Kains Königsweg

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Ich konnte nichts hören, da sie die Autotür schon wieder geschlossen hatte, aber wahrscheinlich war sie wütend, weil er vor ihrem Haus gehalten hatte und damit die Gefahr beschwor, dass sie jemand zusammen sah, was dann ja auch passierte, denn ich stand nur wenige Meter daneben und sah ihn mir an.

Ich wusste nicht sofort, was hier gespielt wurde, aber ich konnte es mir schnell zusammenreimen. Die Ohrringe, die Schminke, der Mann. Wenn es ein Freund war, wieso kannte ich ihn dann nicht? Woher kam das Geld, das meine Mutter für uns ausgab? Die kleine Halbtagsstelle als Verkäuferin in einer Drogerie, die sie bekommen hatte, konnte dafür nicht verantwortlich sein. In meinen Gedanken spielten sich die widerlichsten Szenen ab, die meine Mutter beschmutzten und mit ihr das Geld, das sie bekam und alles, was wir davon kauften, was wir aßen, die Kleidung, die wir trugen.

Ich stand vor dem Haus und sah diesen Kerl mit meiner Mutter argumentieren, hoffte, sie würde aussteigen und mir alles erklären, mir sagen, dass ich mich irrte, aber das passierte nicht. Ich starrte die beiden wie versteinert an, konnte mich nicht rühren, hätte ihn am liebsten aus seiner Karre gezogen und windelweich geprügelt, ihn angebrüllt, er solle meine Mutter in Ruhe lassen, seinen Wagen demoliert und angezündet, bis die Nachbarn, durch den Lärm aufmerksam geworden, die Polizei riefen, die mich abführen würde. Aber das alles geschah nicht, ich konnte mich nicht bewegen, sah die Szene wie auf einer Leinwand sich vor mir abspulen, war wie gelähmt, verletzt durch die Lügen meiner Mutter, ihr verlogenes Schweigen, und mir war kalt vor Scham.

Ich fühlte jeden Vorhang hinter jedem Fenster der Nachbarschaft heimlich zur Seite geschoben und tausend Augen uns beobachten und nicken und wissen. Schließlich wurde der Wagen angelassen, er fuhr los. Erst jetzt löste sich mein Körper aus dem Gefängnis seiner Eisesstarre, und ich kotzte heulend in den Rinnstein.

Ich weiß nicht, warum ich mich in diesem Moment nicht rühren konnte, warum ich da stand, als wäre ich aus Stein gemeißelt, aber ich habe eine Vermutung: Der Mann auf dem Fahrersitz, der Kerl, der sie aushielt und bezahlte für Sachen, die ich mir nicht vorstellen möchte, sah aus wie ein ganz normaler Mensch. Er trug einen Anzug und ein weißes Hemd, er war frisch rasiert, seine Haare gewaschen und gescheitelt, er sah gepflegt aus, fast könnte man sagen: sympathisch.

Wie oft habe ich mir gewünscht, es hätte ein fettes, dreckiges Schwein am Steuer gesessen, so einer, wie man meint, dass so ein typischer Urlaubskinderficker aussehen müsste. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich bestimmt nicht so angewurzelt da gestanden, sondern gehandelt und die Sau am gestreckten Arm ausbluten lassen.

So aber war ich wütend auf mich selbst, dass ich nichts tun konnte, viel mehr noch als enttäuscht von meiner Mutter, von der mich ab sofort ein Ekelgefühl trennte, das mich zurückzucken ließ, wenn sie mich berührte und von dem sie wahrscheinlich annahm, es sei der in einem bestimmten Alter übliche Widerwillen eines Sohnes gegen die Zuneigung seiner Mutter. Ich habe sie nie auf den Abend angesprochen.

Zwei

Ich hatte Ihnen erzählt, wie ich zu meinem Bruder stehe oder vielmehr stand. Er war für mich der Vater, den ich nie hatte, die Person, auf die ich hörte, die mir einen Rat geben durfte, mich aber auch zurechtweisen konnte. Unsere Mutter war dafür viel zu weich, sie hatte wahrscheinlich Angst, die beiden verbleibenden Männer in ihrem Leben (vergessen wir für einen Moment einmal ihren »Wohltäter« im Auto, ich werde später noch auf ihn zurückkommen) auch noch zu verlieren.

Ich kann nicht sagen, dass sie uns verhätschelte, dafür fehlten ihr Zeit und Geld, später übte sie sogar scharfe Kritik, vor allem an Timos Broterwerb, aber wenn es hart auf hart kam, wenn wir Widerworte gaben, knickte sie zu schnell ein, setzte sich nicht in letzter Konsequenz durch. Ich weiß nicht, ob sie mit Strenge viel hätte ausrichten können, oder ob wir noch mehr Widerstand gegen ihre Erziehung mobilisiert hätten, wenn sie beharrlicher auf die Befolgung ihrer Regeln gepocht hätte. Ich kann auch nicht sagen, ob sich die Sache mit Timo dann vielleicht anders entwickelt hätte.

Es ist müßig, jetzt darüber nachzudenken, die Vergangenheit ist abgeschlossen, ich kann heute darüber reflektieren, ein wenig Licht ins Dunkel meiner und unserer Entwicklung bringen, ich kann deuten und erklären, aber all das ist in Stein gemeißelt. Sich jetzt auszudenken, was hätte passieren müssen, um den nach abwärts gewandten Weg meines Bruders korrigieren zu können, bringt nichts, also bleibe ich bei dem, was ich beobachtet und erfahren habe – erinnern Sie sich an die Farbe »Rot«? Ich weiß nicht, ob es sich wirklich so verhalten hat, ob meine Gedanken und Empfindungen das widerspiegeln, was sich tatsächlich zugetragen hat, aber ich werde mein Bestes geben, der einzigen Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen.

Wie ich schon sagte: Timo war mein Vaterersatz, er hatte alles, was mir noch bevorstand, bereits hundertfach gesehen und erlebt. Wenn er mir etwas sagte, gab es keinen Grund, an seinen Erfahrungen oder etwa an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Sagte er mir, ich solle gewisse Gegenden meiden, machte ich einen großen Bogen darum, empfahl er mir, bestimmte Bücher zu lesen, verbrachte ich Nachmittage im Schneidersitz, um möglichst schnell nachzuholen, was er mir voraushatte.

Doch auch die am hellsten strahlenden Vorbilder verblassen mit der Zeit, werden schwächer in ihrem Licht, das einen führt, ihre makellose Oberfläche bekommt Risse. Aber vielleicht ist es auch nur der Blick, der sich schärft, sodass man die kleinen Fehler deutlicher sieht, oder ist es das eigenständig heranwachsende Leben in einem, das die Bereitschaft schwinden lässt, sich alles vorkauen zu lassen? Man will seine eigenen Narben, will selbst auf die Schnauze fallen und nachher sagen: Das habe ich allein herausbekommen.

Wer von uns sich veränderte, ist letztendlich nicht wichtig, denn meine Bewunderung für ihn hat trotz allem nie abgenommen. Ich kann nicht hoch genug schätzen, wie sehr ich ihn dafür liebte, dass er mir die Welt öffnete, wie mein Vater es hätte tun sollen, wozu er aber nie in der Lage war.

Nun gab es aber die Kehrseite, den »dunklen« Timo, der sich mit Geschäften über Wasser hielt, die auch ich irgendwann nicht mehr gutheißen konnte. Er hatte mir die Sache mit den Zigaretten erklärt, meinte, ich solle selbst abwägen zwischen Gut und Böse, zwischen größerem und kleinerem Übel, und in dieser Angelegenheit hatte ich mich klar für ihn entschieden. Aber irgendwann kommen auch die dümmsten Lagerverwalter dahinter, dass ihnen irgendjemand die Bude ausräumt (und sei es nur, weil sie sich selbst die Taschen füllen), irgendwann wird jedes offene Fenster mit Riegeln, jedes Tor mit einer Alarmanlage gesichert, sodass sich die einträglichen Zeiten fürs Erste erledigt hatten.

Es gab neue Geschäftsfelder. Früher hätte ich gerne gewusst, wie mein Bruder an die Kontakte und die Möglichkeiten gelangte, die sich ihm ständig eröffneten und die uns unsere Existenz ein wenig leichter machten, aber jetzt ist mir das egal, er ist tot, was hätte ich von der Einsicht, mit welchen Subjekten er sich herumtrieb? Ich bekam nur ein einziges Mal einen kurzen Einblick in den Sport, den er ausübte. Und zwar hielt er seine »Partner« immer von unserem Haus fern, wickelte sämtliche Käufe und Verkäufe irgendwo anders ab, auf Parkplätzen mit geöffneten Kofferraumdeckeln, darum herum stehend eine verschwörerisch grinsende Gruppe, die sich irgendwann einig wurde und dann Sporttaschen mit fragwürdigem Inhalt austauschte. Sie kennen die Filme.

Doch einmal war etwas anders, hatte nicht so funktioniert, wie es geplant war, und vor unserem Haus hielt ein heruntergekommener Sportwagen. Ich saß oben am Fenster und sah zwei Gestalten aussteigen, die wie Karikaturen der Gangster aussahen, die Hollywood einem verkaufen wollte: Der eine hatte einen Trainingsanzug an, drei Nummern zu groß, eine verspiegelte Sonnenbrille thronte über einem blöden Schnauzbart, seine Haare eingefettet und angeklebt, alles in allem eine mehr als lächerliche Erscheinung.

Der zweite entstammte einer völlig anderen Liga: Er trug feine Klamotten, einen karierten Pullunder (schon der Name für diese Missgeburt eines Kleidungsstücks ist das Letzte!), Bügelfaltenhose und einen Zigarillo mit Mundstück zwischen den Lippen. Timo hatte die Ankunft der beiden Witzfiguren ebenfalls bemerkt und stürzte schon aus dem Haus, drängte sie zurück in den Wagen, setzte sich selbst auf die Rückbank und verschwand nach kurzer Zeit, in der er sie vermutlich gehörig zusammenstauchte, aus meinem Blickfeld. Unsere Mutter hatte nichts mitbekommen, aber selbst sie hätte gewusst, dass das keine Arbeitskollegen waren, wenn man wie mein Bruder den Tag damit verbringt, Autos zu reparieren.

Eins muss ich ihm lassen: Er handelte professionell. Niemals stolperte ich im Keller über eine Wagenladung von Autoradios, nie bekam ich mein Zimmer mit verdächtigen Kartons vollgestellt, um mal eben darauf aufzupassen. Die kriminelle Karriere meines Bruders vollzog sich im Stillen, weitab von seiner Familie, die er schützen wollte, was ihm auch ganz gut gelang.

Zumindest so lange, bis das Gift ihn ereilte.

Mein Bruder war nie das, was manche Leute »straight edge« nennen, wenn es darum ging zu feiern, bewies er regelmäßig ordentliche Nehmerqualitäten. Dieses Bild gewinne ich, wenn ich seinen Erzählungen glauben darf, die er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit nachts ab und zu brühwarm auftischte, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.

Manchmal kam er erst spät nach Hause, machte kein Licht, bewegte sich auf Zehenspitzen, um unsere Mutter nicht zu wecken. Ich habe nie Details erfahren, aber es muss jeweils hoch hergegangen sein, Alkohol spielte immer eine Rolle, und ich sog jedes Wort von seinen Lippen wie ein Säufer die letzten Tropfen aus seiner Flasche. Ein solcher ist Timo nie gewesen, dafür war er trotz aller Eskapaden zu verantwortungsvoll, Mutter hat ihn nicht ein einziges Mal betrunken gesehen, da bin ich mir sicher, und egal, wie übel der Kater ihm am Morgen mitspielte, er verließ pünktlich das Haus und klagte nicht.

 

Am meisten bewunderte ich ihn, wenn er mir Geschichten von Mädchen erzählte, jungen Frauen, mit denen er zu tun hatte, in welcher Weise, ließ er immer bedeutungsvoll offen, und ich malte mir später, wenn sein Schnarchen zu mir herüber dröhnte, die wildesten Fantasien aus und kleckerte dann mein Bettzeug voll. Was mich angeht, habe ich zu seinen Lebzeiten nie den Anschluss gefunden und eine Freundin »gehabt«, daher musste ich meine Gelüste durch ihn leben lassen und mir dann aus zweiter oder vielmehr eigener Hand holen, was ich selbst nicht haben konnte.

Aber ich wollte von seinem Niedergang erzählen. Im Laufe der Zeit, ich denke an einen Zeitraum von etwa zwei bis drei Jahren, kam er öfter und öfter völlig apathisch nach Hause, teilnahmslos, blass im Gesicht, das ein seliges, aber doch irgendwie dümmliches Lächeln zierte. In diesen Nächten war er zu kaum etwas zu bewegen, antwortete nur einsilbig auf meine Fragen, erzählte nichts, saß auf seinem Bett, lehnte an der Wand und starrte vor sich hin.

Beim ersten Mal, als ich ihn so sah, hatte ich schreckliche Angst um ihn, ich zerrte an ihm herum, schüttelte ihn, was er ohne ein Anzeichen von Widerstand oder auch bloßem Bemerken über sich ergehen ließ. Um Mutter nicht zu wecken, konnte ich ihn nicht anschreien, also saß ich nur hilflos vor ihm, drosch auf seine Brust ein und heulte leise. Ich weiß nicht, was damals in ihm vorging, aber mit einem Mal schreckte er scheinbar kurz aus seinem Wachtraum auf, seine Augen schienen aus dem Jenseits wieder in diese Realität zu fokussieren, er ergriff meine Handgelenke und hielt mich eisern fest.

Mir stockte der Atem, es waren quälend lange Minuten, die er mich so hielt, dann wanderten seine Augen langsam und zögerlich durch den Raum und blieben schließlich an mir hängen. Ich fühlte mein Blut gerinnen, ein eisiger Schauer durchfuhr mich, denn so hatte ich ihn noch nie gesehen. Seine sonst so lebhaften, blauen Augen wirkten matt und tot, so als sähe er durch mich hindurch. Seine Haut hatte etwas wächsernes, kalter Schweiß stand auf seinem Gesicht.

Nach einiger Zeit kehrte ein Hauch von Leben in ihn zurück, er atmete geräuschvoll ein, fixierte mich mit seinen erstarrten Augen und hauchte mir kaum hörbar entgegen: »Nicht. Es ist gut.« Das war das Einzige, was ich von ihm hörte, er ließ mich los, und sein Mund verzog sich in Zeitlupe wieder zu diesem dummen Grinsen. Ich ließ ihn auf dem Bett sitzen, sein Oberkörper seltsam gekrümmt, angelehnt an die Schräge des Daches. Ich lief in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett warf und fest davon überzeugt war, mein Bruder werde in dieser Nacht sterben.

Natürlich starb er nicht, aber beginnend mit diesem Tag betrachtete ich ihn auf eine andere Weise. Wenn er mir ins Gesicht sah, erkannte ich hinter seinem flinken Blick immer die toten Augen, die mich angestarrt hatten, war für mich sein lautes Lachen immer gepaart mit dem Anblick dieser entsetzlichen Grimasse, die ihn aussehen ließ, als hätte man ihm den Schädel gespalten und er genösse es auch noch.

Ich kann nicht sagen, wie oft ich ihn noch in diesem Zustand erleben musste, ich weiß nur, dass ich mich immer seltener um ihn kümmerte, dass ich nicht mehr auf ihn einschlug, um ihn aufzuwecken, wusste ich doch, dass es nichts brächte. Ich kann auch nicht sagen, wie oft ich mir dafür Vorwürfe gemacht habe, dass ich nicht härter reagierte, dass ich ihn nicht zur Besinnung rief, aber erst heute weiß ich, dass man nichts ausrichten kann, dass die Welt, in der er träumend seine Zeit verbrachte, für uns nicht zugänglich ist.

Man kann mit einem Menschen, dessen Geist vom Gift umnebelt ist, nicht normal kommunizieren, man ist ausgeschlossen aus seinen Gedanken und seinen Gefühlen. Es ist völlig egal, wie vernünftig und klar, wie lebhaft, wie humor- oder gedankenvoll die Person ist, wenn sie einem im Licht des normalen Tages begegnet, wenn sie existiert und lebt, von Wärme strahlt und einem nicht wie eine halb tote, leichenkalte Wachspuppe den Schreck deines Lebens einjagt.

Er starb nicht wirklich, aber für mich jedes Mal ein bisschen, wenn ich ihn so sitzen sah. Ich bekam weniger und weniger Geschichten zu hören, hatte immer kleineren Anteil an seinem Leben, das ich zumindest noch dadurch ein wenig mitleben konnte, dass er mir tagsüber erzählte, was alles passiert war (wobei er seine »Geschäfte« immer gewissenhaft unterschlug). Ich hasste diesen Anderen, diese kalte Person, dieses Etwas, das nachts nach Hause kam und mich ängstigte.

Ein einziges Mal, ein kleines, dreckiges Mal habe ich ihn angesprochen. Es war ungefähr nach der zweiten oder dritten Gelegenheit, dass ich ihn so erleben musste. Normalerweise verschwand er vor uns aus dem Haus, hinterließ einen gedeckten Tisch zum Frühstück, trank nur schnell ein paar Tassen pechschwarzen Kaffee und ging dann zur Arbeit. Nicht dieses Mal. Ich passte ihn ab, als er gerade aus der Tür wollte, der kleine Bruder hält den großen zurück, packt ihn und sieht ihn mit stechendem Blick in die Augen.

So hatte ich es mir vorher ausgemalt, aber natürlich konnte ich diesem Timo, diesem echten, lebendigen Timo gegenüber nicht so hart sein, wie ich es gerne gewesen wäre, wie er es vielleicht nötig gehabt hätte, um endlich aufzuwachen aus seinem Albtraum.

Versuche ich schon wieder, die Vergangenheit zu ändern? Scheiße, ich bin nicht schuld an seinem Schicksal, habe ich ihm den Arm abgebunden und die Nadel geführt? Nein, das habe ich nicht. Ich bin an vielem schuld, aber nicht an seiner Wahl, an seiner eigenen, verdammten Entscheidung, sich über die Zeit hinweg zu vergiften.

Was also war passiert? Ich hielt ihn nicht zurück, ich sagte nur seinen Namen, er erschrak kurz, war er doch morgens sonst stets allein. Er blieb im Türrahmen stehen, die Sonne schien schon hell, ich sah nur seinen geisterhaften Schattenriss, der gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen. Er drehte sich halb um, sein Schatten verformte sich zu einem grotesken, buckligen Monster, das mich jetzt doch mit der gewohnten Stimme ansprach und mir einen guten Morgen wünschte.

Als ich diese Worte hörte, war mein Zorn verflogen, Timo kam zurück, jetzt konnte ich sein Gesicht sehen, alles war wieder in Ordnung, da stand er vor mir und sah mich fragend an. Ich wollte ihm alles Mögliche an den Kopf werfen, ihn zur Schnecke machen, ihm drohen, wir seien geschiedene Leute, wenn er nicht sofort aufhöre, sich nachts in diese furchtbare Gestalt zu verwandeln, die mir Angst machte und die nicht mehr mein Bruder sein sollte. Aber wem mache ich etwas vor? Ich stand am Treppenabsatz, sah den gedeckten Tisch, den er für uns hergerichtet hatte, sah ihn, seine Augen, und ganz langsam liefen mir in der morgendlichen Stille die Tränen die Wangen herunter.

Timo sah mich entgeistert an, er schien nicht zu verstehen und kam zu mir herüber, nahm mich in den Arm und streichelte über meinen Kopf, bis ich mich wieder beruhigt hatte. »Hör auf, bitte«, war das Einzige, was ich hervorbrachte, bis mich ein erneuter Sturzbach von Tränen wieder verstummen ließ. Und jetzt folgte keine Ansprache, keine Rechtfertigung, nichts, was ich hätte greifen können, um vielleicht mit ihm zu argumentieren, ihm vorzuhalten, was er zerstörte, aber das war gar nicht nötig. »Ich weiß«, sagte er dann auch nur, nickte leicht, drehte sich um und ließ mich allein zurück.

Mir kam es vor, als wäre es das Letzte, was ich von ihm sehen sollte.

Der Zustand meines Bruders, oder sagen wir lieber: Seine Zustände besserten sich für einen Moment. Es schien, als hätten ihm meine Tränen gezeigt, was er mir bedeutete und wie wichtig er für mich war. Vielleicht hat er für eine kurze Zeit gespürt, dass er eine Verantwortung für mich hatte und welch schlechtes Vorbild er mir gab. Für eine Weile kümmerte er sich mehr um mich, kam seltener spät nach Hause und schlich nicht wieder wie sein eigener Geist herum und ängstigte mich.

Ich möchte nicht herzlos erscheinen, aber ich witterte in seiner Fürsorge einen Funken Falschheit, er bemühte sich ein bisschen zu sehr, so als wollte er etwas aufholen und wieder gut machen. Aber ein paar Wochen später überwog dann doch schon wieder die Trauer in mir, er vergaß mich ein ums andere Mal, und nach zwei weiteren Begegnungen der unheimlichen Art schloss ich mich in mein Zimmer ein, sobald ich schlafen ging. Sollte er doch Zombie spielen, ich würde mich da heraushalten, ich käme auch ohne ihn klar. Dass ich das früher, als mir lieb war, auch musste, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Dafür ereignete sich in diesem Sommer noch etwas anderes, das es mir umso leichter machte, mich ein wenig von Timo zu entfernen, ihn allein zu lassen mit seinem Gift, seinen Feiern und was er sonst noch so treiben mochte.

Ich hatte mich im Laufe der Jahre abgesetzt von Gleichaltrigen, meine seltenen aber dafür umso heftigeren Ausbrüche hatten es den anderen leicht gemacht, mich zu meiden, und wer will es ihnen verdenken? Ich hätte auch mit niemandem befreundet sein wollen, der nichts so gut zu können schien, wie schlecht gelaunt dreinzublicken, und den jede Kleinigkeit überschnappen lassen konnte, der sich verwandelte in einen um sich schlagenden Spinner, der sich erst beruhigte, wenn sein Gegenüber bereits am Boden lag.

Meine Rolle des verschlossenen Einsiedlers, den niemand so richtig durchschaute und die mir ehrlich gesagt gar nicht so schlecht gefiel, da ich mich nicht verbiegen, nicht nett sein musste, niemandem Rechenschaft abzulegen hatte, diese Rolle wurde um ein Vielfaches erleichtert durch die Schule, die ich in der Zwischenzeit besuchte. Die Grundschule, in der mich und meine Familie jeder kannte, wo jeder genau wusste (oder zu wissen meinte), was in mir vorging, weil ich einen so schrecklichen Vater hatte, diese Brutstätte der Kleinstadtgerüchte hatte ich schon vor fast fünf Jahren hinter mir gelassen, und es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit.

Auf der weiterführenden Schule genoss ich meine Anonymität, ich konnte allein auf dem Schulhof stehen, ohne dass jemand schon meine Geschichte kannte und mich schief ansah. Die Schule lag in einem anderen Stadtteil, die Schüler trabten aus dem ganzen Umland an, und so konnte ich mich unter Hunderte von anderen Zugereisten mischen, ich war allein, aber frei. Es gab einige Schüler, die mich noch von der Grundschule kannten, aber sie wussten zumeist, wie ich diejenigen behandelt hatte, die mich verspotteten, daher forderten sie ihr Glück nicht heraus.

Natürlich entwickelten sich im Laufe der Zeit ein paar Bekanntschaften, man ging in dieselbe Klasse, hatte vielleicht ein Stück des Heimwegs gemeinsam zurückzulegen, und so kam man sich zwangsläufig näher, wusste den Namen des anderen, kannte seine Schulnoten, seine Kleidung, seinen Geschmack. Man konnte sagen, ob jemand Geld hatte oder nicht, was die Eltern beruflich machten, man sah es daran, dass sie ihre eigenen Schlüssel besaßen, die Pausenbrote von ihren Müttern gerichtet waren oder dass sie Geld dabei hatten, um sich mittags etwas zu kaufen. Man konnte wissen, ob sie mit Geschwistern aufwuchsen, wenn sie offensichtlich bereits etwas aus der Mode gekommene Sachen trugen (so wie ich), die ihnen von älteren Brüdern oder Schwestern vermacht worden waren.

All diese Anhaltspunkte ließen mich meine »Freunde« sorgfältig auswählen: Jeder, der nach Reichtum stank, war sofort tabu, aber die Außenseiter mit älteren Geschwistern, die kein Geld für das Mittagessen dabei hatten und auch bei Klassenausflügen nicht durch prall gefüllte Rucksäcke auffielen, oder diejenigen, die nicht von einem Elternteil zur Schule gebracht und wieder abgeholt wurden mit übergroßen, glänzenden Autos neuesten Baujahrs, diese suchte ich mir unbewusst aus. Das tat ich nicht, damit sie meine Freunde würden, aber in ihrer Nähe erhielt ich mir selbst eine Art Glaubwürdigkeit, für sie musste ich mich nicht verstellen.

Das Bild, das ich von mir hatte, das des Einsiedlers, der mit niemandem etwas zu tun haben wollte, wurde auch durch die Bekanntschaft mit einigen harmlosen anderen Personen nicht zu etwas, das ich zur Schau stellte. Ich blieb unauffällig, bot keinen Anlass zu Fragen, eine Schattengestalt, die man (so bildete ich mir ein) sofort wieder vergaß, wenn sie aus dem Blick der anderen verschwunden war.

 

Es gab nur eine Situation, die mir für einen kurzen Moment den Atem stocken und glauben ließ, jetzt hätten mich alle durchschaut, jeder wisse jetzt unwiderruflich, wie es um mich bestellt sei, aber keiner hatte eine Ahnung, keiner interessierte sich so sehr für mich oder auch nur für irgendjemand anderen. Es musste schon dicker kommen, dafür musste man kaputte Sachen tragen, völlig lächerliche Frisuren verpasst bekommen haben oder wiederholt ausgesucht dumme Antworten geben.

In diesem Fall konnte man sich sicher sein, dass sich die Schüler wie eine blutrünstige Meute auf ihr Opfer stürzten, siegessicher, einen Schwächeren gefunden zu haben, den man im Kollektiv der Menge erniedrigen konnte, um sich selbst für den Moment ein bisschen besser zu fühlen, sich erhoben zu wissen über den armen Tropf.

Aber lassen Sie mich zu meiner Schrecksekunde zurückkommen. Wir hatten das Bergfest des Halbjahres schon vor einigen Wochen hinter uns gebracht, erste Klausuren waren geschrieben, und so langsam ging es daran, an Zensuren zu denken. Sonst ruhige Schüler oder solche, denen unerwartet schlechte Noten in den schriftlichen Arbeiten einen gehörigen Schrecken eingejagt hatten, bäumten sich für kurze Zeit auf. Sie waren angetrieben von guten Vorsätzen, die wenige Wochen später schon wieder vergessen waren, meldeten sich eifrig und wünschten, sich beim Lehrer ins Gedächtnis zu rufen. Zu »streben«, wie die anderen, die um ihre Versetzung nicht zu bangen brauchten, es dann abfällig nannten, obwohl sie eigentlich diejenigen waren, auf die das sonst eher zutraf, aber wer wollte ihnen verübeln, dass sie ihre Chance nutzten, schnell ein wenig Spott loszuwerden?

Wir dachten also mit mehr oder weniger Unruhe an unsere Versetzung in den Fächern, die uns nicht lagen. Mein Angstfach war Biologie, unterrichtet von einem alten Drachen, einer Lehrerin, der man nicht glauben würde, sie habe einmal bessere Zeiten gesehen, alt, verhärmt, mit einem Blick, der Blut zum Stocken bringen konnte, was er auch regelmäßig tat. Ich hatte in den letzten Monaten nicht durch besondere Beteiligung geglänzt und die ersten Prüfungen gehörig in den Sand gesetzt, deswegen war ich Kandidat für eine Demütigung der besonderen Art. Glücklicherweise gab es noch eine ganze Reihe anderer, die diese fragwürdige Ehre mit mir teilten, denn beim Drachen eine bessere Note als »befriedigend« zu erhalten, war schon Glücksache. So ein Glück konnte zum Beispiel sein, dass die Lehrerin mit den Eltern gemeinsam in die Kirche ging oder ähnlich irrelevante Privilegien, die sie trotz aller Korrektheit nicht davon abhalten konnte, diese Schützlinge regelmäßig besser zu bewerten, als es ihnen eigentlich zustand.

Ich fühlte, dass sie falsch lag, aber was sollte ich tun? Mich öffentlich mit ihr anlegen, sie zurechtweisen, sie beschuldigen, nicht gerecht zu benoten? Ich verabscheute diese Person, ihr Lächeln, das genauso falsch war wie ihre Zähne, aber ich sah für mich keine Chance, sie über meine Auffassung von Gerechtigkeit aufzuklären, und so ließ ich es direkt sein.

Nun, sie machte sich einen Spaß daraus, diejenigen, deren Zensuren ihrer Meinung nach auf verlorenem Posten standen, namentlich zu nennen und einen Text zu diktieren, der sich lang und breit darüber erging, dass der Sprössling es nicht fertigbringe, sich ordentlich am Unterricht zu beteiligen, schlechte Noten schreibe und, kurz gesagt, die Gefahr bestehe, dass »nicht ausreichende« Leistungen im Fach Biologie das nächste Zeugnis verunzieren und die Versetzung gefährden könnten.

Diese demütigende Übung gipfelte in dem Satz: »Und das lasst ihr von euren Eltern unterschreiben.« Was hätte sie auch sonst sagen sollen? »Von eurem Erziehungsberechtigten«? Wohl kaum. Trotzdem traf mich die Formulierung »von euren Eltern« wie ein eiskalter Stich in die Brust. Der Drache war während des Diktats durch die Reihen gegangen und kam passenderweise neben mir zum Stehen, als er mit der für mich unerfüllbaren Forderung geendet hatte. Mir wurde kalt, der Klassenraum verengte sich vor mir zu einem Tunnel, an dessen Ende kaum noch Licht zu sehen war.

Ich schnappte nach Luft, und als ich aufsah, starrte ich direkt in die unbarmherzigen Augen des Reptils, das keine Gnade kannte. Ich bildete mir ein, dass jeder meinen Aussetzer bemerkt hatte, wollte mich umsehen, um mich zu vergewissern, war aber versteinert von diesem Blick, der mich zu durchbohren schien. Der Blick fragte, was mit mir los sei, ob ich ein Problem mit dieser doch nun wirklich nicht zu schweren Anweisung habe, es könne doch nicht zu viel verlangt sein, seinen Eltern ein Blatt Papier zur Unterschrift vorzulegen.

Nichts dergleichen passierte. Der Drache hatte sein Ziel erreicht, die sich kurzzeitig ändernden Schatten in den Falten um seinen Mund deuteten ein siegessicheres Grinsen an, zeigten die Gewissheit, dass er geschafft hatte, was er wollte: dass wir die Hosen gestrichen voll hatten. Nicht so ich.

Ich ging beinahe froh nach Hause, glücklich darüber, dass ich den Sumpf der Gerüchte, der spitzen Zeigefinger und des Mitleids, der sich am Ende des Tunnels schon auf meinem Weg zeigte, umschifft hatte. Ich erntete natürlich einen missbilligenden Blick meiner Mutter, verbunden mit der Forderung, mich für den Rest des Halbjahres anzustrengen, aber kein Blick der Welt konnte es mit den Eis versprühenden Augen des Drachen aufnehmen, ich war abgehärtet.

Von nun an war ich gefeit gegen die Angst, jemand könnte irgendetwas ausplaudern, denn die Lösung war ganz einfach: Es interessierte sich einfach niemand dafür, wahrscheinlich gab es Hunderte anderer Schüler, die noch viel schlimmere Familien zu Hause hatten, manche vielleicht gar keine. Wer war ich schon, mir ins Hemd zu machen, nur weil mein Vater nicht bei uns lebte? Er war eben auf Montage, lebte auf einer Bohrinsel, war anerkannter Korrespondent im Ausland, Kapitän auf einem Frachter, Rettungsflieger in einem Krisengebiet, es gab tausend solcher Geschichten, die nur einen einzigen Makel hatten: Es waren Lügen.

Ich erzählte diese Lügen niemandem, damit ich mir nicht merken musste, wem ich was gesagt hatte, ständig Gefahr laufend, ertappt zu werden, eine Rückfrage nicht schnell genug beantworten zu können und schließlich noch viel schlimmer dazustehen, als Aufschneider nämlich. Deshalb achtete ich auch weiterhin darauf, dass mir niemand zu nahe kam, dass ich keinen an mich heranließ, der mich vielleicht zu sich einladen würde und den ich im Gegenzug vielleicht zu mir mitnehmen müsste. Auch wenn mir die Angst genommen war, dass ich mich in der Schule verraten könnte, obwohl es vielleicht gar nichts zu verraten gab, meine Familie blieb meine Familie, eine Einheit, untrennbar, in die niemand eindringen durfte und sei es nur für einen Augenblick.

Es waren Jahre ohne Geburtstagsfeiern, ich behauptete, ich wolle niemanden einladen, wir saßen zu dritt zu Hause am Tisch, ich blies Kerzen aus und wünschte mir ein normales Leben, obwohl ich nicht genau wusste, was das sein sollte, aber es war bestimmt anders als das hier.

Was mich aber eigentlich von Timos Schicksal ablenkte, mich davon abhielt, mir zu viele Sorgen um ihn zu machen, war etwas völlig anderes, das ich nur kurz erwähnen möchte, denn wer will schon etwas über unglückliche Liebe hören, geschweige denn erzählen? Ich nicht.

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