Lebenslinien

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Jan Holmes – Lebenslinien

© Copyright 2017 by Jan Holmes

Verlag: Jan Holmes

janhwriter@gmail.com – www.janholmes.de

c/o KJ Funke, Bechlenberg 61, 42799 Leichlingen

Umschlaggestaltung:

Paul Trubas – www.paultrubas.de

Druck: epubli

Neopubli GmbH, Prinzessinnenstraße 20, 10969 Berlin

ISBN: 978-3-7450-0576-9

Jan Holmes

Lebenslinien

eins

Ferdi Arend von Finally Development hatte sich gut auf seinen Termin mit der Bank vorbereitet. Der Ausgang des Gesprächs, das in Kürze folgen sollte, würde über Gedeih und Verderb seiner Firma entscheiden, die zurzeit noch im hinteren Teil eines alten Industriegeländes residierte. Gegründet hatte er das Unternehmen mit einem Freund, mittlerweile beschäftigten sie eine Handvoll Mitarbeiter, alles junge Idealisten, die den ein oder anderen Monat auf ihr Gehalt warten mussten und dazu gern bereit waren, da sie an ihre Sache glaubten. Sie hielten sich eine Zeit lang mit kleinen Aufträgen über Wasser, schrieben Programme und verkauften Steuerungs-Software für Kleinanlagen, die Ferdi im Betrieb seines Vaters ausprobierte und sich dabei häufig am Rand eines Rauswurfs bewegte, da die Experimente des Öfteren dazu beitrugen, die Geräte alles Mögliche machen zu lassen, nur das nicht, wozu sie ursprünglich bestimmt waren. Das alles jedoch waren nur Schritte auf dem Weg zum eigentlichen Produkt, das den Durchbruch bringen sollte, aber Entwicklungszeit und damit Geld benötigte, um realisiert werden zu können. Und um dieses Geld aufzutreiben, betrat Ferdi an einem sonnigen Vormittag den Hauptsitz der Bank.

Er überlegte, dass trübes, nebliges Wetter dem Tag besser zu Gesicht gestanden hätte, ein schicksalsschwerer Tag, so fand er, der nicht so freundlich aussehen sollte, wie er es in diesem Moment tat. Schon mehr als einmal hatte er seine Aktentasche durchwühlt, nur um festzustellen, dass alles an seinem Platz war, dass er nichts vergessen hatte. Aber kaum hatte er das Schloss wieder einschnappen lassen, überfielen ihn abermals Zweifel, und er musste sich beherrschen, die Tasche nicht sofort wieder aufzureißen.

»Arend, ich habe einen Termin.«

»Guten Morgen, Herr Arend, bitte setzen Sie sich noch einen Moment.«

Selbst das »Guten Morgen« habe ich vergessen, ärgerte er sich jetzt. Er schwitzte. Bestimmt zogen sich die Schweißflecken durch sein Hemd schon bis zur Hüfte. Wäre ein weißes besser gewesen? Die Flecken wären dann bestimmt nicht so sichtbar. Warum hellblau? Sollte er das Jackett lieber anlassen, oder war das unhöflich? Ferdi bekam schlecht Luft, sein Hals war trocken, aber die Frau hinter dem Empfangsschalter hatte schon mehrfach zu ihm herübergesehen, er konnte jetzt unmöglich aufstehen, sie taxierte ihn bereits. Oder bildete er sich das nur ein? Er starrte angestrengt zu Boden, ließ seinen Blick dann wandern und fand einen Wasserspender an der gegenüberliegenden Wand der Eingangshalle, die mit teuren Ledersofas und exotischen Pflanzen in riesigen Hydrokulturtöpfen vollgestellt war. Niemals. Was wäre, wenn er gerade auf dem Weg zum Wasserspender war und in diesem Moment käme sein Sachbearbeiter? Nicht auszudenken. War ihm überhaupt ein Sachbearbeiter zugeteilt? Im Telefonat – mit Herrn Wiehiessernoch? – hatte er ausdrücklich um einen Termin mit der Geschäftsleitung gebeten, war dann aber wenig überraschend und freundlich darauf hingewiesen worden, dass sich jemand um ihn kümmern werde, der für seine Angelegenheit zuständig sei. Was hatten sie erwartet? Dass der Vorstand der Bank sich einen Vormittag freinahm, um sich die Hirngespinste einer Handvoll Computerspinner anzuhören? Je länger Ferdi in seinem Sessel saß, desto fadenscheiniger kam ihm ihre Idee vor. Hatten sie alles bedacht? Waren ihre Einfälle, ihre Technik, ihre Lösungen wirklich so revolutionär, wie sie selbst meinten? Gab es wirklich einen Markt für ihre Idee? Oder sollten die zahllosen Kritiker recht behalten, die ihnen in den vergangenen Monaten so hart zugesetzt hatten? »Wer braucht denn so was?« oder »Gibt’s das nicht schon?« waren die häufigsten Antworten. Dann waren da die Interessierten, die sich alles anhörten und erklären ließen, wissend nickten, den durch Stolz befeuerten Eifer bei den Erläuterungen noch anheizten, um dann zum Schluss in einer Äußerung dieser Art zu münden: »Ja, nett, aber das wäre nichts für mich.«

Natürlich nicht! Natürlich war das nichts für jedermann, schon gar nicht für fantasielose Idioten. Leider mussten Ferdi und sein Partner, Clemens Nolden, im Laufe der Zeit feststellen, dass die meisten ihrer Freunde zu diesen Idioten zu gehören schienen. Und ihr Fell war nicht dick genug, als dass sich nach einiger Zeit nicht doch der Gedanke eingeschlichen hätte, ob sie nicht vielleicht selbst die Idioten waren, die Zeit und Geld in etwas investierten, was sich nie im Leben auszahlen würde. Aber jetzt war es zu spät, der Termin war gemacht, Ferdi saß in seinem Sessel und meinte langsam, den Schweiß auch durch seine Hose sickern zu spüren, wo diese mit der Sitzfläche eine klebrige Verbindung einging. Wäre Clemens nur mitgekommen, dachte er ein ums andere Mal. Schickt mich hier allein auf die Schlachtbank. Aber dann stellte er sich seinen Freund bei einem Gespräch mit den potenziellen Geldgebern vor. Nervös, zitternd, Sturzbäche schwitzend und zu keinem klaren Gedanken fähig. Clemens war der Techniker, der Kopf hinter den Ideen, der wusste, wie sie umzusetzen waren. Ferdi hingegen war der Verkäufer, technisch nicht unbegabt, auch er hatte einen guten Teil ihrer Software geschrieben, aber für den Kern, die digitale Logik hinter ihrer Idee, war Clemens verantwortlich. Dafür musste Ferdi hier sitzen und darauf warten, dass sie sich die nächste Abfuhr einhandeln würden. Sie würden das Büro kündigen müssen, ihre Leute entlassen und sich auf dem freien Arbeitsmarkt nach etwas anderem umsehen. Das war das Aus für Finally Development. Warum stand er nicht einfach auf und verabschiedete sich von der Empfangsdame? Er würde etwas davon murmeln, dass sie es sich anders überlegt hätten, die Idee sei vielleicht doch noch nicht ganz so ausgereift, daran müsse noch einiges getan werden, das könne man wirklich noch niemandem zumuten.

Erneut öffnete er seine Tasche, nahm die Notizen heraus, und die Buchstaben schienen zu verschwimmen. Auf dem Weg hierher hatte er in der Bahn noch Bemerkungen angebracht, der Rand der Blätter schien jetzt mehr Text zu enthalten als seine eigentliche Ansprache, die er in tagelanger Kleinstarbeit ausgefeilt hatte. Aber auch seine Handschrift schien ihm jetzt nicht mehr von dieser Welt zu stammen, die Farbe verlief förmlich auf den Blättern. »Vergleichswerte anführen«, hieß es an einer Stelle. Welche Vergleichswerte? Vergleiche womit? Ferdi schnappte nach Luft und entschied, dass es keinen Zweck hatte, sich mit einem derart windigen Vorhaben schon jetzt an die Öffentlichkeit zu wagen, noch war nichts verloren, er brauchte nur aufzustehen, sich zu erheben, festen Schrittes durch die Halle zu gehen und unerkannt zu verschwinden. Niemand würde sich an sein Gesicht erinnern, wenn jemand anrief, würde er nicht ans Telefon gehen, er wäre ein Schatten, den keiner zu fassen bekäme. Aber was würde er Clemens und den anderen sagen, die schon am Vorabend den Sekt kalt gestellt hatten, wie er zufällig gesehen hatte, als er als Letzter das Büro verließ, einem nagenden Hungergefühl nachgab und einen Blick in den Kühlschrank warf? Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er gerührt war, und eigentlich hatte er selbst daran gedacht, für die Jungs etwas Ähnliches zu organisieren, eine kleine Feier. Unsinn, eine große Feier, ein riesiges Fest, Anstoßen auf eine bessere Zukunft, schwelgend im Luxus, schwimmend im Strom des Geldes, das ihnen unweigerlich zufließen musste, wenn die Bank erst erkannt hatte, welchen Goldfisch sie da an der Angel hatten. Ja »wenn«. Nicht etwa »sobald«. Ferdi kam sich klein und verloren vor, er würde aus seinem Mund, in dem die Zunge wie eine alte Decke an seinem Gaumen pappte, kein Wort bringen, er musste hier raus. Gleichgültig wie, aber er würde es den anderen schon beibringen, die Bank hatte eben »Nein« gesagt, hatte die Idee nicht gut gefunden, nicht ausgereift, nicht passend, zu riskant. Oder der Sachbearbeiter war einfach nicht gekommen, hatte sie verarscht und lachte sich jetzt bestimmt in seiner Arbeitsnische kaputt über die dummen kleinen Jungen mit ihrem Spielzeug. In diesem Moment stand plötzlich ein untersetzter älterer Herr vor Ferdi, der vor Überraschung fast laut gejapst hätte.

»Guten Tag, Herr Arndt, nehme ich an, mein Name ist Reinbacher, entschuldigen Sie die kleine Verspätung.«

Ferdi brachte kein Wort heraus, korrigierte den Herrn noch nicht einmal, erhob sich umständlich, schüttelte die ihm dargebotene Hand und nickte unbeholfen. Zu lange gezögert, dachte er und überlegte nur, wie dämlich sein Grinsen eigentlich aussehen musste.

Herr Reinbacher führte Ferdi durch die Empfangshalle zu den Aufzügen und ließ dabei ein paar Bemerkungen über das Wetter und andere Belanglosigkeiten fallen, die Ferdi überhörte. Er konnte sich nicht konzentrieren, das Licht schien plötzlich zu hell zu sein, die Pflanzen zu grün, so als wären sie aus Plastik, die riesigen Fensterscheiben gaben den Blick auf einen Film frei, der draußen vor dem Gebäude ablief, ohne dass irgendjemand wusste, was hier drinnen vor sich ging. Aber wie sollten sie auch? Ferdi wischte sich etwas Schweiß von der Stirn und bemerkte dann, dass seine Hand vor Nässe tropfte. Hoffentlich hält mein Deo, war sein letzter Gedanke, bevor sich die Aufzugtüren vor ihnen schlossen und die Sorge um Atemnot den Gedanken an seinen Körpergeruch ablöste. Im achten Stockwerk wurde er in einen Raum geführt, in dem er kurz warten sollte. Schon schlichen sich wieder Gedanken an eine Flucht in seinen Kopf, er überlegte, ob und wie er möglichst unbemerkt aus dem Gebäude kommen könnte, welche Ausreden er haben würde, wenn sie ihn erwischten, aber in der Aufregung konnte er nicht einmal mehr sagen, wie oft sie abgebogen waren, nachdem sie den Aufzug verlassen hatten, ob er sich nach rechts oder links wenden musste, oder ob der Aufzug nur mit einem Schlüssel bedient werden konnte, er also sowieso bedingungslos ausgeliefert war.

 

»So, entschuldigen Sie die Wartezeit, das hier sind Herr Derigs aus der Kreditabteilung, Herr Selbach vom Risikomanagement, und Herrn Krosch haben wir als externen technischen Berater eingeladen. Wollen wir uns gleich setzen?«

Ferdi schüttelte Hände und hatte die Namen derer, zu denen sie gehörten, schon wieder vergessen. Er beeilte sich, auf seinen Platz zu kommen, denn die Frage schien rein rhetorisch zu sein, alle saßen bereits und warteten auf ihn. Hätte er nur noch etwas Zeit, sich vorzubereiten und aus dem raumhohen Fenster auf die Stadt zu blicken. Wenn er sich nur kurz frisch machen könnte, duschen, rasieren, noch eine Stunde schlafen, einen Tag vielleicht und dann auswandern und nie wieder hier auftauchen.

Mit quälender Langsamkeit öffnete er seine Tasche und fingerte an den Papieren herum, die er vorbereitet hatte.

»Haben Sie hier vielleicht einen Beamer?«, presste er hervor. Er hatte seinen Vortrag in Form einer kleinen Bildershow vorbereitet und hätte sich gern an deren Struktur festgehalten, um den Faden nicht zu verlieren und die wichtigsten Punkte nicht zu übersehen. Aber die fragenden Gesichter seiner Gegenüber machten ihm schnell klar, dass er mit dieser Stütze nicht rechnen konnte. Er probierte es dennoch etwas unbeholfen: »Ich hätte da etwas Material vorbereitet, ein paar Grafiken, Screenshots, und so weiter.«

»Das wird nicht nötig sein, Herr Arndt, wir kennen die Ausführungen ja schon aus den Unterlagen, die Sie uns geschickt haben. Es geht heute vielmehr darum, sie persönlich kennenzulernen, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, nicht wahr?«

Natürlich, klar, nickte Ferdi eifrig, dem überhaupt nichts klar war, außer dass er in Kürze ohnmächtig werden würde. Zu seiner Überraschung nickten seine Gegenüber aber durchaus freundlich und schienen ihren ursprünglichen Plan, ihn kurzerhand in Stücke zu reißen, nicht umsetzen zu wollen, zumindest noch nicht.

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Arndt, fasse ich die Angelegenheit kurz zusammen, damit wir feststellen können, ob wir auch alles richtig verstanden haben. Unterbrechen Sie mich bitte sofort, wenn ich etwas Falsches sagen sollte.«

Er stand auf, wies mit einer ausladenden Armbewegung auf seine Kollegen und fuhr direkt fort, wobei er sinnierend durch den Raum spazierte und Ferdi ab und zu anblickte, so als wollte er sich dessen Aufmerksamkeit versichern sowie der Richtigkeit seiner Ausführungen.

»Herr Arndt und sein Kompagnon haben vor einiger Zeit eine Softwarefirma gegründet mit Namen ›Finally Development‹. Neben Steuerungssoftware für Industrieanlagen liegt ihre eigentliche Kernkompetenz im Programmieren von artifizieller Intelligenz, die sie zur Fertigung einer neuartigen Software nutzen wollen. Dabei handelt es sich um eine Art Computerspiel, bei dem die Spieler über das Internet vernetzt sind, man spielt also nicht allein, sondern zusammen, mit weltweit Hunderten, Tausenden oder noch viel mehr Spielern. So ist jedenfalls das hehre Ziel, wenn ich sie richtig verstanden habe.«

Ferdi nickte und kam sich ein wenig überflüssig vor. Vor einem der Fenster zog eine Schar Tauben vorbei und verschwand hinter dem nächsten Gebäude. Der Raum roch etwas seltsam, so wie ein neues Auto, das noch nie oder nur sehr selten benutzt wurde. Er betrachtete den erzählenden Banker und dachte für einen Moment, dass das alles hier nicht echt sei. Er schlief wahrscheinlich noch oder wurde hinters Licht geführt. Genau, dieser Raum hier, der viel zu neu roch, der war extra für diesen Tag und dieses Treffen eingerichtet worden, er wurde zum Narren gehalten, gleich wurde ihm eröffnet, dass er im Fernsehen auftreten würde und Gast in einer Sendung mit versteckter Kamera sei. Aber das Einzige was passierte, war, dass er einen Teil der Ausführungen verpasst hatte.

»… so soll es dann möglich sein, dass die einzelnen Spielzüge von einem Zentralrechner überprüft werden, um feststellen zu können, ob der Zug gültig war und quasi auf das globale Spielbrett eingetragen werden kann, wo er für alle anderen Spieler sichtbar ist, die dann daraufhin wieder reagieren können. Stimmt das so ungefähr, Herr Arndt?«

»Arend«, korrigierte Ferdi jetzt und wunderte sich über seine plötzliche Sicherheit. Er stand ebenfalls auf und umrundete den Tisch, während er sprach. Je länger er redete, desto sicherer wurde er, was nicht verwunderlich war, denn schließlich hatten sie sich im Laufe der letzten Jahre ihres Lebens mit fast nichts anderem beschäftigt als mit diesem Projekt. Herr Reinbacher und jeder andere Schlipsträger hätte ihn nachts um drei Uhr aus dem Bett klingeln und nach Exil fragen können, und er hätte umgehend Rede und Antwort gestanden.

»So ungefähr ist das richtig, wenn auch kein Zentralrechner eingesetzt wird, um die Spielzüge zu kontrollieren. Bei dem hohen Durchsatz an gleichzeitigen Spielern, die wir anstreben, wäre ein derartiger Rechenaufwand von einem Rechner allein nicht zu lösen. Wir setzen daher auf eine verteilte Abarbeitung der Spielzüge, die von den Endgeräten der Spieler selbst übernommen wird. Wenn man davon ausgeht, dass ein Großteil der Spielzeit darauf verwendet wird, dass der Spieler seiner Fantasie nachhängt und seine Züge plant, sein Gerät in dieser Zeit aber nichts zu tun hat, liegt nichts näher, als eben diese Lösung. Über ein verteiltes, dezentrales Netzwerk werden die Spielzüge der einzelnen Spieler, sobald sie einmal getätigt wurden, an alle momentan zur Verfügung stehenden Spieler weitergeleitet und auf deren Geräten überprüft. Liegen Ergebnisse vor, wandern diese sofort wieder zurück in das Netzwerk. Das hat den Vorteil, dass wir keinen riesigen Zentralrechner mit unvorstellbaren Kapazitäten brauchen, wir sichern uns durch die verteilte Lösung auch gegen Ausfälle eines solchen Rechners ab. Bei einem Serverausfall wären sonst die schon angesprochenen Hunderte oder Tausende von Spielern nicht in der Lage, ihr Spiel fortzuführen, bei einem verteilten System gibt es immer einen Rückhalt, der einspringt, sobald jemand aussteigt. Bei der minimal vorstellbaren Spielerzahl von Eins übernimmt dann das Gerät des Spielers alle Berechnungen seiner Spielzüge.«

Ferdi war in seinem Element und fühlte sich langsam besser. Das Reden über ihr Projekt hatte ihn etwas beruhigt, seine Zunge gelöst und ihn in die Realität zurückgebracht. Allerdings schien jetzt die Stunde des externen Beraters zu schlagen, der die ganze Zeit über keine Miene verzogen hatte und auch jetzt sehr hölzern agierte, seine Worte mit Bedacht wählend.

»Sie sagen, dass es keine zentrale Speicherinstanz gibt, wie wird dann aber in diesem Fall der einzelne Spieler mit Daten versorgt, wenn er wirklich allein spielen sollte? Wenn Ihr Ziel einer weltweiten Spielergemeinde Wirklichkeit werden sollte, müssen die Datenmengen unvorstellbar groß sein, sodass es nicht möglich sein wird, diese alle redundant auf den Endgeräten vorzuhalten. Das Sicherheitsrisiko lokal gespeicherter Daten jedes einzelnen Spielers auf den Geräten aller anderen Spieler wird von dieser Frage noch nicht einmal berührt.«

Er lehnte sich steif zurück, sein Gesicht ließ auch weiterhin nicht erkennen, was seine Motivation war. Wollte er sich nur wichtigmachen, um sein Honorar zu rechtfertigen, sprach der Neid aus ihm und versuchte er deshalb, eine Schwachstelle in ihrem System zu finden? Aber Ferdi war nicht darauf aus, sich verunsichern zu lassen, sie hatten zu lange geplant und alle Für und Wider abgewogen, um jetzt angesichts solcher Anfängerfragen sofort die Waffen zu strecken.

»Das ist eine sehr gute Frage, aber ich kann Ihre Bedenken zerstreuen. Es ist richtig, dass Exil die Berechnungen, die nötig sind, um die einzelnen Spielzüge zu verifizieren, nicht auf einem zentralen Rechner durchführt, für die Datenhaltung aller gespeicherten Spielzüge und Spielstände sind wir allerdings auf zentrale Rechner angewiesen. Diese müssen allerdings nicht sonderlich leistungsfähig sein, sondern nur besonders viel Speicherplatz in einer durchdachten Struktur aufweisen, um zum einen die Datenmenge überhaupt speichern zu können und zum anderen den Zugriff darauf möglichst in Echtzeit zu gewährleisten. Wir arbeiten bereits mit einem anderen Unternehmen zusammen, und zwar handelt es sich dabei um die Firma BitFireS aus Großbritannien, die schon mehrere Preise für ihre innovative Datenspeicherung erhalten hat. Wir stehen in engem Kontakt mit den Entwicklern dieses Unternehmens und testen seit einigen Wochen neue Versionen von FireX, die noch nicht öffentlich erhältlich sind, in unseren Tests aber bisher hervorragend abschneiden.

Zum Thema Sicherheit kann ich auch noch kurz etwas sagen: Die Unversehrtheit der Spielerdaten hat höchste Priorität, daher werden alle Daten redundant vorgehalten, mehrfach gespiegelt und ständig auf Konsistenz überprüft. Dass alle Daten nur verschlüsselt übertragen und gespeichert werden, ist selbstverständlich. Verschlüsselung nach Militärstandards – und darüber hinaus – ist Grundlage unserer Arbeit, ebenso wie die Tatsache, dass kein Datensatz zurückverfolgt werden kann, selbst im unmöglichen Fall der Kompromittierung eines der Systeme würden die Einbrecher also nur Datenmüll erhalten, den sie weder entschlüsseln noch zurückverfolgen können. Aber wie gesagt: Diese Überlegungen sind rein hypothetisch.«

»Das sagt Facebook auch immer«, konnte sich der Externe nicht nehmen lassen zu sagen, aber der eigentliche Schwachpunkt in Ferdis letzten Ausführungen lag ganz woanders, wie ihm schon in der Sekunde, in der er es aussprach, klar wurde. Was lag denn über einem Militärstandard? Gab es das überhaupt? Er hatte sich in Rage geredet, um dem Wichtigtuer das Maul zu stopfen und sich dazu hinreißen lassen, etwas zu behaupten, angesichts dessen Clemens wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Was wäre, wenn er seine angebliche Verschlüsselung demonstrieren sollte, was wäre, wenn die Bank ihnen nur Geld bewilligen würde, wenn sie die Wunderwaffe zur Verfügung stellten, die sie ja angeblich bereits in Händen hielten und die sämtliche kryptografischen Bemühungen, die Militärs in der ganzen Welt jemals angestrengt hatten, locker in den Schatten stellte? Mit einem Mal war die Sicherheit verflogen, und Ferdi wurde kalt. Sein Hemd klebte an seinem Körper, der jetzt keine selbstsichere Wärme mehr verströmte, sondern sich zurückzog und sich vor den sanften aber klebrigen Berührungen des Stoffes ekelte, der sich von allen Seiten an ihn anzuschleichen schien. Aber Schützenhilfe kam von unerwarteter Stelle, als sich der Herr zu Wort meldete, der für das Risikomanagement verantwortlich war. Ferdi konnte sich weder an seinen Namen erinnern noch sich vorstellen, was seinen Beruf auszeichnete. Rechnete er Wahrscheinlichkeiten aus, um dahinterzukommen, wie risikoreich ein Unternehmen sein würde und ob es sich lohnte, Geld darin zu investieren? Oder durchleuchtete er Bittsteller, deren Lebenslauf und Familien, damit die Firma nicht jedem dahergelaufenen »Genie« mit einer windigen Idee auf den Leim ging? Durch den Dunst seiner Überlegungen trieben die Worte des Risikomenschen auf ihn zu.

»Danke, haben Sie noch Fragen, Herr Krosch? Wir würden Sie dann nicht mehr benötigen.«

Der schien überraschter von der Frage zu sein als Ferdi, zuckte kurz zusammen und verneinte dann. Seine Reaktion war anscheinend etwas übereilt, denn noch, während er sich erhob, richtete er eine weitere hastige Frage an Ferdi.

»Wie sieht eigentlich Ihr Konzept für die Spielerbindung aus? Rechnen Sie damit, dass die Leute Ihre Spielchen lange mitmachen und dafür monatliche Gebühren bezahlen? Meinen Sie, dass für einen andauernden Spielspaß gesorgt ist?«

Aber Ferdi musste auf diese Provokation nicht antworten, denn Herr Risiko kam ihm zuvor.

»Danke, Herr Krosch, um die inhaltlichen Fragen kümmern wir uns dann.«

Damit war der Techniker entlassen, und Ferdi konnte langsam damit aufhören, zu zittern und die Zähne zusammenzubeißen, damit sie vor Kälte und Unbehagen nicht aufeinanderschlugen. Mit dem Klappen der Tür, die sich hinter Herrn Krosch schloss, überflog ein leichtes Lächeln Ferdis Gesicht, das zu Eis erstarrte, als der Dritte im Bunde jetzt das Wort ergriff.

»So, gut, dann hätten wir das. Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Arend, ich denke, wir können dann hier zum Abschluss kommen. Also. Wir haben Ihre Kostenschätzung ja vorliegen, ich kann Ihnen gleich sagen, dass unser Haus nicht in diese Art von Unternehmungen investiert. Die Welt der Computerunterhaltung ist eine große, aber auch eine wankelmütige Sparte der Unterhaltungsindustrie und Schwankungen unterworfen, die man weder vorhersehen noch in irgendeiner Weise nachvollziehen könnte. Sie werden am besten wissen, wie überraschend der Erfolg für Newcomer zuweilen sein kann, aber nicht, wie viele Firmen mit Potenzial einfach untergehen, weil sie es nie schaffen, ihre Ideen bis zur Marktreife zu produzieren und letztendlich auch am Markt zu platzieren. Der Grund, warum Sie keine Kenntnis davon haben, wie viele gescheiterte Ideen auf eine erfolgreiche kommen, ist einfach der, dass Sie niemals erfahren werden, wer alles gescheitert ist. Wir sind da in einer etwas anderen Position, daher glauben Sie mir: Die Zahlen machen keinen Spaß, zumindest den Verlierern nicht.«

 

Er ließ ein kurzes, gackerndes Lachen hören, aber sonst rührte sich niemand, anscheinend hatte er den Witz ganz für sich allein gemacht, oder seine Art von Humor war so hinreichend bekannt, dass niemand der anderen mehr darauf reagierte. Ferdi sah sich sein Gegenüber genauer an, so wie er redete, hätte er einen grauen, nervösen Buchhalter erwartet, hager und sich hinter dicken Brillengläsern verschanzend. Auf der anderen Seite des Tisches aber saß ein braun gebrannter Sportlertyp mit kurzen blonden Haaren und einem Anflug von dunklem Bartschatten, der verriet, dass er sich die Haare färbte, was in einem fast grotesken Widerspruch zur Position stand, die er vertrat.

Ferdi raffte seine Papiere zusammen und begann, sie wieder in seine Tasche zu packen, die Worte des Sportlers waren deutlich gewesen. Keine Investition in Computerspiele. Natürlich. Jetzt ärgerte er sich über die Zeit, die er hier verbracht hatte, die Energie, die sie aufgewendet hatten, um alles vorzubereiten, um gewappnet zu sein für alle möglichen Fragen. Er hatte alles erklärt, hatte die Felsen der Zweifel umschifft, was die Neuheit ihrer Ideen anging, hatte Bedenken zerstreut, was die technische Machbarkeit betraf. Aber die Antwort war ganz einfach: Zu risikoreich, die Bank hatte keinen Bedarf daran, Geld zu verbrennen, nur weil ein paar einfältige Computerjunkies sich für Genies hielten.

»Scheiße!«, brüllte Leo, als Ferdi mit dem Bericht über seinen Termin in der Bank geendet hatte. »Ich hab’s gleich gesagt!«

»Hast du nicht«, meinte Tim, »du hast sogar den Sekt kalt gestellt.«

»Klar, aber das war deine Idee!«

»Leck mich.«

Alle sahen betreten zu Boden, Clemens hatte die ganze Zeit noch überhaupt nichts gesagt, aber man konnte ihm ansehen, was in ihm vorging. Exil war ihr Kind, das sie über Jahre hinweg aufgezogen hatten, und plötzlich sollte sich herausstellen, dass sie nur eine Totgeburt gepflegt hatten?

Ferdi hatte die Ausbrüche seiner Kollegen bisher ignoriert und insgeheim sogar genossen. Beim Anblick von Clemens’ betretener Miene fühlte er sich allerdings verpflichtet, etwas zu sagen, so konnte er seinen Freund nicht noch länger hängen lassen.

»Auf jeden Fall erzählte dieser Finanztyp dann weiter: Unser Haus sieht sich nicht imstande abzuschätzen, welches Potenzial hinter Ihrer Idee steckt, Herr Arend, aber Ihr Auftreten hat uns überzeugt. Na ja, eigentlich ein Gutachten, das wir in Auftrag gegeben haben und das besagt, dass Ihre Idee durchaus Zukunft haben könnte.«

Alle starrten Ferdi jetzt an, aber er ließ sich nichts anmerken.

»Wir werden Ihre Idee also nicht persönlich unterstützen, allerdings wird sich eine unserer Tochtergesellschaften Ihrer Sache annehmen. Es handelt sich dabei um ein Venture Capital-Unternehmen, das heißt, wir investieren in Erfolg versprechende Ideen und schneiden uns nachher ein großes Stück vom Kuchen ab.«

An dieser Stelle folgte wieder das gackernde Lachen, das in Ferdis Erzählung aber unterging, denn die anderen fielen schon über ihn her.

»Du Arsch!« Mit diesen Worten war Leo als Erster bei und auf ihm, rang ihn zu Boden und trommelte lachend auf seinem Rücken herum. Tim und Johann leisteten ihm Gesellschaft, bis sie alle keuchend liegen blieben.

Clemens hatte sich immer noch nicht gerührt, stand jetzt seelenruhig auf, blickte Ferdi an und schüttelte traurig den Kopf, aber in seinen Mundwinkeln versteckte sich ein Lächeln. Er verließ das Zimmer, die anderen sahen sich irritiert an, aber da kam er schon zurück und hielt den Sekt in der Hand.

»Und jetzt füllen wir uns mal so richtig ab«, verkündete er und knallte den Hals der ersten Flasche auf die Tischkante, sodass Scherben flogen und der Sekt nur so spritzte.