Der weiße Affe

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7.
Der ›alte‹ Mont und der ›alte‹ Forsyte

Die Bureaus der P.P.R.G. waren nicht weit vom Wappenamt. Soames, der wußte, daß die ›drei Schilde rechts in rotschraffiertem, dunklem Felde‹ und ein ›dazugehöriger Fasan‹ von seinem Onkel Swithin während der Sechzigerjahre dort mit einigen Kosten erworben worden war, hatte über dieses Gebäude stets die Nase gerümpft; erst vor einem Jahr war er unversehens auf den Namen Golding gestoßen, als er geistesabwesend in einem Buch im Connoisseurs-Klub geblättert hatte. Der betreffende Inhalt sollte beweisen, daß William Shakespeare in Wirklichkeit Edward de Vere, Earl of Oxford, gewesen war. Die Mutter dieses Earl war eine Golding – ebenso wie die Mutter von Soames! Diese Übereinstimmung frappierte ihn, und er las weiter in dem Buche. Der Band ließ ihn zu keinem endgültigen Urteil über die Hauptfrage gelangen, weckte jedoch eine ausgesprochene Neugier in ihm, ob Shakespeares Blut nicht auch in seinen Adern rolle. Selbst wenn der Earl nicht mit dem Barden identisch war, so empfand Soames dennoch, daß eine solche Verbindung für ihn nur ehrenvoll sein könne, obgleich, soweit er es beurteilen konnte, dieser Oxford ein anrüchiger Geselle gewesen sein mußte. Seitdem er vor kurzem in den Aufsichtsrat der P.P.R.G. gewählt worden war, kam er jeden zweiten Dienstag am Wappenamt vorüber; dabei dachte er: ›Viel Geld werd ich nicht dranhängen, aber ich könnte gelegentlich doch hineinschauen.‹ Nachdem er hineingeschaut, war es einfach erstaunlich, wie sehr ihn die ganze Sache interessiert hatte. Die Spuren seiner Mutter zu verfolgen, kam ihm beinahe vor wie die Untersuchung einer Kriminalaffäre; es war fast so kompliziert und ebenso kostspielig. Da er einmal die Sache begonnen hatte, konnte es die Hartnäckigkeit eines Forsyte kaum zulassen, knapp vor der Mutter Shakespeare de Veres halt zu machen, nicht einmal, wenn sie einer Seitenlinie angehörte; unglücklicherweise konnte er über die Zeit Oliver Cromwells nicht hinauskommen und über einen gewissen William Gouldyng, ›Ingerer‹ – Gott allein wußte, was das für ein Beruf war, und Soames hatte fast Angst nachzuforschen. Vier Generationen harrten noch der Entwirrung und dabei verlor er sein Geld und hatte keine Aussicht, irgend etwas dafür zu bekommen. Daher kam es, daß er dem etwas abseits stehenden Gebäude scheele Blicke zuwarf, als er an jenem Dienstag nach dem Lunch bei Fleur auf seinem Weg zur Aufsichtsratssitzung daran vorüberging. Nachdem er wieder zweimal die frühen Morgenstunden schlaflos verbracht hatte, war er zu der unwiderruflichen Überzeugung gelangt, daß er sich endlich Gewißheit verschaffen müsse, wie es eigentlich um die P.P.R.G. stünde. Diese plötzliche Mahnung, daß er mit seinem Geld herumwerfe, nach links, nach rechts, überall hin, wozu noch überdies die allerdings sehr entfernte Möglichkeit finanzieller Haftpflicht kam, spannten seine von bösen Ahnungen bereits angegriffenen Nerven auf die Folter. Während er, ohne den Fahrstuhl zu benützen, langsam die zwei Treppen hinaufstieg, ging er wohl zum fünfzehntenmal seine Kollegen im Aufsichtsrat in Gedanken durch. Der alte Lord Fontenoy saß natürlich nur wegen seines Namens drin, nahm nur selten an den Sitzungen teil und war nur dazu da, damit man mit ihm Staat mache. Was den Vorsitzenden, Sir Luke Sharman, betraf, so schien er unausgesetzt bemüht zu sein, nicht als Jude erkannt zu werden. Seine Nase war zwar gerade, aber seine Augenlider gaben Anlaß zu Zweifeln. Sein Zuname war unantastbar, aber sein Vorname fragwürdig. Seine Stimme war von beruhigender Schneidigkeit, seine Kleider aber um eine Nuance zu elegant. Alles in allem zwar ein durchtriebener Kerl, dem Soames es jedoch trotzdem nicht zutraute, daß er sich mit dem ganzen Herzen auch einer andern Sache widmen könnte. Was den alten Mont betraf – was hatte ein Aufsichtsrat davon, daß ein neunter Baronet dazugehörte? Guy Meyricke, Königlicher Rat, der letzte der drei, die zusammen in Winchester studiert hatten, war zweifellos ein tüchtiger Jurist, aber fürs Geschäft hatte er keine Zeit und auch nicht den rechten Sinn! Blieb nur noch der zu den Quäkern übergetretene alte Cuthbert Mothergill, dessen Familienname durch das ganze letzte Jahrhundert hindurch geradezu sprichwörtlich geworden war für erfolgbringende Lauterkeit des Charakters, so daß man noch immer – fast automatisch – Mothergills zu Aufsichtsräten ernannte; er war ein netter, sauberer, alter Herr, fast taub, harmlos und humorvoll, aber sonst nichts. Zweifellos eine vollkommen ehrliche Gesellschaft, aber oberflächlich und sorglos. Keiner von ihnen war mit seinem Herzen bei der Sache! Obendrein hatte sie Elderson alle in der Tasche, Sharman vielleicht ausgenommen, und auch auf den war kein Verlaß. Und Elderson selbst, ein gescheiter Kerl – vielleicht ein wenig Bohèmenatur –, von Anfang an Generaldirektor, verstand alles aus dem ff! Jawohl! Und das war gerade das Unglück! Das Prestige der überlegenen Geschäftskenntnis und Jahre des Erfolges – alle gingen sie ihm blindlings nach, und es war auch kein Wunder. Das Beunruhigende an einem solchen Menschen war, daß, sobald er einmal zugab, einen Fehler gemacht zu haben, er damit die Legende von seiner Unfehlbarkeit zerstörte. Soames besaß selbst genug Unfehlbarkeit, um sich darüber klar zu sein, wie sehr sie einen Menschen dazu trieb, nie einen Fehler zuzugeben. Als er vor zehn Monaten in den Aufsichtsrat eingetreten war, schien alles in vollem Schwunge. Die Valuten hatten die tiefsten Kurse erreicht, wie man allgemein annahm; die Politik der ›Rückversicherung von Auslandsverträgen‹, die Elderson ungefähr vor einem Jahr eingeführt hatte, schien vielleicht – angesichts der steigenden Kurse – zu den schönsten Hoffnungen zu berechtigen. Und nun, schon nach etwa einem Jahr, hegte Soames den unbestimmten Verdacht, daß sie nicht wußten, wo sie standen; und dabei sollte die Generalversammlung bereits in sechs Wochen stattfinden! Wahrscheinlich wußte es Elderson nicht einmal selbst; wenn er es aber wußte, dann behielt er seine Meinung, die er allen Aufsichtsräten hätte mitteilen müssen, ausschließlich für sich.

Mit verschlossenem Gesicht betrat Soames den Sitzungssaal. Alle waren sie versammelt, sogar Lord Fontenoy und der ›alte Mont‹ – der hatte also doch die Fasane aufgegeben! Soames nahm seinen Platz am Ende des Tisches beim Kamin ein. Während er Elderson anstarrte, ward ihm plötzlich klar, wie stark die Position dieses Menschen war, und ebenso klar sah er, wie schwach die P.P.R.G. war. Bei diesen abwechselnd steigenden und fallenden Kursen konnten sie niemals die genaue Höhe ihrer Verpflichtungen ermessen – sie spielten einfach Hasard. Wie er so, das Kinn in die Hand gestützt, der Verlesung der Protokolle und den andern üblichen Vorgängen zuhörte, ließ er den Blick von Gesicht zu Gesicht schweifen – vom alten Mothergill zu Elderson und Mont gegenüber; zu Sharman an der Spitze des Tisches, Fontenoy und Meyricke und dann zu sich selbst zurück – die entscheidende Aufsichtsratssitzung des Jahres. Er konnte und durfte auf keinen Fall in irgendeine fragwürdige Position geraten! Bei seiner ersten Generalversammlung dieses Unternehmens durfte er den Aktionären nicht gegenübertreten, ohne ganz genau zu wissen, wo er stand. Wieder blickte er Elderson an – einschmeichelnde Züge, ein kahler Schädel fast wie Julius Cäsar, nichts, das auf Mangel an Solidität oder auf übertriebenen Optimismus hätte schließen lassen, es erinnerte ihn eigentlich etwas an den alten Onkel Nicholas Forsyte, der der vorletzten Generation in seinem Geschäftsgebaren so beispielgebend gewesen war. Nachdem der Direktor seine Darlegung beendet hatte, wandte Soames den Blick nach dem rosig-verschlafenen Gesicht des alten Mothergill und erklärte: »Meiner Ansicht nach enthüllt dieser Rechenschaftsbericht keineswegs unsere wahre Lage. Herr Vorsitzender, ich verlange, daß die Sitzung auf heute in einer Woche vertagt wird und daß inzwischen jedes Mitglied des Aufsichtsrates die genauen Einzelheiten der ausländischen Vertragsverpflichtungen erhalten soll, die während des laufenden Rechnungsjahres nicht fällig werden. Wie ich sehe, sind diese Verpflichtungen alle unter einem einzigen Posten ›Allgemeiner Überschlag der Verbindlichkeiten‹ zusammengefaßt. Damit kann ich mich nicht zufrieden geben. Die Verbindlichkeiten sollten getrennt angeführt werden.« Während sein Blick an Elderson vorbei zum Gesicht des alten Mont hinüberschweifte, fuhr er fort: »Wenn sich die Lage auf dem Kontinent nicht wesentlich bessert, was ich nicht erwarte (ganz im Gegenteil), so bin ich überzeugt davon, daß diese Verpflichtungen uns im nächsten Jahr todsicher in eine Sackgasse führen werden.«

Scharren der Füße, unruhiges Hin- und Herrücken, Räuspern – alles gewöhnlich Zeichen einer leisen Empörung – folgten dem Wort ›Sackgasse‹; und eine Art Genugtuung erfüllte Soames; er hatte sie aus ihrer Ruhe aufgescheucht, hatte ihnen etwas von der Angst eingejagt, an der er selber litt.

»Wir haben von Anfang an unsere Verpflichtungen unter dem Posten ›Allgemeiner Überschlag‹ angeführt, Mr. Forsyte.«

Welch ein Diplomat!

»Was nach meiner Meinung unrichtig war. Diese ausländischen Verträge bedeuten eine neue Geschäftspolitik. Nach meiner Ansicht sollten wir in diesem Jahr keine Dividende ausschütten, sondern den Gewinn dazu verwenden, einen sicheren Verlust im nächsten Jahr auszugleichen.«

Neuerliches Rascheln und Unruhe.

»Einfach lächerlich, verehrter Herr!«

In Soames erwachte die schnüffelnde Bulldogge.

»Das sagen Sie gab er zurück. »Erhalte ich die gewünschten Einzelheiten?«

»Natürlich kann der Aufsichtsrat jede gewünschte Einzelheit erfahren. Gestatten Sie mir jedoch die Bemerkung, daß in diesem Falle nur ein Überschlag möglich ist. Wir haben immer auf konservativer Basis operiert.«

»Das ist Ansichtssache«, erwiderte Soames, »und nach meiner Meinung kann der Aufsichtsrat erst nach peinlich genauer Prüfung der vorhandenen Ziffern zu einer solchen Ansicht gelangen.«

 

Nun sprach der alte Mont.

»Mein lieber Forsyte, einen jeden Vertrag zu prüfen, würde uns eine Woche kosten und wir kämen um keinen Schritt vorwärts; wir können nur zu einem Durchschnittsüberschlag kommen.«

»Was aus diesem Bericht nicht zu ersehen ist«, sagte Soames, »ist das Verhältnis unseres Auslandsrisikos zum Inlandsrisiko – unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine überaus wichtige Sache.«

Der Vorsitzende sprach.

»Ich denke, Elderson, daß das keine Schwierigkeiten machen dürfte. Aber auf jeden Fall, Mr. Forsyte, würden wir kaum berechtigt sein, das gegenwärtige Jahr so ungünstig abzuschließen wegen eventueller Verluste, die hoffentlich niemals eintreten werden.«

»Ich weiß nicht«, sagte Soames. »Wir sind hier versammelt, um uns über eine Geschäftspolitik des gesunden Menschenverstandes schlüssig zu werden, und man muß uns jede Möglichkeit dazu geben. Das ist mein Standpunkt. Wir sind nicht genügend informiert.«

Der ›Diplomat‹ ergriff wieder das Wort.

»Mr. Forsytes Worte scheinen einen Mangel an Vertrauen zur Geschäftsleitung anzudeuten.« Aha, der packte den Stier bei den Hörnern!

»Kann ich die gewünschten Informationen erhalten?«

In dem allgemeinen Schweigen erklang beruhigend die Stimme des alten Mothergill: »Die Sitzung könnte vielleicht verschoben werden, Herr Vorsitzender. Zur Not könnte ich ja noch einmal nach London kommen. Wahrscheinlich könnten wir alle anwesend sein. Es sind ganz merkwürdige Zeiten – wir dürfen uns auf kein unnötiges Risiko einlassen. Das Geschäft in ausländischen Verträgen ist zweifellos etwas neu für uns. Bisher haben wir keine Ursache, uns über die Resultate zu beschweren. Und ich bin überzeugt davon, daß wir alle das äußerste Vertrauen in die Urteilsfähigkeit unseres Generaldirektors setzen. Nichtsdestoweniger, da Mr. Forsyte diese Informationen verlangt hat, möchte ich zur Ansicht neigen, daß man sie uns geben sollte. Was sagen Sie dazu, Mylord?«

»Ich kann nächste Woche nicht in die Stadt kommen. Ich schließe mich der Meinung des Vorsitzenden an, daß der Rechenschaftsbericht uns nicht die Handhabe bietet, in diesem Jahr keine Dividende auszuschütten. Wozu denn Alarm blasen, ehe es unbedingt nötig ist! Wann wird der Rechenschaftsbericht ausgeschickt, Elderson?«

»Normalerweise Ende dieser Woche.«

»Das sind aber keine normalen Zeiten«, erklärte Soames. »Kurz und gut, wenn ich diese Informationen nicht erhalte, muß ich meinen Rücktritt anmelden.« Er erkannte recht gut, was in ihnen vorging. Ein Neugebackener, der sich patzig machte – sie würden seinen Rücktritt mit Vergnügen zur Kenntnis nehmen – nur würde es gerade vor einer Generalversammlung unangenehm auffallen, wenn man nicht als Grund ›plötzliche Erkrankung der Gattin‹ oder dergleichen vorschützen könnte – aber er wollte schon dafür sorgen, daß dies nicht möglich wäre.

Der Vorsitzende entgegnete kühl: »Na, dann vertagen wir die Sitzung auf heute in einer Woche. Sie werden uns doch die gewünschten Ziffern verschaffen können, Elderson?«

»Bestimmt.«

Soames durchzuckte der Gedanke: ›Ich sollte eigentlich eine Untersuchung durch die Vertrauensmänner fordern.‹ Aber er sah sie einen nach dem andern an. Vielleicht ging er doch zu weit, wenn er im Aufsichtsrat bleiben wollte – und er wollte ja gar nicht zurücktreten – schließlich handelte es sich um eine bedeutende Position und tausend Pfund im Jahr! Nein! Nur nicht übertreiben!

Im Fortgehen genoß er seinen Triumph, der ihm zweifelhaft schien, durchaus nicht sicher, daß er etwas erreicht hatte. Seine Haltung hatte bewirkt, daß die übrigen sich nur noch dichter um Elderson scharten. Die Schwäche seiner Stellung lag darin, daß er sich nicht auf die geringste Tatsache stützen konnte; und wenn er sein Gefühl der Unruhe einer gründlichen Prüfung unterzog, blieb eigentlich nichts übrig als das Empfinden mangelnder Selbstbeherrschung. Und doch, an der Spitze stehen konnte nur ein Leiter und dem mußte man vertrauen!

Eine geschwätzige Stimme hinter ihm piepste: »Sie, Forsyte, Sie haben uns einen wahren Schrecken eingejagt. So etwas ist meines Erinnerns in unserm Aufsichtsrat noch gar nicht vorgekommen.«

»Fade Gesellschaft«, sagte Soames.

»Gewiß, ich halte gewöhnlich ein Schläfchen dabei. Es wird dort immer sehr heiß. Wäre ich nur auf die Fasanenjagd gegangen! Sie fliegen hoch, sogar zu dieser Jahreszeit.«

Unverbesserlich frivol, dieser geschwätzige Baronet.

»Was ich noch sagen wollte, Forsyte: Bei dieser modernen Geburtenbeschränkung und was dazu gehört, wird man ein wenig unruhig. Wir sind zwar nicht die königliche Familie. Aber pflichten Sie mir nicht bei, daß es schon Zeit für einen Erben wäre?«

Soames war derselben Meinung. Aber er wollte nicht so taktlos sein, etwas dergleichen bei seiner eigenen Tochter zuzugeben.

»Noch Zeit genug«, murmelte er.

»Der Hund paßt mir nicht, Forsyte.«

Soames starrte ihn an. »Der Hund!« sagte er. »Was hat das damit zu tun?«

»Erst das Kind und dann der Hund; Hunde und Dichter verdrehen jungen Frauen den Kopf. Meine Großmutter hatte fünf Kinder, ehe sie siebenundzwanzig war. Sie war eine Montjoy; können Sie sich an die sieben Montjoy-Schwestern erinnern? – alle hübsch – und zur Mutterschaft wie geschaffen. Der alte Montjoy hatte siebenundvierzig Enkel. Das gibt es heutzutage nicht mehr, Forsyte.«

»Das Land ist übervölkert«, sagte Soames grimmig.

»Aber von der falschen Sorte – es sollte weniger von denen übervölkert sein und mehr von unserer Art. Das müßte man eigentlich zum Gesetz erheben.«

»Sprechen Sie mit Ihrem Sohn«, sagte Soames.

»Ah! Aber Sie wissen doch, daß man uns für altmodische Käuze hält. Wenn wir nur auf einen Grund hinweisen könnten, warum man Kinder in die Welt setzen soll! Aber das ist schwer, Forsyte, sehr schwer.«

»Die beiden haben alles, was sie sich wünschen können«, sagte Soames.

»Nicht genug, mein lieber Forsyte, nicht genug; der gegenwärtige Zustand der Dinge geht den Jungen auf die Nerven. England ist zum Teufel gegangen. Der Himmel ist zum Teufel und auch die Hölle. Nirgends liegt eine Zukunft, nur in der Luft. Aber in der Luft kann man nicht zeugen, wenigstens zweifle ich daran – die Schwierigkeiten sind beträchtlich.«

Soames schnaubte. »Wenn nur die Journalisten aufhören wollten, ihre verdammten Schnäbel zu wetzen!« sagte er. Mit abnehmender Panikstimmung in den Tagesblättern gewann er nämlich mehr und mehr das alte gesunde Forsyte-Gefühl der Sicherheit zurück. »Wir müssen nur unsere Finger vom Kontinent lassen«, fügte er hinzu.

»Die Finger davon lassen! Und gute freundschaftliche Beziehungen pflegen mit allen Staaten, die wir auf dem Seeweg erreichen können. Die übrigen sollen allein mit ihrem Schicksal fertig werden. Das ist eine Idee! Forsyte, ich glaube, Sie haben's getroffen.« Wie der Kerl plapperte!

»Ich verstehe nichts von Politik«, sagte Soames.

»Gute freundschaftliche Beziehungen! Das neue Schlagwort. Ganz ohne es zu wollen, haben wir es gefunden! Und was den Handel anbetrifft – die Behauptung, daß wir nicht leben könnten, ohne mit diesem oder jenem Land Handel zu treiben – Quatsch, mein lieber Forsyte! Wir können auch so existieren – die Welt ist groß.«

»Davon verstehe ich nichts«, entgegnete Soames. »Ich weiß nur, daß wir diese ausländischen Versicherungsverträge lösen müssen.« Dann sagte er hastig: »Ich muß mich hier verabschieden, ich gehe zu meiner Tochter.«

»So! Und ich gehe zu meinem Sohn. Schauen Sie sich nur diese armen Teufel an!«

Ein Haufen Arbeitsloser mit Sammelbüchsen in den Händen zog trübselig den Themse-Kai entlang.

»Der Keim der Revolution! Eines wird immer vergessen, Forsyte, und das ist sehr schade.«

»Was denn?« fragte Soames düster. Der Kerl würde den ganzen Tag so weiter quatschen!

»Man wasche die armen Leute, ziehe ihnen hübsche, bunte Kleider an, lehre sie sprechen, wie wir beide sprechen, und der Klassenhaß wird mit einem Schlag verschwinden. Es ist alles Nervensache. Möchten Sie nicht lieber mit einem sauberen, nett gekleideten Handwerker Ihr Schlafzimmer teilen, der sprechen und riechen würde wie Sie, als mit einem Kriegsgewinnler, der mir und mich verwechselt und nach Opopanax stinkt? Natürlich möchten Sie das.«

»Hab's nie versucht«, sagte Soames, »wie soll ich's wissen?«

»Sie nehmen's aber genau! Aber glauben Sie mir, Forsyte, wenn sich die Arbeiterklasse auf Reinlichkeit und Grammatik verlegen wollte anstatt auf ihr politisches und wirtschaftliches Gewäsch, dann wäre die Gleichheit von heut auf morgen da.«

»Ich brauche keine Gleichheit«, sagte Soames, und nahm seine Fahrkarte nach Westminster.

Die geschwätzige Stimme verfolgte ihn, wie er in den Lift der Untergrundbahn einstieg.

»Wenn wir eine Gleichheit der ästhetischen Anschauungen hätten, Forsyte, so würde sich niemand mehr irgendeine andere wünschen. Haben Sie's je erlebt, daß ein armer Teufel von Professor König werden wollte?«

»Nein«, entgegnete Soames und entfaltete seine Zeitung.

8.
Bicket

Unter der Oberfläche fröhlicher Sorglosigkeit hatte Michael Monts Charakter während der letzten zwei Jahre seines regelmäßigen und nicht mehr ziellosen Lebens sich vertieft. Er war gezwungen gewesen, auch an andre zu denken, und seine Zeit war vollauf in Anspruch genommen. Von Anbeginn seiner Ehe wußte er, daß er von Fleur nur geduldet war, und er anerkannte auch die Halbwahrheit: ›Il y a toujours un qui baise et l'autre qui tend la joue‹; so hatte er ein beträchtliches Maß an häuslicher Rücksichtnahme entwickelt. Und dennoch schien es ihm nicht zu gelingen, das Gleichgewicht im allgemeinen oder in seiner beruflichen Tätigkeit wieder herzustellen. Er fand, daß die menschliche Seite des Geschäftes bei ihm die finanzielle Seite zu stark überwiege. Danby & Winter waren ihm jedoch gewachsen und zeigten so weit kein Anzeichen des Bankrotts, den Soames ihnen prophezeit hatte, als er die Grundsätze erfuhr, die sein Schwiegersohn dort einführen wollte. Weder im Verlagsgeschäft noch in irgendeiner andern Lebenslage fand es Michael möglich, ganz nach seinen Ideen zu arbeiten, denn er stieß bei seiner Tätigkeit auf zu viele Tatsachen aus dem Menschen-, Pflanzen- und Mineralreich.

Nachdem er an diesem Dienstag sich lange mit den Preisen für Produkte aus dem Pflanzenreich, nämlich Papier und Leinwand, herumgeschlagen hatte, hörte er mit seinen spitzen Ohren den Klagen eines Packers zu, der mit fünf Exemplaren von ‹Kleine Münze› in der Manteltasche ertappt worden war, die er ganz offenbar zum eigenen Nutzen hatte verkaufen wollen.

Mr. Danby hatte ihn an die Luft gesetzt – der Mann leugnete auch gar nicht, daß er sie hatte verkaufen wollen, aber was hätte Mr. Mont an seiner Stelle getan? Er war die Miete schuldig –, und seine Frau mußte nach einer Lungenentzündung dringend aufgefüttert werden, höchst dringend. ›Hol's der Teufel!‹ dachte Michael, ›ich würde eine ganze Auflage stibitzen, um Fleur nach einer Lungenentzündung wieder aufzufüttern!‹

»Ich komm nicht aus mit meinem Lohn bei den hohen Preisen. Ich komm nicht aus, Mr. Mont, bei Gott!«

Michael drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Aber bedenken Sie doch, Bicket, wenn wir bei Ihnen durch die Finger sehen, dann werden alle Packer stehlen, und wenn das alle tun, wo bleiben dann Danby & Winter? Machen Bankrott. Und wenn wir Bankrott machen, wo kämt dann ihr alle hin? Auf die Straße. Es ist doch besser, daß einer von euch auf die Straße fliegt, als alle, nicht wahr?«

»Ganz gewiß, Sir, ich verstehe Ihren Standpunkt – er ist sehr vernünftig, aber wenn man kaum noch existieren kann, schmeißt einen das Geringste um. Bitten Sie doch Mr. Danby, noch einen Versuch mit mir zu machen.«

»Mr. Danby sagt immer, daß die Arbeit eines Packers eine ganz besondere Vertrauenssache ist, weil eine Kontrolle fast unmöglich ist.«

»Jawohl, Sir, ich werd in Zukunft dran denken; aber bei der großen Arbeitslosigkeit und ohne Zeugnis werd ich niemals einen andern Posten bekommen. Und was soll aus meiner Frau werden?«

Michael war es, als wenn er gesagt hätte: ›Was soll aus Fleur werden?‹ Er begann im Zimmer hin und her zu laufen; und Bicket, der junge Mann, beobachtete ihn mit großen klagenden Augen. Plötzlich blieb er mit eingezogenen Schultern stehen, die Hände tief in den Taschen vergraben.

 

»Ich werd ihn fragen«, erklärte Michael, »aber ich glaube nicht, daß er es tun wird; er wird sagen, es sei den andern gegenüber nicht fair. Sie haben fünf Exemplare genommen – ein starkes Stück, wissen Sie; das bedeutet, daß Sie auch schon vorher ›genommen‹ haben? Was?«

»Na ja, Mr. Mont, wenn mir das vielleicht helfen kann, so will ich gern beichten. Ich hab schon vorher hie und da was genommen, und es hat gerad dazu gereicht, meine Frau am Leben zu erhalten. Sie haben keine Ahnung, was so eine Lungenentzündung für arme Leute bedeutet.«

Michael fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Wie alt ist Ihre Frau?«

»Fast ein Kind noch – zwanzig.«

Zwanzig! Gerade Fleurs Alter!

»Ich werd Ihnen etwas sagen, Bicket. Ich werde die Sache Mr. Desert vorlegen; wenn er für Sie eintritt, wird sich Mr. Danby vielleicht rühren lassen.«

»Ja, Mr. Mont, ich danke Ihnen – Sie sind ein Gentleman, das sagen wir alle.«

»Ach was! Zum Teufel! Hören Sie, Bicket, Sie haben doch mit diesen fünf Exemplaren gerechnet. Nehmen Sie das statt dessen und kaufen Sie Ihrer Frau das Notwendigste. Sagen Sie's nur um Gottes willen nicht Mr. Danby.«

»Mr. Mont, nicht um die Welt möcht ich Sie verraten – kein Wort werd ich sagen, Sir. Und meine Frau – na ja!«

Ein Räuspern, ein Schlurfen – Michael war allein, die Schultern noch höher gezogen und die Hände noch tiefer in den Taschen. Und plötzlich lachte er auf. Mitleid! Mitleid war Schwachsinn! Das war alles so verdammt komisch. Er hatte also Bicket noch dafür belohnt, daß er ›Kleine Münze‹ gestohlen hatte! Ein plötzliches Verlangen überkam ihn, dem kleinen Packer nachzugehen und zu sehen, was er mit den zwei Pfund anfing, zu erkunden, ob die Lungenentzündung wirklich war oder nur in der Phantasie dieses Menschen mit den klagenden Augen bestand. Aber das war unmöglich! Statt dessen mußte er Wilfrid anrufen und ihn bitten, ein gutes Wort beim alten Danby einzulegen. Sein eigenes Wort wäre vollkommen zwecklos gewesen. Er hatte es schon zu oft eingelegt! Bicket! Wie wenig man von seinem Nebenmenschen wußte, das Leben war so tief und dunkel und so unberechenbar! Was war Ehrlichkeit? Wenn die Widerstandskraft des Menschen vom Leben hart bedrängt wird und in diesem Kampfe dennoch Sieger bleibt, so ist das Ehrlichkeit! Aber warum Widerstand leisten? Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – aber nicht mehr! Und war es nicht verdammt schwer für Bicket, bei zwei Pfund in der Woche ihn zu lieben – so viel schwerer als für ihn, Michael, mit vierundzwanzig Pfund in der Woche Bicket zu lieben? …

»Hallo …Bist du's, Wilfrid? …Hier Michael …Einer von unsern Packern hat ein paar Exemplare von ›Kleine Münze‹ stibitzt. Man hat ihn an die Luft gesetzt, den armen Teufel! Könntest du nicht ein Wort für ihn einlegen? – Auf mich hört der alte Dan ja nicht …jawohl, hat auch eine Frau – in Fleurs Alter; Lungenentzündung, sagt er. Deine Bücher wird er auf keinen Fall mehr anrühren, du bist dann durch seine Dankbarkeit gesichert – wie? …Danke, lieber Junge, schrecklich nett von dir – kommst auf einen Sprung herauf? Dann können wir zusammen heimgehn …Oh! Na, auch gut! Also du kommst auf jeden Fall. Wiedersehn!«

Ein guter Kerl, der Wilfrid! Ein seelenguter Kerl – grundgütig!

Als er das Höhrrohr zurückhängte, fühlte sich Michael plötzlich in eine Wolke von Bildern, Gerüchen und Geräuschen eingehüllt, die den Prinzipien seiner Firma so fremd waren, daß er gewohnheitsmäßig jedes Manuskript sofort zurückwies, das einen solchen Eindruck machte. Der Krieg mochte aus sein, vorbei jedoch war er für Wilfrid und ihn noch lange nicht. Ein Sprachrohr ergreifend, fragte er: »Ist Mr. Danby in seinem Zimmer? Gut! Sobald er Miene macht fortzugehen, sagen Sie mir's bitte sogleich …«

Zwischen Michael und seinem Partner klaffte eine tiefe Kluft, die so tief war wie die Kluft zwischen zwei Epochen, obgleich sie zum Teil durch das ausgleichende Temperament des im mittleren Alter stehenden Winter ausgefüllt wurde. Michael hatte fast gar nichts gegen Mr. Danby einzuwenden, ausgenommen, daß er immer recht hatte, dieser Philip Norman Danby von ›Sky House‹, Campden Hill – ein verheirateter Mann von sechzig Jahren, mit hoher Stirn, einem im Verhältnis zu den Beinen hohen Oberkörper und einem ruhigen und nachdenklichen Gesichtsausdruck. Seine Augen standen vielleicht etwas zu dicht beisammen und seine Nase war ziemlich mager, aber er machte doch gute Figur in seinem schön proportionierten Zimmer. Er war gerade dabei, sich ein korrektes Urteil über eine Inseratenangelegenheit zu bilden, und blickte auf, als Wilfrid Desert eintrat.

»Guten Tag, Mr. Desert, womit kann ich Ihnen dienen? Bitte nehmen Sie Platz!«

Desert blieb stehen, blickte bald die Kupferstiche, bald seine Finger, bald Mr. Danby an und sagte schließlich: »Ich möchte, daß Sie den Packer laufen lassen, Mr. Danby.«

»Packer? Oh! Aha! Bicket. Mont hat es Ihnen wohl gesagt?«

»Ja; er hat eine junge Frau, die gerade eine Lungenentzündung hinter sich hat.«

»Die Leute gehen alle zu unserm Freund Mont und binden ihm einen Bären auf, Mr. Desert – er hat ein sehr gutes Herz. Aber diesen Mann kann ich doch nicht behalten. Das ist eine zu hinterlistige Vorgangsweise. Schon seit einiger Zeit versuchen wir herauszubekommen, wohin einzelne Exemplare verschwinden.«

Desert lehnte sich gegen das Kaminsims und starrte ins Feuer. »Ja, Mr. Danby«, sagte er, »Ihre Generation liebt vielleicht Güte und Milde in der Literatur, aber im Leben sind Sie recht hart. Unsere Generation kann Weichheit in der Kunst nicht ausstehn, aber im Leben sind wir ganz verteufelt weniger hart.«

»Ich glaube nicht, daß ich hart bin«, sagte Mr. Danby, »nur gerecht.«

»Wissen Sie genau, was gerecht ist?«

»Ich glaube schon.«

»Machen Sie einmal vier Jahre Hölle durch und dann urteilen Sie wieder.«

»Was hat das damit zu tun? Das, was Sie gelitten haben, Mr. Desert, mußte Sie natürlich einseitig machen.«

Wilfrid wandte sich um und starrte ihn an. »Verzeihen Sie, daß ich es so gerade heraus sage, aber Sie scheinen mir viel einseitiger geworden, wenn Sie hier sitzen können und gerecht sein. Das Leben ist nicht viel besser als ein Fegefeuer für alle, ausgenommen vielleicht ein Drittel der Erwachsenen.«

Mr. Danby lächelte. »Mein lieber junger Mann, wir könnten einfach unser Geschäft zusperren, wenn nicht jeder Angestellte peinlich ehrlich wäre. Es wäre ganz unfair, zwischen Ehrlichkeit und Unehrlichkeit überhaupt keinen Unterschied zu machen. Darüber sind Sie sich doch vollkommen im klaren.«

»Ich bin mir über gar nichts ganz im klaren, Mr. Danby, und ich mißtraue allen denen, die behaupten, vollkommen im klaren zu sein.«

»Na, wollen wir es so formulieren: es gibt Spielregeln, die eingehalten werden müssen, wenn die Gesellschaft überhaupt funktionieren soll.«

Nun lächelte auch Desert: »Aber zum Teufel mit den Regeln! Tun Sie's doch mir zuliebe. Ich hab doch das blöde Buch geschrieben.«

In Mr. Danbys Gesicht zeigte sich kein Zeichen eines Kampfes; aber in seinen tiefliegenden, nahe beieinander stehenden Augen blitzte ein kleines Licht auf.

»Ich würde es nur zu gerne tun, aber es ist eine Sache – na, sagen wir, eine Sache des Gewissens. Ich zeige den Mann nicht an. Er muß gehen – das ist alles.«

Desert zuckte die Achseln. »Also, dann empfehle ich mich!« Und er ging hinaus.

Draußen stand Michael, von Zweifeln geplagt.