzte Sophie, musste sie an die dreihundertfünfzig Mal ›Putengeschnetzeltes mit buntem Reis und gemischtem Salat‹ gegessen haben, dazu Götterspeise als Dessert. Immerhin besaß die Kantine Fenster, und man hatte einen Ausblick, wenn auch nur auf die Parkplätze und Zweckbauten des umliegenden Gewerbegebiets.

So dröge es auch war, das war ihr Leben. Man gewöhnt sich an alles, manchmal so sehr, dass man schließlich daran hängt. Würde sie es am Ende vielleicht sogar vermissen? Sophie lauschte in sich hinein. Sie fühlte weder Wehmut bei der Aussicht, Job, Kollegen und Freunde hinter sich zu lassen, noch war sie gespannt auf ihre Zukunft. War das gut oder schlecht? Wahrscheinlich war es noch zu früh, etwas zu fühlen. Und falls sie ihre Entscheidung doch irgendwann bedauerte, brauchte sie sich nur vor Augen zu halten, dass sie keine Wahl gehabt hatte. Ein Umzug, eine zweite Wohnung mit ihrem mageren Verdienst und eine Fernbeziehung über dreihundert Kilometer waren nun mal keine Option.

Schluss mit der Grübelei. Sophie spülte ihren Mund aus und lächelte sich mechanisch im Spiegel an. Auf ihre Zähne war sie stolz. Sie fuhr sich mit einem groben Kamm ein paar Mal durch ihr dichtes, schweres Haar, raffte es für die Nacht zu einem Pferdeschwanz zusammen und drehte dabei den Kopf hin und her, um sich von beiden Seiten zu sehen. Ich sollte etwas von meiner Abfindung dafür ausgeben, dachte sie, mir das Ohr machen zu lassen. Das kann nicht so teuer sein. Sophies rechtes Ohr stand deutlich ab. Manchmal kam es ihr sogar vor, als wäre es auch noch größer als das andere. Sie erinnerte sich nicht, ob es schon immer abgestanden hatte oder ob es erst durch eine unausrottbare Angewohnheit von ihr so geworden war: Immer, wenn sie sich vorbeugte oder den Kopf neigte, hakte sie mit einer kleinen, unbewussten Handbewegung die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen, hinters Ohr. Es musste ordentlich Gewicht aushalten und hatte sich vielleicht deshalb nach und nach immer weiter abgewinkelt.