Kains Königsweg

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Kains Königsweg
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Jan Holmes – Kains Königsweg

Texte, Umschlagfoto:

© Copyright 2014/2019 by Jan Holmes

Umschlaggestaltung:

Marcin Bajor & Jan Holmes

Verlag: Jan Holmes

janhwriter@gmail.com – www.janholmes.de

c/o KJ Funke, Bechlenberg 61, 42799 Leichlingen

Druck: epubli

Jan Holmes

Kains Königsweg

Teil Eins

Der Moment, an dem sich mein Leben änderte, war die Sekunde, als das Schreien aufhörte. Wäre dies ein Film, sähe man erst einmal nichts. Jetzt den aufgerissenen Mund, dann das Gesicht, zu dem der Mund gehört, man würde den Schrei hören, den lang gezogenen, durchdringenden Schrei, der nicht aufhört. Die Kamera wird dann irgendwann zurückfahren, immer mehr von der Szene enthüllen, man sieht das Auto, oder das, was davon noch übrig ist, das Innere des Autos seltsam zusammengedrückt, gestaucht, darin Körper.

Die magische Kamera wird mithilfe eines geheimnisvollen Tricks durch das Dach des Wagens fahren, und jetzt sieht man die Szene von außen: Das Auto ist mit hoher Geschwindigkeit vor einen Brückenpfeiler gerauscht, man hört nichts weiter, nur diesen Schrei, der nicht aufhören will. Die Scheiben des Autos sind zersplittert, die Reste hängen an ihren Rahmen sinnlos herunter, das Blech ist zerknittert, die Farbe aufgeplatzt. Die Perspektive erweitert sich, der Schrei wird leiser, man sieht Rauch aus der Motorhaube aufsteigen, die Landschaft, grüne Wiesen liegen friedlich abseits der Straße, sie kümmern sich nicht um den Unfall, Vogelgezwitscher überlagert jetzt den Schrei, der immer noch nicht aufhört, andere Autos fahren langsam am Ort des Geschehens vorbei, halten aber nicht an.

Wäre dies wirklich ein Film, gäbe es jetzt eine Explosion, einen lauten Knall, eine Feuer- und dann eine Rauchsäule, die in den Himmel steigt. Dann gäbe es eine Einblendung, den Namen eines Schauspielers oder den Titel des Films in kantigen Buchstaben, die an den Rändern ein wenig angefressen sind und andeuten wollen, dass jetzt etwas Heftiges kommt, dass man jetzt etwas sehen und erfahren wird, das einschneidend ist, scharfkantig wie die Buchstaben über der Szene. Aber das hier ist kein Scheißfilm, es gibt keine Explosion, keine Einblendung oder sonstigen Mumpitz, das Auto raucht einfach nur ein wenig weiter vor sich hin, die Szenerie bleibt so, wie sie ist, keine dramatische Musik.

Das Einzige, was einem Film entnommen worden sein könnte, ist das Ausblenden des Bildes, das berühmte »fade to black«, das in meinem Kopf passierte.

Wir waren mit diesem Auto unterwegs, einer Familienkutsche, die Mutter am Steuer, die Söhne unterhielten sich über irgendetwas. Unsere Mutter war eine gute Autofahrerin, kein Zweifel, sie fuhr zügig, aber immer sicher, sie wusste um die wertvolle Fracht. An diesem Tag war irgendetwas anders, ich weiß bis heute nicht, was es war, kann nur vermuten, was sich vorher ereignet hatte, aber ich will nicht spekulieren. Verstehen Sie, ich will überhaupt nur Tatsachen sprechen lassen, also, »meine« Tatsachen, denn irgendwie ist ja alles immer nur die Interpretation einer Tatsache, nie wirklich die eine und objektive Wahrheit.

Wenn es so etwas überhaupt gibt. Wissen Sie zum Beispiel, dass wir überhaupt dasselbe sehen, wenn wir von der Farbe »Rot« sprechen? Könnte es nicht sein, dass Ihre Augen Farben ganz anders aufnehmen, sie Ihnen diese ganz anders vorspielen? Kann es nicht sein, dass, wenn ich die Farbe »Rot« sehe, Sie etwas sehen, was ich als »Grün« empfinden würde, wozu wir aber beide »Rot« sagen, weil wir uns im Laufe der Zeit darauf geeinigt haben, dass eine bestimmte Farbe mit »Rot« bezeichnet wird, völlig egal, wie der Einzelne sie »wirklich« sieht?

Aber ich möchte Sie nicht mit Farbenlehre langweilen, hier geht es nicht darum, ob wir irgendetwas auf identische Weise wahrnehmen werden, ich möchte vielmehr erfahren, ob diese Wahrnehmung eine allgemeine Gültigkeit haben könnte, ob man sich gleichsam außerhalb seiner selbst hinstellen kann, und sagen: So, das ist jetzt unvoreingenommen und unbestreitbar die Farbe »Rot« oder die Länge von einem Meter oder, und hier kommen wir der Sache schon viel näher, gut oder böse. Geht das? Denken Sie mal nach, es lohnt sich. Ich verbringe Tage und schlaflose Nächte damit, mir diese Frage zu stellen und nach einer Antwort zu suchen. Gibt es den Königsweg der richtigen und guten Tat vor, sagen wir Gott, einer Instanz, die unbestreitbar entscheiden kann, dieses oder jenes sei wahr oder richtig?

Meine Antwort auf diese Frage ist bis heute: nein. So etwas gibt es nicht, und deswegen möchte ich diese Geschichte erzählen, aus meiner Perspektive, durch meine Augen, mit den Voraussetzungen, Gefühlen und Meinungen, die mich das als »Rot« sehen lassen, was Sie vielleicht ganz anders wahrnehmen. Ich möchte mich nicht rechtfertigen, ich möchte nicht, dass Sie nachher sagen, ich habe richtig gehandelt, recht gehabt oder Sie könnten mich verstehen oder wenigstens nachvollziehen, was mich antreibt. Ich nehme in Kauf, dass dieser Fall eintreten könnte, dass Sie sagen: »Gut gemacht«, und ich nehme auch in Kauf, dass ich damit vielleicht das Unrecht fördere, dass ich im Endeffekt doch gar nicht recht habe …

Aber mir wird recht geschehen, da bin ich mir ganz sicher, und das ist vielleicht auch der wirkliche Grund, warum ich diese Aufzeichnungen begonnen habe, von denen ich nicht weiß, wohin sie mich (und Sie) führen werden. Ich bin mir sicher, dass ich bekomme, was ich verdiene, denn ich habe das Gesetz gebrochen. Nicht nur ein von Menschen gemachtes Gesetz wie Falschparken oder Abfall in eine Parkanlage werfen, hier geht es um eherne, ewige, allgemeingültige Gesetze, die vor ein paar Tausend Jahren einmal in Stein gemeißelt worden sein sollen. Eines dieser Gesetze lautet: »Du sollst nicht töten.«

Als ich im Auto saß, das nicht explodieren wollte, und nicht von oben auf die Szene sah, wie es im Film wahrscheinlich passiert wäre, kamen mir all diese Gedanken nicht. Der vorangegangene Exkurs tut mir leid, ich fange gerade erst an, zum ersten Mal in meinem Leben, so etwas wie Ordnung in meine Gedanken zu bringen, und Ihnen mag das alles unzusammenhängend und wirr vorkommen. Ich werde mich bemühen, mich so verständlich wie möglich auszudrücken und Überflüssiges wegzulassen, so weit es geht.

An die Sekunden vor dem Aufprall kann ich mich nicht erinnern. Ich saß hinter meiner Mutter im Wagen, mein großer Bruder vorne, neben ihr, mir halb zugewandt, irgendetwas erklärend, wie er es so häufig tat. Gestenreich erläuterte er mir etwas, und ich schäme mich zuzugeben, dass ich nicht richtig zuhörte, dass ich das Letzte, was mein Bruder mir in seinem Leben sagte, nicht mehr hervorrufen kann aus den Tiefen des Gedächtnisses, aus dem Sumpf der Gedanken, die diesen schrecklichen Tag umranken.

Es knallte. Hätte mir jemand später gesagt, dass ich stunden- oder gar monatelang in diesem Auto lag, ich hätte es geglaubt. Es müssen aber nur Minuten gewesen sein, ein harter Schlag auf meinen Kopf, das Zerquetschen meiner Beine, das Brechen meines Armes, und mein Gehirn sagte sich wohl, dass es besser ein paar Momente aussetzen würde, um mich vor dem Schock zu schützen. Dann, diese undefinierbare Zeit später, erkannte ich das Wageninnere vor mir, der Fahrersitz ganz schief, durch die Lücke zwischen Lehne und Kopfstütze sah ich die Haare meiner Mutter, strähnig, obwohl sie sie frisch gewaschen hatte.

Ich dachte an diesem Moment wirklich an die Haarpflege meiner Mutter! Der Grund, warum die dunkelblonden Wellen ihrer Haare so strähnig, so verklebt waren, war die unglaubliche Menge Blut, die aus ihrem Kopf strömte, durch die Haare floss, langsam, wie schwarzer Honig. Meine Augen wanderten in Zeitlupe herüber, mein Blick streifte das Loch, an dessen Stelle vorher einmal die Windschutzscheibe gewesen war, die jetzt zur Hälfte heraushing, ich sah den schwarzen Gummirahmen des Fensters und meinen Bruder, der reglos da saß, sein Kopf in einem merkwürdigen Winkel verdreht.

Und dann hörte ich den Schrei, durchdringend, nicht enden wollend. Es war ein Schrei gegen den Tod, ein Schrei aus Angst zu sterben, diese Welt verlassen zu müssen, viel zu früh, jetzt.

Mit dem Schrei kamen die Schmerzen. Man hat mir später gesagt, was alles mit meinem Körper passiert ist, und die unzählbare Menge an Narben überall an meinen Beinen, meinem linken Arm und was weiß ich, wo sonst noch, ist Zeuge für die Verletzungen, die mich nicht umbrachten. Es ist ein Glück, dass der menschliche Körper Schmerz empfinden kann, um zu warnen, um einem zu sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass man sich um irgendetwas im Körper kümmern muss … aber es ist ein noch viel größeres Glück, dass ein guter Geist in unserem Kopf zu bestimmten Zeiten diesen Schmerz mindern kann, weil wir sonst unweigerlich wahnsinnig werden müssten.

Ich kann und will nicht wissen, was es bedeutet, mit zwei zersplitterten Beinen und einem Arm, aus dem ein Teil eines gebrochenen Knochens durch die Haut stößt, auch nur eine einzige Sekunde bei vollem Bewusstsein warten zu müssen. Eine einzige Sekunde, die sich bis in alle Ewigkeit ausbreitet, den Körper nur noch Schmerz sein lässt, eine einzige wunde Stelle, in die die Zeit mit jedem Moment ihr Salz reibt.

So aber fühlte ich nur ein dumpfes Unbehagen, ein Gefühl wie einen leicht schmerzhaften Druck, das Empfinden, dass irgendetwas mit meinem Körper nicht in Ordnung war. Ausgelöst wurde diese Empfindung durch das Schreien, dieses Kreischen, das andauernde Geheul in Todesangst, das ich noch heute hören kann, das mir in den Ohren brüllt, wenn es ganz still ist, und das mich damals in die Realität zurückholte. In eine Realität, die mir wie ein Traum vorkam, denn das konnte doch nicht sein: Wir alle, die ganze Familie lag in einem Wrack von einem Wagen, der eben noch von sicherer Hand geführt über die Bahn schoss und jetzt mit einem Schnitt der Beginn eines Films mit scharfkantigen Buchstaben im Titel sein könnte.

 

Den Gedanken, meine Mutter habe den Brückenpfeiler absichtlich angesteuert, weil sie all das nicht mehr ertrug, habe ich mehr als einmal in die Abgründe des Unmöglichen zu verbannen versucht, aber diese schreckliche Vorstellung steigt immer wieder hoch ans Licht meines Bewusstseins wie kleine Luftblasen, die unermüdlich an die Oberfläche wollen.

Ich habe versucht, die Tat, sollte sie absichtlich geschehen sein (bitte Mutter, verzeih mir, wenn ich dir damit unrecht tue), als einen Akt der Barmherzigkeit zu sehen, als die letzte, fürsorgliche Handlung einer Mutter für ihre Söhne, die sie in einer Welt, der sie nicht gerecht werden konnte, vernachlässigen musste und allein lassen, nur um dafür zu sorgen, dass wir morgens nicht nur trockenes Brot zu essen hatten, sondern »mithalten« konnten mit dem Leben.

Warum meine ich nun, dass mich der Arm des Gesetzes über kurz oder lang doch noch erreichen wird? Nun, ich schreibe diese Zeilen hier nicht, um ein Geständnis abzulegen und mich selbst ans Messer zu liefern, ich werde vielmehr dafür sorgen, dass diese Notizen (wenn überhaupt) erst nach meinem Tod an die Öffentlichkeit gelangen können, oder ich ändere alle Namen und Orte ab. Nein, ich schreibe das hier, um mir selbst klar zu werden darüber, was ich getan habe. Papier ist geduldig, ich lege hiermit vor mir selbst Rechenschaft ab, damit ich nie vergesse, was passiert ist.

Aber wie könnte ich vergessen, dass ich meinen Bruder umbrachte?

Ich war erst sechzehn, um genau zu sein: fünfzehn Jahre, elf Monate und fünfundzwanzig Tage, es passierte eine knappe Woche vor meinem sechzehnten Geburtstag, der so groß gefeiert werden sollte, wir hatten schon alles geplant. Ich hatte mir meinen Lieblingskuchen ausgesucht, den Mutter mir backen würde, ich hatte eine Liste mit Geschenken geschrieben. Es war eine lange Liste, wobei ich genau wusste, dass ich nur über den Kuchen schon so glücklich sein würde, dass alle anderen Geschenke überflüssig waren, aber trotzdem schrieb ich all das auf, was mir fehlte, was ich gern gehabt hätte.

Wie grausam das meiner Mutter gegenüber gewesen sein musste, verdrängte ich in diesem Moment. Ich träumte, ich dachte, ich könnte mit dieser Liste, mit diesem langen Stück Papier einen Teil meiner Träume verwirklichen und sei es lediglich dadurch, dass ich sie formulierte, statt sie nur ständig in meinem Kopf zu behalten, sie zu pflegen, sie wachsen zu lassen, bis sie aneckten und meinen Geist bluten ließen.

Mein größter Wunsch zu diesem Geburtstag war ein neues Fahrrad, denn ich hatte im letzten Jahr einen ordentlichen »Satz« gemacht, war mit einem einzigen Schub so schnell gewachsen, dass ich jetzt zu den Größten – oder sagen wir: Längsten – in meiner Klasse gehörte, während ich in den Jahren zuvor beim Wettstreit, wer denn schon die größten Schuhe benötigte, immer sang- und klanglos untergegangen war. Nachdem ich das alte Kinderfahrrad meines Bruders geerbt und jetzt lange genug genutzt hatte, wollte ich ein eigenes, ein neues Rad, und ich sollte es haben. Geheimnisvolle Aktivitäten vor dem Jahrestag meiner Geburt ließen mich neugierig werden und irgendwann unseren Keller durchsuchen, wo ich es fand.

Ich weiß nicht, was getan wurde, um mir dieses Geschenk zu machen, aber es war das Traumrad, ein metallener Blitz in Alarmrot mit allen Extras, die man sich wünschen konnte und die ich mir auch tatsächlich gewünscht hatte. Natürlich stand auf meinem Zettel nur »ein Fahrrad«, es hieß noch nicht einmal »ein neues Fahrrad« oder »ein Fahrrad, knallrot wie ein Feuerwehrwagen«, aber welche Mutter könnte ihren Sohn nicht wie ein offenes Buch lesen?

Entschuldigung, ich schweife ab.

Ich musste den Schrei verstummen lassen, um meinetwillen und um seinetwillen, es war einfach nicht zu ertragen, für mich nicht und für ihn auch nicht, wie ich hoffe. Klar, jetzt bin ich der barmherzige Samariter, der den eigenen Bruder vor seinen Schmerzen oder sonst was schützen wollte und ihn deswegen tötete. So ein Unsinn. Was war sonst der Grund? Neid, so wie bei Kain? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, dass mir diese Aufzeichnungen etwas Klarheit bringen.

Doch ganz egal, was der Grund war, eines steht fest: Ich habe getötet, und niemand weiß davon. Trotzdem meine ich immer, man könne mir meine Sünde ansehen, könne in meine Augen tauchen, auf den Grund meiner schwarzen Seele sehen und dort erblicken, was ich Schreckliches getan habe. Wie heißt es? »Die Augen sind der Spiegel der Seele.« Oder das Fenster zur Seele? Wenn das stimmt, müsste ich schon lange hinter Schloss und Riegel verschwunden sein. Vielleicht sind die Menschen aber auch einfach nur blind und sehen sich gegenseitig nicht in die Augen, sondern lieber nur vor die Stirn, auf der bei mir kein Kainsmal sichtbar ist.

Ich fange lieber mal vorne an …

Teil Zwei

Eins

Vater verließ uns, als ich noch ein Säugling war. Das Einzige, was ich von ihm kenne, ist ein Bild, das ich einmal zufällig in einer Schublade im Schlafzimmer meiner Mutter entdeckte. Sie erwischte mich damit, und ich habe es später nie wieder gesehen. Das Foto war eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme mit einem gezackten Rand, das meine Eltern wahrscheinlich in ihren Flitterwochen zeigte. Sie standen vor einem alten VW-Käfer, meine Mutter in einem gestreiften Minikleid, mein Vater mit einer dunklen Stoffhose und einem Hemd, das er halb aufgeknöpft hatte.

Die Arme meiner Mutter waren um seine Taille geschlungen, sie lehnte sich an ihn, während er lässig eine Zigarette hielt und sonst kaum zu merken schien, dass sie da war. Im Hintergrund gab es außer ein paar verschwommenen Hügeln wenig zu sehen, ich weiß bis heute nicht, wo das Bild aufgenommen wurde, und habe mich auch nicht getraut, danach zu fragen. Die Perspektive des Bildes war leicht schief, wahrscheinlich hatten sie die Kamera irgendwo hingestellt und das Bild mit Selbstauslöser aufgenommen, vielleicht fragten sie aber auch nur jemanden, der das Bild machte und den Apparat nicht gerade halten konnte.

Was sagten ihre Augen? So kurz, wie ich das Bild gesehen habe, so deutlich haben sich mir doch ihre Gesichter eingeprägt. Meine Mutter, glücklich, verliebt, ihr schmales Gesicht umrandet von einer aufgesteckten Frisur mit einem hellen Haarband, ihre vollen Lippen wahrscheinlich rot bemalt wie ein Pin-up der Fünfziger-Jahre, diese sexy-schüchterne Art, wie man sie auf alten Postkarten sieht. Mein Vater dagegen lehnte sich an den Wagen zurück, rauchend, selbstbewusst, dunkles, leicht lockiges Haar, lange Koteletten, ein insgesamt schneidiges, etwas aufsässiges Auftreten, so als wollte er sagen: Guck nicht so blöd!

Aber ich habe das Bild nie wieder gesehen. Einmal fragte ich meinen Bruder danach, aber er hatte auch keine Ahnung, ob meine Mutter diesen Beweis ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit unserem Vater, ihrem Ehemann, vernichtet hatte, um endgültiger vergessen zu können, noch wusste er überhaupt von der Existenz des Bildes. Wäre mir nicht der tadelnde Blick meiner Mutter im Gedächtnis geblieben, als sie mir das Bild wegnahm und mich auf mein Zimmer schickte, ich hätte mir einbilden können, das Foto nur in einer der alten Zeitschriften gesehen zu haben, wie sie beim Friseur auslagen und in denen ich blätterte, wenn ich darauf wartete, dass meine Mutter sich zu Weihnachten neu herrichten ließ.

Damals ging es uns wahrscheinlich besser, ich kann mich an die frühen Jahre meiner Kindheit nicht im Detail erinnern, aber ich weiß zumindest, dass es damals noch nie geheißen hat: Nein, das können wir uns nicht leisten, das ist zu teuer, das ist aber sowieso überflüssig, verstehst du nicht, dass das unnützer Luxus ist? Das kam erst später.

Luxus. Was fängt man als kleines Kind damit an? Für mich wurde »Luxus« im Laufe der Zeit zu etwas Lächerlichem, etwas, das nur dumme Leute brauchten, Snobs, die ihre Nase hoch trugen, die nie im Dreck gewühlt hatten und die sich Sachen leisten konnten (und das auch taten!), Sachen, die sie nie im Leben brauchten, Sachen, mit denen sie sich schmücken und behängen konnten, hinter denen sie sich versteckten, mit denen sie sich maskierten. Aber ich wusste ja, warum sie das taten: nicht etwa, weil sie es konnten, nein, der Grund war der, dass sie nicht arm, aber armselig waren, sie brauchten diesen Müll, diesen teuer erkauften Schrott, um von sich abzulenken, um zu verschleiern, dass sie nichts zu bieten hatten. Armselige Arschlöcher.

Für mich wurde Luxus etwas ganz anderes. Im Sommer fuhren wir natürlich nicht weg, dazu fehlte das Geld. Wenn die anderen Kinder in meiner Schulklasse nach den großen Ferien davon erzählten, wie sie in Italien am Strand gelegen hatten, wie sie in den Bergen gewandert waren, auf einem Schiff gefahren oder einige ganz besonders Beneidete sogar mit einem Flugzeug geflogen waren, stand ich nicht daneben. Ich wollte mir diese Geschichten nicht anhören, die diese Angeber absonderten, die vielleicht sogar erstunken und erlogen waren. Klar, Oliver, du bist mit einem Schiff gefahren, wer soll das glauben? Wahrscheinlich war’s ein richtiges Piratenschiff, denk noch mal genau nach, so war’s doch, oder? So eins, wie das, worüber wir in der Schule gelesen haben, im Buch »Die Schatzinsel«, richtig, genau so eins war es doch?

Ich hielt mich abseits und dachte an unsere Form von Luxus: den kleinen Garten hinter unserem Reihenhaus, die Tage in der Plastikwanne, spielend mit den Sachen, die Vater noch gekauft hatte und die ich jetzt ebenso wie das Fahrrad meines Bruders benutzte, wie seine Hosen, Hemden und zu oft gestopften Socken, die ich verbrauchte, bis nichts mehr davon übrig war.

Es ging uns besser, als Vater noch da war. Na ja, mir nicht, ich war ja noch ein kleiner Wurm, der mit einer Flasche, ein wenig warmer Milch zufrieden war. Aber Timo, mein Bruder, der fast zehn Jahre ältere, hat noch die volle Breitseite mitbekommen, die komplette Ladung an Liebe in Form von Geschenken, die die fehlende Zeit ersetzen sollten, die Vater nicht da war, auf Montage, wie es immer hieß.

Was das bedeutete, sollte ich erst viel später erfahren, aber nur so viel: Wenn ein Mann Wochen und Wochen nicht zu Hause ist, ist die Versuchung, sich von irgendeiner kleinen Nutte verführen zu lassen, obwohl zu Hause die liebende Frau mit den beiden Söhnen wartet, viel zu groß, als dass mein Vater, der Schwächling, sich dagegen hätte wehren können. So wurde mir zumindest berichtet.

Warum erzähle ich Ihnen das alles? Glauben Sie bloß nicht, dass ich Ihr Mitleid will, davon hatten wir schon genug, als mein Vater weg war. Als er endlich weg war, sagte meine Mutter immer. Sie wollte sich lieber allein mit ihren Kindern durchschlagen, sie zu ehrlichen und guten Menschen erziehen, als sich noch länger mit einem betrügenden Gauner abgeben zu müssen, dessen dreckiges Geld ihr Sachen kaufte, Luxus, der sie mit Ekel erfüllte.

Nein, Ihr Mitleid ist mir völlig egal, wir wurden überschüttet damit. Von Nachbarn, von wohlmeinenden Verwandten, die glaubten, ihr Bedauern würde uns helfen, über den »Verlust« hinwegzukommen. Blöde Besserwisser, die jetzt meinten, meiner Mutter erzählen zu müssen, dass sie es ja schon immer gewusst hatten, ja, bereits vor der Hochzeit, als die beiden sich kennenlernten, hätten sie gesagt: Das geht doch nie gut, der ist nichts für unsere Maria. Ha! Die heilige Maria, die sich mit so einem Typen einließ, einem Frauenheld (wie man hörte), einem Trinker (wie man vermutete), das konnte doch nichts werden.

Und sie alle kamen der Reihe nach an, bemitleideten meine Mutter, saßen bei Kaffee und Kuchen, den sie selbst mitbrachten, da wir ja jetzt so mittellos waren, guckten traurig aus der Wäsche, als wären sie verlassen worden und verschwanden dann nach einer knappen Stunde wieder (wichtige Termine warteten!). Und das Einzige, was man später noch von ihnen sah, waren ein paar lieblose, vorgedruckte, zum Kotzen hässliche Weihnachtskarten.

Nein, Mitleid hatte ich genug, von allen Seiten, von Kindergärtnerinnen, von Mitschülern, die ich dafür hasste. Es war mir lieber, irgendein kleiner Scheißer versuchte, mich in der Schule damit aufzuziehen, mir damit einen Schlag zu verpassen, indem er mir hinterher sang: »Dein Vater sitzt im Knahast.« Das war einfach. Ich wartete nach dem Unterricht auf ihn, und er wusste genau, was die Stunde geschlagen hatte. Er konnte von Glück sagen, dass er noch seine Milchzähne hatte und dass man teure Jacken waschen und wieder nähen konnte.

 

Solche Typen waren einfach ruhig zu stellen und einfach zu hassen. Aber mitleidige Blicke und verständnisvolles Nicken, wenn man die verschlissene Schultasche des älteren Bruders unter dem Pult stehen hat, statt einen kreischend bunten Kasten, den man haben muss, um etwas zu gelten, diese Blicke kann man zwar hassen, aber man kann ihre Besitzer nicht verprügeln, dazu reicht der Anlass einfach nicht aus.

Einmal ließ ich mich gehen und verpasste einem von ihnen eine Ohrfeige, als wir zusammenstanden und vom Wochenende erzählt wurde, von Ausflügen, von Kinobesuchen und anderem mehr. Als die Reihe an mir war und ich nichts sagte, nickte er nur und sagte etwas wie: »Ach ja, stimmt …« Zu Hause wartete meine Mutter auf mich und meinte, Michaels Mutter habe angerufen, ich hätte ihren Sohn geschlagen. Es gab keinen Grund, das zu leugnen, und die strafenden Blicke der heiligen Maria zeigten mir, dass ich zu weit gegangen war, aber ich wusste: Mitleid und Verständnis von Leuten, die es viel zu gut meinen, sind ein besserer Nährboden für Hass als offene, ehrliche Feindseligkeiten.

Also sparen Sie sich Ihr Mitleid, ich versuche hier nur, meine Gedanken zu sortieren, und je mehr ich das tue, desto mehr Teile des Puzzles, das meine Biografie ausmacht, tauchen aus dem Strom der vergangenen Zeit auf. Ich sitze mit einem Kescher am Ufer und fange die kleinen Stückchen nach und nach ein, betrachte sie kurz und lege sie dann auf den Tisch, jedes an seine Stelle. Manchmal finde ich die Stelle nicht sofort, weiß nicht, wie ich die kurze Episode, den schnellen Gedanken einordnen soll, aber ich muss das Teil ablegen, um es loszuwerden und damit sich später alles zu einem großen Bild zusammenfügen lässt. Auch habe ich keinen Einfluss darauf, in welcher Reihenfolge die Teile auf mich zuschwimmen, ich muss einfach nehmen, was da ist, sobald es da ist.

Und was war der Grund dafür, dass mein Vater im »Knahast« saß? Einiges der Geschichte hat mir Timo erzählt, anderes habe ich mir später zusammengereimt und aus einzelnen Artikeln der Tageszeitung herausgesucht. Mein Vater war kein Mörder, so wie ich einer bin, eigentlich war er ein kleines Licht, ein Gelegenheitsgauner, der Leuten im Gedränge im Bus oder an der Schlange im Supermarkt ein paar lausige Scheine aus der Tasche zog. Um sein Gehalt aufzubessern, hatte er leider die Angewohnheit, seinem Hobby auch während der Arbeitszeit nachzugehen, und irgendwann erwischte er die Tasche seines Chefs, die er um etwas Bargeld erleichtern wollte. Das Problem war nur, dass sein Chef die besagte Tasche gerade trug. Bevor er endgültig einfuhr, soll er mit Anekdoten dieser Art auf jeder Feier aufgetrumpft haben, er prahlte wie selbstverständlich mit seiner Dummheit und hatte die Lacher natürlich immer auf seiner Seite.

Weniger lustig wurde die Geschichte, als er erkrankte. Er hatte als einfacher Arbeiter jahrelang in einer Fabrik gearbeitet, die Farben herstellte, und eines Tages hatte seine Lunge genug von den Dämpfen und Lösungsmitteln.

Es ist natürlich sehr einfach, den bösen Chemikalien den Schwarzen Peter zuzuschieben, denn mein Vater war genauso schuld an seiner Lage. Wer rauchte denn mehrere Schachteln Zigaretten am Tag, wer pfiff denn auf die Vorschrift, bei der Arbeit mit den Fässern Atemschutz zu tragen? Irgendwann war einfach Schluss mit der Vergewaltigung seines Körpers, und seine Lunge zog die Notbremse, ließ ihn Blut husten und während der Schicht zusammenbrechen.

Danach wurde sein Markenzeichen ein übergroßes Taschentuch aus kariertem Stoff, das er ständig bei sich trug und benutzte, wenn seine Lunge sich wieder einmal meldete, um etwas von dem Dreck auszuwerfen, den er jahrelang hineingepumpt hatte.

Infolgedessen war nicht mehr viel mit ihm anzufangen, er war ständig krank, konnte kaum noch einen Job übernehmen, fing an zu husten, wenn es nur ein bisschen staubte, kriegte kaum Luft, wenn er sich über längere Zeit körperlich anstrengen musste. Mit einem Wort, er war ein Wrack, abgeschrieben, zu nichts mehr zu gebrauchen.

Aber zu Hause warteten zwei hungrige Mäuler, das dritte (meins) war unterwegs, Timos Wechsel auf eine weiterführende Schule stand an und die damit verbundene Pflicht, weitere Jahre für ihn zu sorgen, ohne dass er mit einem eigenen Einkommen aushelfen konnte. Was war also das Richtige? Gab es eine Möglichkeit, aus dieser Situation herauszukommen und dabei gutbürgerlich, integer und ehrlich zu handeln? Wie entscheidet man über den Lebensweg seiner Frau und seiner Kinder, wie weit lassen sich Recht und Gesetz beugen, wenn man am Abgrund steht? Kann man von seinem zehnjährigen Sohn erwarten, dass er versteht, dass er sich als hellster Kopf der Familie als Automechaniker um den Unterhalt wird kümmern müssen, weil sein Vater ein kleiner Dieb und Versager ist? Kann man diesem Kind verständlich machen, dass es sich das Abitur, eine akademische Laufbahn und all das, gefälligst aus dem Kopf schlagen soll, weil er in spätestens sechs Jahren auf eigenen Beinen stehen und seine Familie ernähren muss?

Man kann über meinen Vater sagen, was man will, aber uns im Regen stehen lassen, das konnte er nicht. Er versprach meinem Bruder, er werde zur Universität gehen und lernen können, was immer er wolle, er gab meiner Mutter die Hand darauf, für uns zu sorgen, und das tat er. Er besann sich darauf, was er konnte, und so begannen seine wochenlangen »Montage«-Jobs.

Mein Vater war seit ehedem ein verdammt guter Autofahrer und ein paar Wochen in den richtigen Kneipen ließen seine Fähigkeit in den richtigen Kreisen bekannt werden. So dauerte es nicht lange, bis er die ersten Angebote bekam, Wagen zu fahren, und er war skrupellos genug gegenüber dem Gesetz und fürsorglich genug gegenüber seiner Familie, um nach dem Strohhalm zu greifen.

Es war an einem Freitagabend vor ziemlich genau zwanzig Jahren, als mein Vater am anderen Ende des Landes in irgendeiner Stadt mit laufendem Motor vor einer Gasse stand, die zum Hintereingang einer Bank führte. Drei seiner Kollegen hatten sich in der Nähe der gepanzerten Stahltür versteckt und warteten auf den Geldtransporter, der die in der Woche angefallenen Einzahlungen in Sicherheit bringen sollte. Dass das kleine Vermögen diese Sicherheit nie erreichen sollte, dafür wollten die drei sorgen, mein Vater war dann dafür zuständig, seine Kollegen und die Beute wegzubringen.

Es lief auch alles glatt, die Angestellten der Bank wie auch des Fuhrunternehmens waren viel zu überrascht, um Gegenwehr zu leisten, die Säcke mit dem Geld wechselten den Besitzer, die drei machten sich aus dem Staub, hechteten in den wartenden Wagen, und mein Vater startete durch. Ich vermute, im Auto wurden die Masken abgenommen, es gab wahrscheinlich Gelächter und siegessichere Sprüche, Gedanken an Urlaub auf tropischen Inseln, einen Rennwagen für jeden und so weiter.

Man kennt die Szene aus Bankraubfilmen, und seien Sie ehrlich: Gönnen Sie in diesen Situationen den Gangstern die Beute nicht? Stellen Sie sich beim Anblick solcher Szenen nicht vor, wie es wäre, selbst in diesem Auto zu sitzen, einen Sack auf den Knien zu haben, in dem die Scheine knistern, das Versprechen auf ein besseres Leben? Selbstverständlich ist die Sympathie auf der Seite der Gauner, weil die Figuren natürlich nie Arschlöcher sind, keine skrupellosen Mörder, sondern – wie mein Vater – warmherzige Familienväter, bedürftige Leute von nebenan oder einfach nur verdammt coole Schweine, die das große Los gezogen haben und die man in diesem Moment um ihren Gewinn beneidet. Ist es nicht so?