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Die Wanderniere - Leseprobe

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Die Wanderniere - Leseprobe
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Kathrin Brückmann

Die Wanderniere - Leseprobe

Ein Abenteuer im Reich der Mitte

Dieses eBook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwärts

Die Wanderniere

Impressum

Vorwärts

Das Cover stammt von der Künstlerin und Illustratorin Hannah Böving,

die mich auch beim Schreiben dieser Geschichte zu so manchem inspiriert hat.

Weitere großartige Werke von ihr finden sich auf

http://hannahboeving.com/

Außerdem möchte ich der Autorin Anke Dietrich für viele hilfreiche Tipps

und wiederholtes Korrekturlesen danken.

Ich widme diese Geschichte dem Andenken an Georg Kreisler,

dessen Lied

»Die Wanderniere«

mir stets ein großer Quell der Freude war.

Die Wanderniere

Ein durchdringender Schrei riss Reckless aus dem Schlaf und ließ beinahe all seine Säfte gerinnen.

Was war das wieder für eine Sache?Würde jetzt geschehen, wovon die Flüsse erzählten? Würden die Götter von Auswärts die Decke durchstoßen und sie alle vernichten?

Natürlich war der Klang, wie alle Geräusche, die von Auswärts kamen, gedämpft. Schließlich hatte das Reich der Mitte einen dicken, schützenden Mantel um sich herum. Er bewahrte es vor Angriffen und ließ seine Bewohner in seligem Dunkel vor sich hindämmern. Der Schrei aber war gefährlich nah an dieser Hülle gewesen – und zudem sehr laut.

Die Situation war so außergewöhnlich, dass Reckless nicht in sein Bett zurücksank, sondern sich aufrichtete und verwundert schüttelte. Dabei rutschte ihm sein Häubchen herab, und in seiner Verwirrung vergaß er ganz, es wieder aufzusetzen.

Schon seit geraumer Zeit waren ihm Dinge aufgefallen. Dinge, die neu waren und ungewohnt. Es wurde gemunkelt, im Reich der Mitte treibe ein Fremdorgan sein Unwesen, das um so größer werde, je mehr man es fütterte. Daran musste etwas Wahres sein, denn tatsächlich schien etwas Fremdes immer mehr Platz zu beanspruchen und ungeheuren Appetit zu haben. Es benahm sich somit alles andere als organisch. Zunächst war Reckless‘ Bett ein wenig zur Seite gerückt worden, dann noch ein Stückchen. Es hatte ihn nicht weiter gestört. Doch dann hatte sich der Riese immer breiter gemacht, sodass es seit geraumer Zeit kaum noch Platz für die Bewohner des Reichs der Mitte gab. Zudem hatte Reckless entsetzt mit ansehen müssen, wie sein geliebtes Fettpolster mehr und mehr dahinzuschmelzen begann.

Statt sich dafür zu bedanken, wie es sich gehörte, hatte der Riese dann auch noch begonnen, ihn anzugreifen. Er stieß und knuffte alles um sich herum; ein wütendes Wesen. Oft genug war Reckless selbst Ziel eines solchen Stoßes gewesen, der ihn fast aus dem Bett hatte fallen lassen. Empört krümmte er sich bei dieser Erinnerung. Derlei war man im Reich der Mitte nicht gewohnt, in dem alles eher sachte vor sich hin wogte.

Was nun Auswärts betraf, so war man sich darüber einig, dass es nicht mit den Nachbarreichen vergleichbar war, die das Reich der Mitte säumten. Es war das Reich der Götter. Kein Mittianer hatte es bisher zu Gesicht bekommen, und niemand wollte es. Im Gegenteil. Jeder Bewohner des Reichs der Mitte war bestrebt, die Götter gnädig zu stimmen, damit diese nicht den schützenden Mantel durchstießen, um sie in ihr Reich zu holen.

Reckless schüttelte sich bei dieser Vorstellung.

Er hatte von den Roten Flüssen erfahren, dass es manchmal Risse in der Oberfläche der Schutzhülle gab. Die Flüsse erfuhren es sofort, denn ihre Aufgabe bestand nicht nur in der Beschaffung von Nahrung für die Mittianer, sondern auch in der Bewachung der Reichsgrenzen. Sie kamen in jeden Winkel des Systems, sogar in die unwegsamen Nachbarreiche, die von den Mittianern wegen ihrer Kargheit und extremen Unwegsamkeit Extremitäten genannt und deshalb gemieden wurden. Die Roten Flüsse hingegen durchmaßen auch diese Regionen. Sie waren sofort zur Stelle, wenn sich ein Riss im Schutzmantel gebildet hatte, selbst wenn es für sie bedeutete, dass Teile von ihnen ins Auswärts eingingen.

Tapfere Flüsse!

Reckless seufzte. Er liebte Geschichten, besonders solche, die von heldenhaften Taten berichteten. Leider wiederholten sich die Geschichten; er kannte sie inzwischen alle. Es geschah so selten Neues im Reich der Mitte! Das Dasein verlief stets in den gleichen Bahnen, was allerdings, wie er sich eingestehen musste, auch etwas Beruhigendes hatte. Er kannte seinen Platz im System der Organe von Mitte und versah seine Aufgaben zuverlässig. Täte er es nicht, würden die Götter zürnen, so zumindest kündeten die Flüsse. Wer konnte es ihm jedoch verdenken, dass er von Freiheit und Abenteuer träumte? Wie sehr er sich wünschte, eine Aufgabe zu bekommen, die wahren Heldenmut erforderte!