Ein Zimmer ohne Aussicht

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Ein Zimmer ohne Aussicht
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Jan Holmes

Ein Zimmer ohne Aussicht

Jan Holmes – Ein Zimmer ohne Aussicht

Texte, Umschlagfoto und -gestaltung:

© Copyright 2019 by Jan Holmes

Verlag: Jan Holmes

janhwriter@gmail.com – www.janholmes.de

c/o KJ Funke, Bechlenberg 61, 42799 Leichlingen

Druck: epubli

Heute

Die Sonne war längst untergegangen, es war stockdunkel, nur das Lagerfeuer erhellte die Runde der Freunde. Wir hatten uns sattgesehen an den Unmengen an Sternschnuppen, die über dem Atlantik ihre Bahnen zogen und hier sichtbar waren, abseits der Städte, die mit ihrem nebligen Schein den Himmel anstrahlten und alles unsichtbar machten, was sich dort bewegte. Es war kalt, wir hüllten uns in Decken, hielten uns aneinander fest, erzählten Geschichten, Anekdoten, Witze, bis uns nichts mehr einfiel. Fast alle Getränke waren geleert, wir sahen einander an, beinahe peinlich berührt angesichts der Stille, die von uns ausging, während die Wellen im Hintergrund rauschten, aber wir hörten sie nicht mehr. Irgendjemand spielte mit einer leeren Flasche, rollte sie vor sich hin und her, sah in die Runde, nahm eine Zigarette von seinem Nachbarn und starrte wieder auf das Glas, in dem die Flammen sich spiegelten. Er drehte die Flasche, die sich im Sand kaum bewegte, sodass der Hals direkt neben ihm zur Ruhe kam. Er blickte auf, sah seine Freundin an und fragte: »Wahrheit oder Pflicht?« Sie lachte, ließ ihren Blick durch die Runde schweifen und wusste, dass wir spielen würden. »Pflicht«, sagte sie und musste ihren Freund dafür küssen. Die anderen johlten, fanden die Aufgabe langweilig und forderten eine Wiederholung, was die beiden dazu animierte, sich noch einmal zu küssen. So ging es eine Weile weiter, wir waren müde, die Fragen und Aufgaben zunächst harmlos und erst im Laufe der Zeit anstrengender und schlüpfriger. »Was war dein aufregendstes Erlebnis?«, »Was war der außergewöhnlichste Ort, an dem du Sex hattest?«, »Was ist der außergewöhnlichste Ort, an dem du gerne einmal Sex hättest?«, waren Fragen, und kaum jemand nahm »Pflicht«, weil niemand Lust hatte, sich erheben zu müssen, um zum Beispiel Treibholz auf seiner Nase zu balancieren. Schließlich zeigte die Flasche auf mich, ich hatte meinen Nachbarn im Verdacht, dass er sie mit Absicht nicht richtig gedreht hatte, wusste aber, dass keine Chance bestand, gegen die Entscheidung zu protestieren, das Schicksal hatte entschieden, ich war fällig und wählte ebenfalls »Wahrheit«. Ich war auf vieles vorbereitet gewesen, auf das Aushorchen intimer Geständnisse, peinlicher Erlebnisse oder anzüglicher Erfahrungen, aber nicht auf das, was jetzt kam. »Hattest du eine glückliche Kindheit?«, fragte mich mein Nachbar, und die ganze Runde brach in tobendes Gelächter aus. »Was ist das denn für eine blöde Frage?«, rief jemand, Köpfe wurden geschüttelt, der Fragesteller geschubst und mit einem leeren Weinkanister beworfen, der aber ließ sich nicht beirren und beharrte auf einer Antwort.

Was gab es dazu zu sagen? Die Frage war für ein Spiel dieser Art gänzlich ungeeignet. Man konnte einfach mit »Ja« oder »Nein« antworten, niemand würde die Angabe überprüfen können, und der Nächste wäre an der Reihe. Es gab nichts zu gestehen, nichts zuzugeben, nichts war peinlich. Es sei denn, man antwortete mit »Nein«, aber das entspräche in meinem Fall nicht der Wahrheit. So einfach die Frage war, so wenig hatte ich jemals über sie nachgedacht. Über meine Kindheit selbst hatte ich mein halbes Leben lang gebrütet, aber eine einfache Aussage darüber, ob ich glücklich gewesen war, konnte ich nicht treffen. Die Aufregung ließ langsam nach, die ersten Augenpaare richteten sich auf mich, es wurde erwartet, dass ich antwortete und das Spiel weitergehen konnte.

»Natürlich«, sagte ich und blickte dabei zu Boden. Ich nahm die Flasche und drehte sie, so fest ich konnte.

Irgendwann begann das Spiel langweilig zu werden, Feuchtigkeit zog herauf, uns wurde zu kalt, und wir machten uns auf den Weg durch die Dünen, zurück zu unseren Betten. Die Nacht war wolkenlos, der Himmel glich einer perforierten Folie, unzählige Lichter blickten auf uns herab und schienen zu zwinkern. Wieder sahen wir fallende Sterne, aber niemand machte mehr ein Aufheben darum, der Reiz des Einmaligen war lange verflogen, niemand hatte noch Wünsche übrig, die er, verstohlen und heimlich, dem Schweif hinterherschicken wollte. So trotteten wir matt und sprachlos durch die Dünen, jeder beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken oder auch nur mit der Leere in seinem Kopf, die in der Schwärze über uns ihre Fortsetzung nahm. Mir war nicht so leicht ums Herz, in meinem Inneren hallte immer noch die Frage nach, die mir gestellt worden war, und vielmehr noch meine Antwort. Niemand hatte später etwas dazu gesagt, es wurde sofort weitergespielt und kurze Zeit darauf war die Aufregung vergessen, so wie alles andere schon Momente später wieder vergessen sein würde, es war nur ein Zeitvertreib für die anderen. Das sollte es für mich auch sein, trotzdem nagte die Frage an meiner Seele, und ich war so in Gedanken versunken, dass ich zusammenzuckte, als mir jemand auf die Schulter schlug. Ich drehte mich um und konnte niemanden erkennen, bis ich meine Lampe hob und ihm ins Gesicht leuchtete. Es war der Fragesteller, und auch ihn schien die Situation weiter zu beschäftigen.

»Das hat dir was ausgemacht, oder?«, fragte er und sah mich dabei nicht an, so als hätte er etwas zu verbergen und dürfte niemanden wissen lassen, dass wir miteinander sprachen.

Ich stellte mich dumm. »Was meinst du?«

»Die Frage. Du hast lange gezögert.«

»Ich wollte ehrlich sein.«

»Und? Warst du es?«, wollte er wissen, es klang wirklich interessiert, aber ich hatte keine Lust, ihm zu antworten.

»Spielen wir immer noch?«

»Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst.«

Aber ich wollte antworten und die Wahrheit sagen, nur vermochte ich es nicht.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich zögernd und meinte es auch so.

»Du hast ›Natürlich‹ gesagt.«

Ich blickte in seine Richtung, konnte aber wieder nichts erkennen, sodass ich nicht einzuschätzen vermochte, wie sein Drängen gemeint war. Wollte er mich herausfordern, mich zu einem Geständnis zwingen oder mich einer Lüge überführen? Oder war er tatsächlich an mir interessiert, wollte er wirklich wissen, wie es in meinem Inneren aussah? Ich hatte keine Lust, zu dieser Stunde und in diesem Zustand weiter darüber zu sprechen, und sagte es ihm. Ihm schien es nicht so zu gehen, er hob zu einer weitschweifigen Erklärung an und ließ sich umständlich darüber aus, dass er seine Frage gar nicht so lächerlich finde, wie die anderen es hatten aussehen lassen, schließlich umfasse die Kindheit eine lange Zeit, niemand könne doch mit Sicherheit sagen, dass ein derart umfangreicher Lebensabschnitt nur von einem Gefühl geprägt worden sei, Glück oder Unglück, das sei einfach nicht möglich. Je länger er redete, desto mehr musste ich ihm zustimmen und desto überzeugter war ich schließlich, dass wirkliches Interesse aus seiner Rückfrage sprach. Trotzdem verstand ich immer weniger, warum er überhaupt eine Frage dieser Art stellte, wenn er doch wusste, dass sie eigentlich nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnte. Aber vielleicht war das einfach seine Art von Humor, der allerdings in dieser Runde und bei diesem Spiel keinen Anklang gefunden hatte.

Wir erreichten unsere Zimmer, verabredeten eine Zeit für das gemeinsame Frühstück, das die Hälfte von uns, wie immer, verpassen und die andere Hälfte nur äußerst verkatert einnehmen würde, und verabschiedeten uns. Ich lag noch eine lange Zeit wach und betrachtete Szenen aus meiner Vergangenheit, aus meinem früheren Leben, in meinem Kopf. Ich konnte die Frage immer noch nicht beantworten, aber einer meiner letzten Gedanken vor dem Einschlafen war der, dass ich nicht unglücklich gewesen war.

Teil Eins

Vorwort

Ich kann mich bei meinen Erinnerungen nicht darauf verlassen, dass all das tatsächlich genau so passiert ist und in exakt dieser Anordnung. Alles, was ich erlebt habe, wurde gefiltert durch den Geist eines kleinen Kindes, das gewissen Umständen ausgesetzt war. Vielleicht hätte ein neutraler Beobachter ein ganz anderes Bild der Erlebnisse gezeichnet, die ich im Folgenden beschreibe. Auch habe ich den Ereignissen mit meinem heutigen Geist Worte verliehen, alles, was gesagt wurde, habe ich früher niemals so formuliert, wahrscheinlich noch nicht einmal gedacht, aber bestimmt so empfunden. Darüber hinaus bin ich mir über die Reihenfolge der Begebenheiten nicht im Klaren, ich habe jedoch versucht, alles in eine möglichst logische Abfolge zu bringen. Einige Lücken habe ich durch spätere Erzählungen anderer, durch Tagebücher und Briefe ergänzt, daher gibt es im ersten Teil immer wieder die Sprünge von »innen« nach »außen«, um die Erzählung mit dem zu vervollständigen, was ich selbst noch nicht bewusst wahrnehmen konnte. Wenn manches nicht ganz zusammenpasst oder meinem Alter unangemessen scheint, sei dies dem Umstand geschuldet, dass all das Jahrzehnte zurückliegt und begraben war unter allem, was die Zeit seitdem darüber aufgestapelt hatte. Wichtig ist mir, dass man einen Sinn erkennt, einen Zusammenhang und eine Linie, die man vielleicht nicht glauben mag, aber doch wenigstens nachvollziehen kann. Wem die Ereignisse allzu fantastisch erscheinen, der möge sie als Erfindung betrachten, als Märchen, das ein Korn Wahrheit enthält, aber vielleicht nie so passiert ist, wie es aufgeschrieben wurde. Ich hingegen verbürge mich für jedes einzelne Wort mit meiner ganzen Seele.

Kapitel Eins (außen)

Die Gebäude lagen in einem engen Tal, das sich vom Dorf in die Hügel schlängelte, windgeschützt und vor den Blicken Neugieriger verborgen. Ein schmaler, schlecht asphaltierter Weg führte durch die immergrünen Nadelwälder über mehrere Anhöhen bis zum Gehöft, wo er endete und weswegen er nur selten befahren wurde. Rund um das Wohnhaus, den großen, aber fast verfallenen Stall und die kleine Scheune, erhoben sich seit Langem ungenutzte Weiden, die auf den Kuppen der Hügel allmählich in Wald übergingen. Die Natur eroberte das einst bewirtschaftete Land langsam zurück, streckte ihre Finger nach den Gebäuden aus, säte Disteln und hohe Gräser, die keine Tiere mehr fraßen, und ließ die Zäune verrosten, die Pfähle, an denen der Stacheldraht hing, allmählich verrotten und einstürzen. Auf den ersten Blick bot das Gehöft ein malerisches Bild, zeigte Romantik des Landlebens und strahlte Behaglichkeit und Ruhe aus. Auf den zweiten Blick änderte sich nicht viel, die Ruhe blieb, aber die Behaglichkeit wich etwas zurück, wenn man die abblätternde Farbe am Wohnhaus entdeckte, die schiefen Läden, die träge im Wind quietschten und die Halme, die sich zwischen den Pflastersteinen der schmalen Auffahrt ausbreiteten. Trotz allem wäre es nicht übertrieben, diesen stillen Ort immer noch als »Idylle« zu bezeichnen, und Menschen, die geschäftstüchtiger waren als die momentanen Bewohner, hätten es sicherlich verstanden, diese Idylle zahlenden Urlaubern schmackhaft zu machen. Aber davon war dieser Fleck Erde weit entfernt, im Gegenteil, hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein, nur das Nötigste wurde instand gehalten. So wurde das Dach erst dann geflickt, wenn es hereinregnete, ansonsten war das Werk der Jahre überall deutlich zu sehen.

 

Kam man auf den Hof, ging man zunächst eine kleine Steigung über aufgeworfenes Pflaster hinauf und gelangte dann zum Wohnhaus. Eine kleine Treppe führte seitlich zu beiden Seiten der Tür nach oben, der gegenüber eine Sitzbank am Geländer angebracht war, die aus grobem Holz bestand, das vor längerer Zeit einmal in einem dunklen Braun angestrichen worden sein mochte. Die schwere, massive Tür hatte kleine Fenster aus gelblichem Glas, geschützt durch schmiedeeiserne Gitter. Am Türrahmen darüber prangte eine aus einem Baumstamm gesägte Scheibe, durch Ketten gehalten und verziert mit dem Spruch »Lasset uns am Alten, so es gut ist halten, aber auf altem Grund, Neues wirken jede Stund«. Rechts und links der Tür standen zwei alte, mit vermooster Erde gefüllte Fässer, aus denen aber nur ein paar traurige Überreste der Pflanzen ragten, die hier vor langer Zeit eingesetzt worden waren. Mit der Tür im Rücken überblickte man den Hof, gegenüber lag der ächzende Stall, der nicht mehr genutzt wurde, das Dach war eingefallen, es würde nicht lange dauern, bis die Witterung das Gebäude zum Einsturz brachte. Zur Rechten lag die kleine Scheune, die als Garage und Lagerraum genutzt wurde, hier verstaubten alte und zum Teil schon lange vergessene Geräte, die keine Verwendung mehr fanden, darüber lag der Heuboden, der nicht mehr gefüllt wurde, Schwalben hatten die Dachbalken mit ihren Nestern verziert und teilten sich den Raum mit Spinnen und Mäusen. Hinter dem Stall erhob sich das weite Land, auf dem in früherer Zeit Kühe und Pferde gegrast hatten, vor mehreren Generationen hatte es Schafe und Ziegen gegeben sowie einige Hundert Hühner, aber jetzt war der Stall leer. Es gab nur noch ein paar streunende Katzen, die in der Scheune Jagd machten, und einen alten Hofhund, der an einer langen Kette im Hof lag, so als gäbe es noch etwas zu bewachen.

So trostlos sich die Beschreibung der Gebäude anhört, könnte man meinen, sie seien verlassen worden, aber das ist nicht die Wahrheit, hier wohnten Menschen, hier gab es Leben und die dazugehörigen Schicksale. Die Leute im Dorf wussten nicht viel zu berichten, außer der offensichtlichen Tatsache, dass hier eine Frau mit ihren Kindern und ihrer alten Schwiegermutter lebte. Darüber hinaus gab es einige Gerüchte, schlimme Dinge, die nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wurden, deren Wahrheitsgehalt aber niemand mehr überprüfen konnte und die selbst von den klatschsüchtigen Bewohnern des Dorfes nur dann hervorgeholt wurden, wenn es sonst nichts mehr zu sagen gab. Aber damit tat man unrecht, so die offizielle Ansicht, es gab nichts Schlechtes, was man über die Frau oder ihre Kinder sagen konnte, auch wenn man sie wegen ihrer verschlossenen Art mied. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihnen gemeint, es galt, Rücksicht zu nehmen, niemand war verantwortlich für das geschehene Unglück. Auch wenn man die kleine Familie selten sah, meist nur sonntags in der Kirche, selten auf einem Dorffest oder dem Wochenmarkt, ließ man sie in Ruhe. Erst später, als die Kinder in die Schule mussten, wurde offensichtlich, wie schwer die Vergangenheit und die Gegenwart auf dem alten Hof und seinen Bewohnern lasteten, wie das Gewicht der Zeit sie gleichsam erdrückte und zersetzte, Spuren in den Gesichtern hinterließ, die man sonst erst bei älteren Menschen erkannte, viel zu früh eingebrannt in die jungen Augen. Aber umso mehr hätte man trotz aller Gerüchte die Mutter bewundern können, die sich die ganze Zeit allein durchschlug, sich mit kleineren Arbeiten ein Zubrot verdiente und erst viel später Hilfe in Anspruch nahm. Man hatte immerhin Respekt vor ihrer Leistung, vor ihrer Standhaftigkeit, und es gab nicht wenige, die sich niemals hätten vorstellen können, in ihrer Situation überlebt, die Kraft besessen zu haben, die Schläge auszuhalten, die ihr das Schicksal mitgegeben hatte. Jeder war sich sicher, ganz früh aufgegeben und die Gegend verlassen zu haben, in der die Geister der Vergangenheit umgingen. Warum war sie nicht mit ihren Kindern in die Stadt gegangen, hatte sich helfen lassen, die Kinder versorgt, fernab der Einsamkeit des Hofes? Aber die Leute verstanden auch, dass das einer Flucht gleichgekommen wäre, einem Aufgeben, Resignieren angesichts dessen, was passiert war. Man verließ seinen Hof nicht einfach so, man schnitt seine Wurzeln nicht ab, wenn es nicht irgendwie anders ging. Die jungen Leute hingegen waren nicht mehr so verbunden mit ihrer Herkunft, es gab viele Höfe, die nicht übernommen wurden, weil die Söhne und Töchter anderes im Sinn hatten, dem Dorf den Rücken kehrten, um sich in der Stadt niederzulassen und dort ihr Glück zu suchen. Einmal im Jahr kehrten sie zum Schützenfest zurück, betranken sich ohne Maß und erzählten von der alten Zeit und wie schön diese gewesen sei. Am nächsten Tag packten sie jedoch ernüchtert ihre Sachen, ließen sich von den Eltern nur wenig widerwillig etwas zustecken und verschwanden wieder in ihrem neuen Leben, Erinnerungen an eine Idee von Heimat im Gepäck, die ihnen ausreichte. Die Mutter auf dem abseits gelegenen Hof aber würde dort bleiben, wo sie ihr Leben lang gewohnt hatte. Die Gebäude hatten seit Generationen ihrer Familie gehört, sie war in dem Haus geboren und würde dort ihre letzten Tage verbringen. Ihre Eltern sowie der Schwiegervater waren schon vor langer Zeit gestorben, ihr waren keine Geschwister geschenkt, und nach dem Tod ihres Mannes, der auf den Hof eingeheiratet hatte, war es an ihr, mit ihren Kindern dafür zu sorgen, dass nicht alles vollständig zerfiel, doch ihre Kräfte reichten offenbar nicht aus. Die Leute aus dem Dorf kamen selten zum Hof herauf, aber diejenigen, die es bisweilen taten, alte Freunde der Familie, der Arzt oder der Pfarrer, berichteten nach ihrer Rückkehr vom fortschreitenden Verfall der Gebäude, was eine Schande sei, aber was solle man machen? Es hatte anfangs nicht wenige Angebote gegeben, ihr zu helfen, es wurde allgemein als Schande angesehen, das gute Land nicht weiter zu bewirtschaften, aber nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, Hilfe anzunehmen oder auch nur irgendjemanden länger als nötig auf dem Hof zu haben, wurde ihr Wunsch respektiert, und man ließ sie in Ruhe. Hätte man gewusst, welche Tragödien sich hinter den Wänden und Bruchsteinmauern abspielten, man wäre vielleicht nicht so nachgiebig gewesen, aber das Schicksal spielt sich im Verborgenen ab und ist oft nicht als solches zu erkennen.

Kapitel Zwei (innen)

Meine erste Erinnerung reicht zurück in die Zeit, als mein Vater noch lebte. Ich habe kein klares Bild mehr von ihm, er ähnelt mehr einer Erscheinung, einer Person, die anwesend war, an die ich mich aber nicht im Detail erinnern kann. Später ist dieses Gefühl der Präsenz angereichert worden durch einige wenige alte Fotos, die von meinem Vater existierten, aber diese Fotos zeigen Momentaufnahmen von Situationen, es sind Ausschnitte aus einer vergangenen Zeit, von der ich kein Teil war. Außerdem sind es Standbilder, es wird nicht gesprochen, man hört niemandes Stimme, man fühlt nicht die Umgebung, das Wetter, die Sonne oder den Regen, die Bilder sind stumm und können nur denjenigen etwas bedeuten, die anwesend waren, da sie die fehlenden Details in ihrem Kopf aufzufüllen in der Lage sind und so das Foto lebendig machen. Diese Möglichkeit habe ich nicht, daher bin ich auf das angewiesen, was in meinem Kopf vorhanden ist, und das ist sehr wenig. Die einzige Situation, an die ich mich tatsächlich erinnere, war kurz und flüchtig, aber ich habe sie bewahrt wie einen Schatz, ich weiß nicht, warum. Heute kommt sie mir eher wie ein Traum vor, und ich habe keine Möglichkeit zu erkennen, ob ich wirklich träumte, es gibt niemanden, den ich fragen könnte, ob sich alles so abgespielt hat, aber das ist auch nicht mehr wichtig. Mein Vater weckte mich eines Nachts, er kam offenbar von der Arbeit auf dem Land spät ins Haus und zeigte mir irgendetwas. Ich kann nur noch dieses Gefühl zurückrufen, das ich damals hatte, ich weiß nicht, wo ich schlief und was in der Folge passierte, mir ist nur noch bewusst, dass er es war, der mich weckte, was sonst wahrscheinlich nicht vorkam. Oder es war der Umstand, der Grund, der ihn zu mir geführt hatte, denn in seiner Hand hielt er etwas, das ich nicht erkannte, es war klein und zitterte, und als er es mir in meine Hände gab, erschrak ich zunächst und wusste nichts damit anzufangen. Mit einer unendlichen Zärtlichkeit streichelte er das Knäuel und meine Hand und sagte mir, dass es sich um ein Kaninchen handele. Ich kann mich erst an eine Zeit sehr viel später erinnern und daran, wie wir Kaninchen in einem kleinen Stall neben der Scheune hielten, um die wir uns kümmerten, aber der Traum davon, wie mein Vater mir die Verantwortung für die kleinen Geschöpfe in dieser Nacht buchstäblich in die Hand legte, bleibt unauslöschlich. Diese erste ist leider auch meine letzte Erinnerung an meinen lebendigen Vater, denn nicht viel später ereignete sich der tragische Unfall, der ihn das Leben kostete, so erzählte man mir nach Jahren.

Mein Zuhause und meine Heimat waren immer unser Hof. Er und die Menschen, die dort lebten, bildeten meine ganze Welt, denn wir verließen das Gehöft fast nie. In der Nähe gab es ein kleines Dorf, das wir selten besuchten, unsere Mutter fuhr einmal in der Woche zum Markt, aber wir blieben in dieser Zeit zu Hause. Sonntags gingen wir in die Kirche und später wochentags in die Schule, aber bis dahin war der Hof alles, was wir kannten. Auch kam uns selten jemand besuchen. Ich lernte erst später, dass das früher anders gewesen war, dass unser Vater derjenige war, der Freunde und Bekannte hatte und diese nach Hause einlud, ich bekam aber auch mit, dass unsere Mutter nichts davon hielt, sodass die Besuche nach seinem Tod schnell aufhörten. Das war mehr darauf zurückzuführen, dass Mutter die Besucher vehement abwehrte, als dass niemand mehr hätte kommen mögen, aber auch das erfuhr ich erst sehr viel später. Von den Personen, die uns, wenn auch selten, weiterhin besuchten, kann ich mich an den Pfarrer erinnern und einen Arzt, der Tiere und Menschen gleichermaßen zu behandeln schien, ob mit denselben Geräten und Medikamenten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Zu unserer kleinen Welt gehörten außer mir und meiner Mutter noch zwei weitere Frauen, viel später sogar drei. In den ersten Jahren waren da noch meine ältere Schwester und meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, die in einer kleinen Wohnung mit eigenem Eingang lebte, die aber im Wohnhaus lag und durch eine Verbindungstür vom Hausflur aus erreicht werden konnte. Von diesem Flur führte auch eine Treppe nach oben, die mit einer Unzahl von Teppichen belegt war, die im Laufe der Zeit Farbe und Muster eingebüßt hatten, da es trotz aller Vorsicht nie möglich war, den Dreck des Hofes vollständig draußen zu lassen. Die Einrichtung des ganzen Hauses kann ich erst mit der Distanz meines heutigen Blickes beschreiben, denn damals war für mich alles ganz normal, da ich keine Möglichkeit hatte, Vergleiche zu ziehen. Ich hatte nie andere Häuser von innen gesehen, wusste nicht, wie es bei anderen Leuten aussah und wie man ein Haus anders hätte einrichten können, als es bei uns der Fall war. Heute würde ich die Einrichtung mit einem Wort zusammenfassen: staubig. Da der Hof seit Generationen von unserer Familie, die mit meinem Jahrgang auszusterben schien, bewohnt wurde, hatten sich auch die Geschichten und Geschicke dieser Generationen im Haus versammelt und wohnten dort gleichermaßen mit uns zusammen. Aus der Distanz betrachtet konnte man den Eindruck gewinnen, als hätte jede Person, die jemals in diesen Wänden gewohnt hatte, etwas hinterlassen, etwas hinzugefügt, aber nie etwas entfernt, aus Respekt vor denen, die vor ihr dasselbe getan hatten. So waren die Wände bedeckt mit Bildern von Gebirgsansichten in schweren Holzrahmen und Heiligenbildern, billigen Reproduktionen von Ikonen, oder kleinen Zetteln mit frommen Motiven. Mir wurde erst viel später klar, dass diese Zettel, die man auch in den Gesangbüchern fand, Totenzettel waren, die meine Mutter »Leitbilder« nannte. Ich nahm wahrscheinlich an, dass die Abbildungen uns zu einem rechten Lebenswandel anleiten sollten, und erst in meiner Schulzeit fand ich heraus, dass es sich um »Leidbilder« handelte. So bedeutete jeder dieser Zettel eine verstorbene Person, deren Totenmesse jemand aus der Familie besucht hatte und der jetzt neben gusseisernen Kerzenhaltern unsere Wände zierte. Abgesehen vom Wandschmuck stellten auch die Möbel eine Ansammlung der Anschaffungen mehrerer Generationen dar, alles wurde weitervererbt, ab und zu kam ein weiteres Stück dazu, das uns von jemandem hinterlassen wurde. Soweit ich weiß, wurden von meiner Mutter nie neue Möbel gekauft, sodass die gesamte Einrichtung des Hauses alt, dunkel und schwer in den Zimmern lastete wie düstere, unbewegliche Tiere, und eine Mode widerspiegelte, die seit Urzeiten nicht mehr aktuell war, außer bei uns. Was außerdem zu dem unreinlichen Eindruck beitrug, war die schiere Masse an Zimmern, die unser Haus aufwies und die nach und nach immer weniger genutzt wurden und hoffnungslos verstaubten. Solange meine Großmutter noch laufen konnte, machte sie es sich zur Aufgabe, alles in Ordnung zu halten, völlig egal, ob die Zimmer genutzt wurden oder nicht, wie in ständiger Erwartung unangekündigten Besuches. Aber seit sie die Treppen nicht mehr steigen konnte, war das obere Stockwerk dem Schmutz anheimgefallen, und je mehr sie sich in ihre kleine Wohnung zurückzog, desto mehr folgte ihr der Staub herunter in das Erdgeschoss, so als hätte er darauf gewartet, dass sich sein größter Widersacher geschlagen geben würde. Später würde jemand anderes den Kampf gegen den Dreck aufnehmen, dafür aber ganz andere Sachen ins Haus tragen.

 

Was ist eine »Heile Welt«? Eine Welt, in der alles heil ist oder geheilt? Eine Welt, in der es keine Schmerzen gibt, keine Widerstände, nur Glück und Wohlergehen? Eine Welt, in der es noch nicht einmal das Wissen um Schmerzen gibt? So etwas ist unmöglich, immer gibt es Schmerzen, Enttäuschungen, Verbote und, dadurch angeregt, dunkle Ahnungen. Gäbe es eine heile Welt, dürfte es keine Schmerzen geben, aber auch keine Verbote, denn diese regen die Fantasie an. Warum darf ich das nicht, warum ist das nicht gut, sondern böse, unrein oder sogar sündig? Und trotzdem gibt es die Illusion der heilen Welt, die sich in der Vorstellung zwangsläufig immer weiter zusammenzieht, um Bestand haben zu können. Sie schrumpft, verkleinert und reduziert sich auf immer weniger Menschen, die an ihr teilhaben dürfen. So sollte die Familie die kleinste, heile Welt sein, ein Schutz gegen dunkle Einflüsse von außen. Innerhalb dieser Welt, die alles Böse außen vor lässt, gäbe es dann keine Verfehlungen, keine Sünde mehr. Und tatsächlich ist es das, was wir auf unserem Hof erlebten, eine kleine, reine Welt in der großen, bösen Welt, die wir davon abhielten, zu uns einzudringen. Das ging natürlich nur so lange gut, wie wir der Kontrolle unserer Mutter unterstanden, die unser einziger Einfluss war, bis wir schließlich doch hinaus sollten und Kräften ausgesetzt waren, deren Auswirkungen sie später wieder richten musste, gegen die sie kämpfte, um den Schutz aufrechtzuerhalten, den sie uns bisher geboten hatte. Musste dieser Plan scheitern? Ist er überhaupt gescheitert? Oder tat sie recht daran, uns auf die Art zu schützen, wie sie es tat? Aber wenn eine heile Welt eine ist, in der man sich geborgen fühlt und in der man keine Angst zu haben braucht vor dem, was von außen auf uns hereinzustürmen droht, lebten wir in einer solchen Welt. Was innerhalb dieser Welt passierte, mag nach objektiven Maßstäben, juristischen wie moralischen, anders bewertet werden, aber ist etwas schlecht, wenn es nicht schadet, wenn alle Betroffenen gar nicht betroffen sind, sondern zufrieden in der Gewissheit, dass der beste Weg gefunden wurde, um heil zu bleiben und geheilt zu werden, wo man fehlging?

So gesehen lebten wir damals in einer heilen Welt. Das vollständige Bild aber sieht immer anders aus als die Innenansicht, ein Wechsel der Perspektive bringt zwangsläufig Dinge ans Licht, die anders sind, als es den Anschein hatte. Aber diese neue Perspektive würde lange auf sich warten lassen.