Halbe-Halbe, einmal und immer

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18 – Sophie bezog ein kleines,

noch nicht renoviertes Zimmer im Obergeschoss des Hauses, gegenüber dem Kinderzimmer. Weil sie frühes Aufstehen gewohnt war und weil sie anfangs etwas brauchte, das sie von ihrem Unglück ablenkte, übernahm sie es, die Morgenroutine der Familie abzuwickeln. Während Sabine im Bett bleiben konnte, bereitete Sophie Frühstück für Holger und Marie, machte das Kind für den Kindergarten fertig und fuhr es hin.

An einem dieser Morgen bedankte sich Holger. Sophie wehrte ab. »Ich muss mich bedanken«, sagte sie. »Wer weiß, wo ich ohne euch wäre. Ihr helft mir sehr, da ist es doch das Mindeste, dass ich mich ein bisschen nützlich mache.«

»Ehrlich gesagt, Sophie, bin ich froh, dass du hier bist, jetzt wo Bine so unbeweglich ist und kurz vor der Entbindung steht. Du bist sozusagen zur richtigen Zeit gekommen. Ich gehe ruhiger aus dem Haus, wenn ich weiß, dass du auf sie aufpasst.«

»Mach dir keine Sorgen, Holger«, sagte Sophie. »Ich passe auf.«

Sie erzählte Sabine später von der Unterhaltung. Die zuckte die Schultern. »Welche Sorgen? Schwangerschaft und Entbindung sind vielleicht mühsam, aber keine Krankheiten«, sagte sie. »Da muss man sich erst mal keine Sorgen machen. Wenn es gefährlich wäre, gäbe es nicht jedes Jahr hundert Millionen neue Menschen auf der Welt.«

»Du siehst das aber wirklich sehr entspannt. Hoffentlich schaffe ich das auch, wenn ich endlich einmal an der Reihe bin.«

»Weißt du was?«, sagte Sabine. »Du wirst mich in den Kreißsaal begleiten und mir bei der Entbindung die Hand halten.«

»Ich?«

»Klar. Du. Da kriegst du mal live mit, wie das ist, was du dir wünschst.«

»Aber … willst du nicht Holger dabeihaben?«

»Gott bewahre, nein! Der muss das nicht miterleben. Ich will nicht, dass mein Mann zusieht – oder irgendein Mann, wenn es sich vermeiden lässt – wie ich schwitzend und stöhnend unter mörderischen Schmerzen mit weit gespreizten Beinen ein Kind aus meiner überdehnten Vagina presse. Und all das, was da sonst noch aus mir rauskommt.«

»Du kannst einem echt Laune machen«, sagte Sophie.

»Das ist kein Anblick, den Holger im Kopf haben sollte, wenn ich Samstag abends im Bett zu ihm hinüberrücke. Ich will nämlich noch zwanzig Jahre Sex haben, und darum soll mich mein Mann auch und gerade untenrum hübsch und lecker finden, verstehst du?«

19 – An jedem zweiten Tag

fuhr Sophie in ihre (ehemalige) Wohnung, sah nach der Post und holte sich hin und wieder Kleidung zum Wechseln oder einige ihrer Kosmetika. Bevor sie den Fahrstuhl betrat, um sich in den siebten Stock bringen zu lassen, drehte sie immer erst einmal eine Runde durch die Straßen und über die Parkplätze in der Umgebung, um sicherzugehen, dass Jens zur Arbeit gefahren war. Sie wollte ihn nicht treffen. Die Demütigung, die er ihr zugefügt hatte, war tief, die Verwundung noch zu frisch und ihr Selbstvertrauen erschüttert. Indem sie ihm aus dem Weg ging, hoffte sie sich zu erholen. Tatsächlich entfernten sich Jens und das Leben mit ihm überraschend schnell und schmerzlos aus Sophies Gedanken und Gefühlen, oder jedenfalls kam es ihr so vor. Als sie sich dessen bewusst wurde, war sie zwar erleichtert, bekam aber auch ein schlechtes Gewissen. Ist das normal, fragte sie sich, dass man jemanden, mit dem man fünf, sechs Jahre eng und ausschließlich zusammengelebt hat, in zwei, drei Wochen und ohne Schwierigkeiten hinter sich lassen kann? Einfach so? Man geht sich aus dem Weg, und das war’s? Bin ich vielleicht irgendwie gefühlskalt? Gewissenlos? Müsste ich nicht etwas tun? Müsste nicht noch etwas kommen? So etwas wie eine Trennungsverhandlung wie bei einer Scheidung, eine Art abschließendes Ritual, ein letztes Gespräch? (Eine Abrechnung?) Oder wenigstens eine SMS? Weil Sophie keine Antworten auf diese und andere ähnliche Fragen hatte, entschied sie, einfach nichts zu tun, bis das, warum auch immer, nicht mehr möglich sein würde. Und außerdem, fand sie, hatte sie die Beziehung ja nicht zum Einsturz gebracht. Es war also nicht an ihr, die Trümmer zu sortieren.

Der Wohnung sah man zunehmend an, dass Jens es nicht gewohnt war, für sich selbst zu sorgen. Sie roch auch anders als früher. Die Einrichtung verstaubte. Immer wieder fand Sophie schmutziges Geschirr in der Spüle, obwohl der Geschirrspüler nicht voll war und sein Inhalt schon zu stinken begann, weil er nicht eingeschaltet wurde. Auf dem Couchtisch standen regelmäßig ein oder mehrere Gläser oder eine Tasse, vom Abend zuvor zurückgelassen, und hin und wieder ein Pizzakarton oder eine halb geleerte Chipstüte. Der Bettwäsche sah man schon von der Schlafzimmertür aus an, dass sie gewechselt werden musste. Waschbecken und Badewanne hatten Schmutzränder, und der Badezimmerspiegel war mit Zahnpastaspritzern gesprenkelt. Immerhin war der Toilettendeckel geschlossen. Sophie verzichtete darauf, ihn anzuheben oder die Toilette überhaupt zu benutzen. Die ersten Male, die sie nach ihrem Auszug in ihr ehemaliges Zuhause zurückkam, konnte sie sich nur mit Mühe davon abhalten, aufzuräumen und Staub zu saugen. Später ließ der Drang nach. In dem Maß, in dem die Wohnung schleichend verwahrloste, wurde sie ihr fremd und gleichgültig, und sie fühlte sich nicht mehr verantwortlich.

Die Post bot keine Überraschungen. Das Grundbuchamt Küstrow sandte ihr einen Grundbuchauszug, in dem sie, Sophie Schatz, geboren am …, wohnhaft … als neue Eigentümerin nach Marie Luise Berkemann, geb. Schatz im Grundbuch von Küstrow für die Liegenschaft Flur 16, Flurstück 91, Haus und Grundstück Grobitzer Landstraße 210, 10.414 Quadratmeter, ausgewiesen wurde. (Sophie fotokopierte den Auszug und schickte ihn zusammen mit dem ausgefüllten und unterschriebenen Vermittlungsvertrag an den Raucher in der Immobilienabteilung der Bank in Küstrow). Absagen auf Bewerbungen kamen in unregelmäßiger Folge per E-Mail. Seit sie bei Sabine und Holger wohnte, hatte Sophie ihre Arbeitssuche auf die gesamte Bundesrepublik ausgeweitet. Es gab für sie keinen Grund mehr, nicht umzuziehen. Wäre sie drei Monate früher hellsichtiger gewesen, hätte sie gar nicht erst gekündigt, sondern wäre gleich ihrem Job nachgereist. Aber nun … Sophie bemühte sich mit aller Kraft, Was-wäre-wenn-Gedanken nicht zu denken und Hätte-ich-nur-Überlegungen zu vermeiden. Die Dinge sind, wie sie sind, sagte sie sich. Akzeptiere ich das und setze einen Fuß vor den anderen, werde ich schon irgendwo ankommen. Hauptsache, die grobe Richtung stimmt.

Wenn Sophie nicht als Haushaltshilfe für Sabine zu tun hatte oder auf Arbeitssuche vor ihrem Rechner saß, half sie bei der Renovierung des Hauses. Sie riss abgenutzten Teppichboden heraus, löste alte Tapeten ab und füllte damit schwarze Müllsäcke. Mehrere Ladungen von ihnen fuhr sie zu einem Entsorger. Holger brachte ihr bei, mit einem flexiblen Spachtel und einer Glättkelle umzugehen. Dann spachtelte sie Risse, Narben und Unregelmäßigkeiten an Wänden und Decke eines Zimmers und glättete sie danach mit einer dünnen Schicht Gipsputz. Es dauerte einen halben Nachmittag, bis Sophie es heraushatte, die Putzmasse ohne Klumpen weder zu dick noch zu dünnflüssig anzurühren, sie ohne bedeutende Transportverluste an Wand oder Decke zu bekommen und sie dann gleichmäßig glatt und dünn zu verstreichen. Ehe sie sich entschloss, dabei eine Mütze zu tragen, hatte sie schon reichlich Putz in den Haaren, und als sie abends fertig war, sah sie aus, als wäre sie unter einen Schwarm ärgerlicher Möwen geraten. Am Tag darauf hatte sie Muskelkater in Schulter- und Trapezmuskeln.

An einem Dienstagmorgen, zwei Tage vor dem errechneten Geburtstermin, wartete Sabine schon an der Haustür auf Sophie, als die vom Kindergarten zurückkam. Die Wehen hatten eingesetzt. Sie fuhren ins Krankenhaus. Drei Stunden später gebar Sabine einen acht Pfund schweren Jungen. Erst als alles vorüber war, sie und das Kind sich von den Anstrengungen der Geburt erholt hatten und in einem Einzelzimmer lagen, der Kleine an der Brust der Mutter, erlaubte Sabine Sophie, Holger anzurufen und Mariechen aus dem Kindergarten zu holen. Holger war gerührt, als er seine Frau und sein neues Kind sah, und er rührte Sophie, wie er so unverstellt glücklich war, zärtlich und fürsorglich seiner Frau und seinen Kindern zugewandt, ein guter Vater, ein guter Mann. Mariechen war von ihrem Brüderchen fasziniert.

»Das arme Kerlchen«, meinte Sabine, »er wird sein Leben lang eine große Schwester haben. Das ist ein hartes Schicksal.«

Der Junge sollte Robert heißen, ein Name, von dem die Eltern hofften, dass er sie dafür nie hassen würde, und der gleichermaßen weit entfernt war von Kevin wie von Tristan oder Finn-Thorben.

20 – In dem allgemeinen Trubel,

der mit Besuchen von Großeltern, Onkeln, Tanten, Nichten und Neffen, von Freunden und Kollegen der Eltern um das neue Kind entstand, hätte Sophie fast eine E-Mail an sie von der Volksbank Küstrow übersehen. Im Betreff stand »Grobitzer Landstraße 210; Objekt Nr. …bla bla … bitte rufen Sie uns an.« Sophies Herz hüpfte: Die Bank musste einen Käufer für ihr altes Haus gefunden haben. Freudig erregt rief sie an. Der Mann, mit dem sie sprach, war nicht der Raucher. Die Stimme klang jung.

»Frau Schatz«, sagte die junge Stimme nach der Begrüßung, »aus betrieblichen Gründen bereinigen wir zurzeit unser Immobilienangebot, und haben …«

»Moment«, sagte Sophie: »Mit wem spreche ich? Sie sind nicht der, mit dem ich vor ein paar Wochen zu tun hatte.«

»Nein, der Herr, äh … ist bei uns ausgeschieden. Ich leite jetzt die Immobilienabteilung. Wir bereinigen zurzeit unser …«

 

Sophie wusste, was ›bereinigen‹ zu bedeuten hatte. Ihre Laune sank schlagartig. Vor ihrem inneren Auge sah sie den neuen Leiter der Immobilienabteilung der Volksbank Küstrow vor sich: einen übereifrigen, aufstiegsorientierten Typen, nicht älter als sie selbst, der einen für seine Verhältnisse zu teuren Anzug trug und dazu billige Schuhe. Sie unterbrach ihn zum zweiten Mal.

»Machen Sie es kurz, Herr Wie-war-noch-mal-Ihr-Name. Sie werfen mich raus, nicht wahr? Sie wollen das Haus nicht länger anbieten.«

»Wir müssen unsere Immobilienvermittlung wirtschaftlich betreiben«, sagte der junge Mann. »Aufträge, bei denen unser Aufwand für die Vermittlung kalkulatorisch größer ist als die zu erwartende Provision, können wir nicht bearbeiten. Wäre Ihr Objekt gebrauchsfertig renoviert, sähe das natürlich anders aus.«

Wäre mein Haus renoviert, dann bräuchte ich dich und deine Bank nicht, dachte Sophie.

»Wenn es einmal renoviert ist«, sagte der junge Mann, als hätte er Sophies Gedanken gelesen, »stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Heute sind Sie besser bei einem Immobilienmakler aufgehoben. Wir schicken Ihnen Ihren Vermittlungsauftrag und die Schlüssel zusammen mit der Kündigung in den nächsten Tagen zu.«

Sophie legte auf.

Alles zurück auf Anfang. Sie ließ das Gespräch mit dem Mann von der Volksbank zwei Tage lang sacken, auch mit der vagen Hoffnung, dass ihr vielleicht in dieser Zeit irgendetwas Geniales einfallen oder gar ein Wunder geschehen würde. Aber das tat es nicht. Schließlich suchte und fand sie im Internet zwei Immobilienmakler, die in und um Küstrow aktiv waren. Sie überlegte, die beiden anzumailen, verwarf den Gedanken aber wieder. Bei E-Mails und Post konnte man nicht sicher sein, wann oder ob sie überhaupt gelesen wurden, und auch nicht, ob man überhaupt eine Antwort bekam. Sophie wollte und konnte nicht warten. Telefonieren kam ebenfalls nicht infrage. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie einfach es war, einen Anrufer abzuwimmeln. All das im Kopf, und nachdem sie einige Zeit mit sich selbst gerungen hatte, beschloss sie, noch einmal nach Küstrow zu fahren – nicht ohne Hintergedanken, einen, den sie fast nicht zu denken wagte. Denn wenn sie einmal dort war, dann konnte sie vielleicht (vielleicht …) den netten Zimmermann mit den schönen Augen, dem hübschen Hund und dem alten Landrover anrufen. Und vielleicht würde er sich ja nicht rausreden oder entschuldigen, sondern noch einmal mit ihr essen gehen und sie noch einmal in seinem klapprigen, aber behaglich warmen Auto spazieren fahren. Im Grunde war es der Hintergedanke, der Sophie den entscheidenden Schubs gab. Bis die Kündigung des Vermittlungsvertrags und die Schlüssel ihres Hauses bei ihr ankamen, war im Haushalt ihrer Gastgeber wieder Normalität eingekehrt. Um den kleinen Robert herum hatte sich eine Routine eingespielt. Sabine musste nicht mehr auf einem Kissen sitzen und konnte Mariechen selbst in den Kindergarten bringen.

Sophie packte einen kleinen Rollkoffer, um zum zweiten Mal nach Brandenburg zu fahren.

21 – Am Abend vor ihrer Abreise

bekam sie eine WhatsApp-Nachricht von Jens. Sie hatte damit gerechnet, dass er sich noch einmal bei ihr melden würde, wenn auch vielleicht nur aus organisatorischen Gründen. Schließlich gab es eine gemeinsame Wohnung, und so ziemlich alles, was Sophie besaß, befand sich noch dort. Aber sie erschrak doch, als sie seine Mitteilung entdeckte: Können wir reden? War sie schon wieder stark genug, um sich mit Jens auseinanderzusetzen? Auf jeden Fall war sie nicht vorbereitet. In den drei Wochen mit Sabine, Mariechen und Holger hatte sie geradezu hektisch alles Mögliche getan, aber sich nicht darauf eingestellt, Jens noch einmal gegenüberzutreten. Nun versuchte sie sich auszumalen, was auf sie zukommen würde, wenn sie mit Ja antwortete. Was bedeutete ›Können wir reden‹? Hieß es: ›Es tut mir‹ leid oder ›Stell dich nicht so an‹? Hieß es: ›Bitte komm zurück zu mir‹ oder ›Wann packst du deine Sachen, ich brauche den Platz‹? Was immer es hieß, sie fürchtete sich davor. Von allem, wovon sie nicht wusste, wie es weitergehen würde, war ihr die Zukunft ihrer Beziehung am wenigsten klar. Weder konnte sie weiter bestehen wie bisher, wenn überhaupt … noch war Sophie darauf vorbereitet, als Single zu leben. Sie war zwar ein Einzelkind, aber nie allein gewesen. Erst war sie Mitglied einer Familie, dann Teil eines Paares. Dazwischen gab es nichts. Seit sich ihre Familie aufgelöst hatte, nach dem Tod des Vaters und dem Umzug der Mutter nach Spanien, war ihr Jens in all seiner Unvollkommenheit ein Anker (gewesen), fester Boden unter den Füßen. Nicht, weil er ein guter Partner war, sondern weil er eben da war. Sie hatte sich an ihn gewöhnt. Wenn er sie nun um einen Neuanfang bat – würde sie einwilligen, weil sie an ihn gewöhnt war? Und mit seiner Untreue leben lernen? Warum nicht? Andere Frauen konnten das auch, wahrscheinlich sogar die meisten. Die Alternative dazu war, jedenfalls vorübergehend (hoffentlich nur vorübergehend), ein Singledasein. Das kannte sie zwar nicht, doch es konnte nicht so schwer sein. Zigtausende Frauen in ihrem Alter lebten ungebunden. Es war quasi der Normalfall. Allerdings – Single, ohne Angehörige und arbeitslos und wohnungslos und verschuldet, das war vielleicht eine Spur zu viel Ungebundenheit …

Im Grunde fürchtete Sophie das endgültige Aus ihrer Beziehung ebenso wie die Fortsetzung.

Können wir reden? Sie starrte auf das Display ihres Telefons. Was sollte sie antworten? Nichts? Welche anderen Möglichkeiten hatte sie? Ja. Nein. Was willst du. Nicht jetzt. ›Nicht jetzt‹ gefiel ihr am besten. Es verschaffte ihr Zeit. Es verschob Auseinandersetzungen, die sie nicht führen mochte, und Entscheidungen, die sie nicht treffen konnte oder wollte.

Sophie tippte ›Später‹ und drückte ›senden‹.

22 – Als Stadtkind

hatte Sophie ihr ganzes Leben in einem Ballungsgebiet verbracht. Ganz gleich, wo man war oder wohin man ging und fuhr, überall war der Horizont verbaut. Weites und offenes Land wie im nördlichen Brandenburg war sie nicht gewohnt, und daher wirkte die Landschaft stark auf sie. Die endlosen Felder, schwarze Wälder in der Ferne, ein niedriger Horizont und ein hoher, leerer Himmel konnten, besonders im Winter, einem Betrachter eintönig erscheinen; für Sophie hatte die Landschaft etwas Großartiges. Brandenburg, fand sie, war wie gemacht dafür, in Siebzig-Millimeter-Panavision abgefilmt zu werden.

Sophie war wieder an einem Sonntag losgefahren. Die Gegend um Küstrow und die Stadt selbst hatten sich seit ihrem ersten Besuch nicht verändert. Es lag zwar viel mehr Schnee als noch vor vier Wochen, aber der taute an den Stellen, die der Sonne (wenn sie denn schien) besonders ausgesetzt waren, schon wieder weg. Die dunklen Flecken an südwärts geneigten Rainen und Hausdächern, an Straßen- und Grabenböschungen zeigten, dass der Winter bald ein Ende haben würde. Aber es war ja auch schon fast März.

Sie quartierte sich in demselben Hotel ein wie bei ihrem ersten Besuch, obwohl es keine Wannen in seinen Bädern gab. Sie aß in demselben vietnamesischen Imbiss zu Abend wie vier Wochen zuvor, denn das Essen war gut und günstig, und das ließ sie in Kauf nehmen, dass ihre Kleidung danach streng nach asiatischer Küche roch. In der Tankstelle nebenan kaufte sie wieder Wein und Wasser für einen Abend mit einem unterirdischen, von Werbung zerfledderten Fernsehprogramm. Ein halber Tag hinter dem Steuer, ein Abendessen, ein Glas Wein und eine Stunde Fernsehen machten sie zuverlässig schläfrig. Sie stellte einen Wecker, den sie dieses Mal nicht vergessen hatte, und ging früh zu Bett.

Am nächsten Morgen, nach einem hastigen Hotelfrühstück und kaum, dass es hell war, fuhr Sophie nach Grobitz. Ihr Erbe stand scheinbar unverändert da, wie sie es verlassen hatte. Sie parkte am Straßenrand, umrundete vorsichtig die Eisfläche, in der sie vor vier Wochen eingebrochen war, und stapfte zweihundert Meter durch den verharschten Schnee die Anhöhe hinauf. Dabei fotografierte sie Haus und Umgebung mit einer kleinen Kamera, die sie von Sabine geliehen hatte. Erst auf dem Display fiel ihr auf, dass etwas anders war als bei ihrem ersten Besuch. Sie ließ die Kamera sinken und suchte mit bloßem Auge nach einer Veränderung.

Das Dach …

An der Stelle am Dach, die über einer Hausecke eingesackt war, fehlten die verrutschten Dachziegel. Auf die Balken und Sparren war schwarze Plastikfolie gespannt. Die vorher lose Dachrinne war befestigt und das Fallrohr wieder angeschlossen. Auch das Fenster, dessen Läden fehlten und das keine Scheiben mehr hatte, war mit Folie verschlossen.

Der Zimmermann! Sophies Herz hüpfte. Ihr wurde ganz warm vor Freude und Dankbarkeit, sogar an den Füßen. Was für ein rundherum netter Typ, dachte sie. Der gibt einem echt den Glauben an die Menschheit zurück. Sie entschied endgültig, ihn anzurufen, wenn all ihre Angelegenheiten in Küstrow geregelt waren. Beschwingt setzte sie ihren Marsch durch den Schnee fort, umrundete und fotografierte das Haus von allen Seiten und zuletzt auch noch mithilfe des Blitzlichts die Eingangshalle und die Treppe ins obere Stockwerk. Zurück in ihrem Wagen überspielte sie die Bilddateien auf ihr Notebook und machte sich auf den Weg zurück nach Küstrow.

Dort suchte sie den Makler auf, dessen Auftritt im Internet ihr am meisten imponiert hatte. Er residierte im Zentrum von Küstrow in einem schön restaurierten alten Bürgerhaus. Auf einer polierten Messingtafel neben der schweren, zweiflügeligen Eingangstür aus goldgelbem Holz war der Firmenname eingraviert. Die Tür und die Messingtafel warnten Sophie, aber ehe sie sich darüber klar wurde, wovor, war sie schon eingetreten und stand im Empfang der Firma. Der große Raum war bis auf ein paar Sitzmöbel aus Edelstahl und Leder und je ein Bild an jeder der vier cremeweiß gestrichenen Wände leer und von Halogenstrahlern schattenlos ausgeleuchtet. Sophies Schritte auf den Schieferplatten des Bodenbelags hallten in der Leere nach. Mit ihren nassen Schuhen, dem unförmigen Mantel und der vermutlich unordentlichen Frisur (sie betastete rasch ihre Haare und schob eine dicke, lose Strähne hinter ihr abstehendes Ohr) fühlte sie sich plötzlich in dieser klinisch anmutenden Umgebung fehl am Platz. In dem Moment, als sie sich wieder zu gehen entschloss, erschien wie aus dem Nichts hereingebeamt eine elegante, junge Frau, um sie zu empfangen. Kurz darauf saß Sophie in einem Büro einer anderen Frau, der Maklerin, gegenüber. Sie sah aus, als wäre sie seit vielen Jahren vierzig Jahre alt und als würde sie ein Reitpferd besitzen. Ihr Büro war fast ebenso kahl wie der Empfangsraum, der Schreibtisch aus poliertem Edelstahl und schwarzem Holz, der Rechner von Apple. Sie hörte ihrer Besucherin höflich, aber offensichtlich interesselos zu und sah sich die Bilder, die Sophie ihr auf dem Display ihres Notebooks präsentierte, nur flüchtig an. Als sie dann selbst sprach, wurde klar, warum.

»Grobitzer 210 kennen wir, Frau Schatz.«

»Ach ja? Haben Sie auch versucht, meiner Großtante einen Käufer zu vermitteln?«

»Nein. Aber wir kennen grundsätzlich alle Objekte in unserer Region, die zum Verkauf stehen. Außerdem die, die frei oder vererbt werden, jetzt, demnächst oder in absehbarer Zukunft. Wir studieren Luftbilder, wir hören uns um, wir recherchieren, wir forschen im Grundbuch nach und lesen die Todesanzeigen und die standesamtlichen Nachrichten. Das ist unser Job. Wir kennen auch den Zustand und den Wert all dieser Häuser und Grundstücke, aktuell und potenziell. Wir warten nicht darauf, dass uns etwas ins Büro geschneit kommt. Wir spüren lohnende Vermittlungen und potente Kunden auf. Was ich damit sagen will, Frau Schatz: Wenn uns Ihre Immobilie interessierte, wären wir schon auf Sie zugekommen. Und dass wir nicht interessiert sind, liegt daran, dass das Objekt zurzeit leider nicht verkäuflich ist.«

»Das habe ich schon einmal gehört«, sagte Sophie und dachte: Um das zu hören, bin ich nicht gekommen.

»Nun, dann wissen Sie ja auch, warum. Um das Haus verkäuflich zu machen, müsste es restauriert, renoviert, modernisiert werden. In seinem jetzigen Zustand ist es ein enormes Wagnis für einen Käufer. Mit ein wenig Pech, dem falschen Architekten oder der falschen Baufirma und mit der Denkmalschutzbehörde auf den Fersen können die Kosten einer Sanierung schnell aus dem Ruder laufen. Dann bekommt man beim Wiederverkauf sein Geld nicht wieder raus, ganz zu Schweigen von einem Gewinn. Dieses Risiko tut sich kein Investor an. Verstehen Sie?«

 

»Natürlich verstehe ich das.« Ich bin ja nicht blöd. Sophie klappte ihr Notebook zu, packte es in ihre Tasche und machte sich fertig zu gehen.

»Ich bedaure, dass ich im Moment nicht mehr für Sie tun kann«, sagte die Maklerin. »Ich kann Ihnen nur raten, das Haus auf eigenes Risiko zu restaurieren, und es dann noch einmal auf den Markt zu bringen. Je nach Zustand und Ausstattung könnten wir dann irgendetwas zwischen einer Viertel- und einer halben Million erzielen.«

Sophie stand auf. »Vielen Dank für Ihre Zeit«, sagte sie und dachte, danke für nichts.

»Sprechen Sie ruhig einmal mit einem Architekten, Frau Schatz. Es könnte sich lohnen«, sagte die Maklerin, als Sophie schon auf dem Weg zur Tür war.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit beiden Küstrower Immobilienmaklern zu sprechen, wenn ihr der Erste nicht weiterhalf. Aber als Sophie auf der Straße stand, war ihr die Aussicht auf ein weiteres, voraussichtlich ebenso ergebnisloses und deshalb unerfreuliches Gespräch gründlich zuwider. Der Montag war noch nicht einmal halb vorbei, und sie hatte schon so viel Geringschätzung und herablassende Belehrung abbekommen, dass es für eine ganze Woche reichte. Für diesen Tag (und überhaupt) hatte sie die Nase voll von Immobilienmaklern. Zugleich war ihr aber auch bewusst, dass sie ihre Bemühungen nicht einfach einstellen konnte. Sie wäre sonst tausend Kilometer gefahren, nur um ein paar Fotos zu machen und sich einen abfälligen Vortrag anzuhören. Ihr Problem, das angeblich unverkäufliche geerbte Haus, verschwand nicht, wenn sie sich nicht damit befasste. Also musste eine Lösung her – und nach Sophies Überzeugung war kein Problem unlösbar. Alles war nur eine Frage der Herangehensweise.

So in Gedanken lief sie ohne ein bestimmtes Ziel durch die Stadt und geriet dabei in Küstrows Fußgängerzone. Außer dass die ein wenig neuer und sauberer war als die durchschnittliche deutsche Standardfußgängerzone, hätte sie überall sein können. Der gleiche Straßenbelag, die gleichen Lampen, die gleichen Bettler, die gleichen Geschäfte: Douglas, Deichmann, Fielmann Kik und Kamps, zwei Telefonläden und ein Dönerimbiss. Immerhin gab es auch einen stylishen Coffeeshop. Weil sie durch das Fenster des Shops jemanden über ein Tablet wischen sah, trat sie ein, erfuhr auf Nachfrage, dass es offenes WLAN gab, und bestellte einen Cappuccino. Sie suchte sich einen ruhigen Platz und klappte ihr Notebook auf.

Sprechen Sie ruhig einmal mit einem Architekten, hatte die Maklerin gesagt.

Sophie glaubte zwar nicht, dass ihr ein Architekt beim Verkauf ihres Hauses weiterhelfen konnte, aber sie konnte sich ja einmal anhören, was so jemand zu sagen hatte. Vielleicht lernte sie ja etwas. Im Netz fand sie nur ein Architektenbüro in Küstrow. Es lag außerhalb des Stadtzentrums, und sie rief zur Sicherheit an, bevor sie sich auf den Weg machte. Das Büro war besetzt, der Architekt zu sprechen. Der Fußmarsch aus dem Zentrum Küstrows heraus in ein Wohngebiet am Rand der kleinen Stadt dauerte länger, als sie angenommen hatte. Wie die Maklerin residierte der Architekt in einem alten Bürgerhaus, hatte aber offensichtlich wenig Geld für dessen Renovierung zur Verfügung. Nur das Dach, die Fenster und die Hauseingangstür wirkten einigermaßen neu. Ansonsten war das Haus noch von Alter und DDR-Ruß geschwärzt, der Außenputz rissig und löchrig. Im Vorgarten lagen Haufen von Bauschutt, und in der Einfahrt stand ein alter Saab. Zu einem Messingschild hatte es der Architekt noch nicht gebracht.

Das Büro nahm mehrere Räume im Erdgeschoss des Hauses ein. Sie waren der bei Weitem unaufgeräumteste Arbeitsplatz, den Sophie je gesehen hatte. Der Architekt, ein mittelalter blasser Mann mit einem Rundrücken, bot Sophie Kaffee an. Sein dünnes Haar war grau und zu lang, sein Pullover auch. Er hörte sich an, was Sophie zu erzählen hatte.

»Normalerweise läuft das so, Frau Schatz«, sagte er, als sie geendet hatte, »wir, also ich, sehe mir das Haus an, stelle fest, was gemacht werden muss, suche und beauftrage geeignete Firmen, überwache deren Arbeit und rechne mit ihnen ab. Dabei bin ich Treuhänder des Auftraggebers, und der Auftraggeber wären Sie. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn, äh, Sie es, äh, bezahlen … wenn die Finanzierung gesichert ist.«

»Wie gesagt, ich habe kein Geld.«

»Sprechen Sie mit Ihrer Bank. Es gibt auch Fördermittel des Landes für den Denkmalschutz«, sagte der Architekt.

»Die Bank gibt mir nichts. Aber eigentlich will ich das Haus ja gar nicht restaurieren«, sagte Sophie »Eigentlich suche ich einen Käufer.« Auch diesen Weg hätte ich mir sparen können, dachte sie. Sie klappte ihr Notebook zu und griff nach ihrer Tasche.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte der Architekt schnell. »Sie haben zwar kein Geld, aber Sie haben das Haus. Sie könnten die Restaurierung Ihres Hauses mit dem Haus bezahlen.«

Das stoppte Sophie. Sie sagte: »Wie soll das gehen?«

»Sie überlassen mir das Haus. Für einen symbolischen Preis, sagen wir, für einen Euro. Mit Grundbucheintragung, Vertrag und allem, was dazugehört. Ich wiederum reiche einen Anteil an dem Haus an eine Baufirma weiter, die es dafür restauriert. Dann verkaufen wir es und teilen den Gewinn durch drei.«

»Den Gewinn nach Abzug der Baukosten und Ihres Honorars.«

»Genau.«

»Woher weiß ich, dass es einen Gewinn geben wird?«

»Das weiß man vorher nie, Frau Schatz. Es gibt halt immer Unsicherheiten, gerade am Bau. Aber wenn man etwas verdienen will, muss man es schon mal drauf ankommen lassen. Natürlich könnten wir alle bei so einem Unternehmen drauflegen.«

Ja, klar: Wir alle, dachte Sophie.

»Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen. Überlegen Sie mal: Sie bräuchten keinen Käufer mehr zu suchen, wären die Verantwortung für die Erhaltung des Hauses los, und irgendwann bekämen Sie auch noch Geld – sicherlich mehr als das, was Sie jetzt bekommen, wenn Sie doch noch einen Käufer auftreiben.«

Irgendetwas an dem Vorschlag gefiel ihr, aber sie konnte nicht auf Anhieb sagen, was. Und da war noch ihr Misstrauen. Der Architekt wollte ihr das Haus für einen, für einen Euro! abschwatzen. Egal wie alt, verdreckt und zugemüllt es auch sein mochte, für einen Euro würde sie es nicht hergeben.

Sophie sagte: »Ich habe einen anderen Vorschlag. Zahlen Sie mir 21.400 Euro für das Haus, dann können Sie damit machen, was Sie wollen. Wenn es Ihnen irgendwann einmal Gewinn bringt, dann gehört er ganz Ihnen.«

»21.000, das ist zu viel.«

»Holen Sie sich eine Baufirma mit ins Boot.«

»Auch die gibt nicht im Voraus Geld aus, weil es sonst nachher für die Bezahlung der Renovierung fehlt.«

»Tja … tut mir leid. Da kommen wir wohl nicht miteinander ins Geschäft«, sagte Sophie. »Vielen Dank für Ihre Zeit.«

Sie stand auf und zog ihren Mantel an. Dann ging sie, ohne Handynummer oder Adresse zu hinterlassen. Der Architekt würde sich nicht mehr melden, da war sie ziemlich sicher. Und wenn doch, dann würde er sie schon zu finden wissen.

Auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum dachte Sophie über das Gespräch nach. Auf den ersten Blick mochte es so aussehen, als hätte es schon wieder nichts gebracht, tatsächlich aber hatte sie etwas gelernt. Eine Menge, nämlich:

Sie war nicht arm. Sie hatte nur kein Geld.

Sie besaß das Haus.

Das konnte sie investieren. Anstelle von Geld.

Der Gedanke war gut, fand Sophie, die Renovierung des Hauses mit dem Haus zu bezahlen. Dafür musste sie es nicht vorher verschenken. Jedenfalls nicht ganz. Was sich der Architekt da ausgedacht hatte, das konnte sie auch selbst tun. Der Mann hatte ja kein Patent auf seine Idee.

Bis Sophie wieder das Stadtzentrum erreichte, schmerzten ihre Füße, und in ihrem Kopf hatte sich aus ihren Gedanken und Einsichten ein noch undeutliches Vorhaben geformt. Sie wendete und drehte es im Geist, um es besser erkennbar zu machen, aber es sträubte sich. Darüber war es Mittag geworden. Sie aß in einem Imbiss in der Fußgängerzone einen Cheeseburger im Stehen, trank eine Cola dazu und nahm sich dabei vor, sich irgendwann einmal, am besten bald, gesünder zu ernähren. Dann kehrte sie in ihr Hotel zurück. In ihrem Zimmer zog sie die Schuhe aus, legte sie die Füße hoch und dachte nach. Kurz nach vier rief sie Will Trenck an.

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