Das Geheimnis der Dämonen

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Aus der Reihe: Das Geheimnis der Dämonen #1
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Das Geheimnis der Dämonen
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Das Geheimnis der Dämonen
J.B. Brooklin

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Impressum

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors!

Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2021 dieser Ausgabe OBO Verlag,

alle Rechte vorbehalten.


M. Kluger

Fort Chambray

Apartment 20c

Gozo, Mgarr

GSM 2290

Coverdesign: Giusy Ame / Magicalcover

Bildquellen: Pixabay, Shutterstock

Prolog

Niemand weiß genau, wie sie entstehen, die Ifrit, auch Dämonen oder Totengeister genannt, deren Element das Feuer ist.

Man sagt, die Ifrit erscheinen als Rauchsäule am Ort eines Mordes.

Mag sein.

Sicher ist, sie bewegen sich so lautlos wie Rauch.

Sicher ist, Menschen können die Ifrit nur dann sehen, wenn sie es ihnen erlauben.

Sicher ist, die Ifrit wandeln unter den Menschen, um Morde zu rächen.

1

Irgendetwas stimmte nicht. Sie hätte ihn nicht sehen dürfen. Er war unsichtbar, zumindest für Menschen. Tiere und andere Wesen aus den Parallelwelten konnten ihn wahrnehmen. Aber nicht sie.

Sekunden später musste er sich seinen Irrtum eingestehen.

„Sind Sie ein Freund meines Onkels?“, sprach sie ihn an.

Langsam wandte er sich zu ihr um. Noch während sein Körper diese Bewegung vollführte, sorgte er dafür, auch für die übrigen Menschen sichtbar zu werden. Es hätte seltsam gewirkt, hätte sie ihre Worte ins Leere gerichtet.

„Nein, nicht direkt. Eher ein entfernter Bekannter“, versuchte er, ihrer Frage auszuweichen. Dabei bedachte er sie mit einem Lächeln, das darauf ausgelegt war, ihre Aufmerksamkeit auf andere, erfreulichere Dinge zu lenken. Er kannte seine Wirkung auf Menschen, insbesondere Frauen. In welchem Zeitalter er sich auch bewegte, er erfüllte immer die gängigen Vorstellungen von äußerer Schönheit. Was weitgehend daran lag, dass er eine leere Leinwand war, auf die die Menschen ihre Vorstellungen projizieren konnten.

In diesem Fall allerdings ging seine Taktik nicht auf. Anstatt sein Lächeln zu erwidern, bedachte sie ihn mit einem Stirnrunzeln.

„Wie heißt du?“, ging sie zu der vertrauteren Anrede über, nachdem sie sein Gesicht gesehen und ihn auf ihr Alter, also Anfang zwanzig, geschätzt hatte. Ganz so, wie Alexander es gewollt hatte, trotzdem war ihre Neugierde irritierend. Er beschloss, höflich zu bleiben, sie sich so schnell wie möglich vom Hals zu schaffen und dann das zu tun, weshalb er gekommen war.

„Alexander“, antwortete er kurz, um sofort mit einer angedeuteten Verbeugung den Rückzug anzutreten. „Es war mir ein Vergnügen, dich kennengelernt zu haben, aber jetzt muss ich leider gehen.“

„Warte“, rief sie ihm nach, aber er war schon wie Rauch zwischen den Menschen verschwunden. In dem Gedränge, das in dem Garten herrschte, war es ein Leichtes, ungesehen zu entkommen. Aber das Zusammentreffen hatte ihn verstört.

Wie war es ihr möglich gewesen, ihn zu sehen?

In diese Grübeleien versunken, bemerkte er nicht, wie er den Garten verließ und das Haus betrat. Er fand sich plötzlich in einer Halle wieder, die die Ausmaße eines Fußballfeldes hatte. Der Fußboden war mit alten - und soweit er es beurteilen konnte -, antiken Mosaiken ausgelegt. In der Mitte des imposanten Raumes hing ein riesiger Kronleuchter. An den Wänden protzten die Gemälde alter Meister. Sie zogen Alexander in ihren Bann. Er liebte Kunst und so ließ er es zu, sich für einige Minuten lang in eine andere Welt entführen zu lassen.

„Hier also ist der Tizian!“ Gegen seinen Willen war er beeindruckt. Madonna mit dem Kind und den Heiligen Lukas und Katharina war eines der wenigen großformatigen Gemälde des italienischen Künstlers, die sich in Privatbesitz befanden. Vor einigen Wochen hatte ein europäischer Privatsammler das Kunstwerk bei Sothebys für 12,2 Millionen Euro ersteigert. Seine Identität war bisher unbekannt.

Nur wenige Schritte entfernt hing ein Chagall. Eigentlich ein Stilbruch, aber seltsamerweise nicht störend. Dem Chagall folgte ein Rubens, dann ein Dali, danach Klimt. Diese chaotische Anordnung der Werke war interessant. Sogar mehr als das faszinierend.

Aber das war nicht wichtig. Mit einem Schulterzucken wandte er sich von der Ausstellung ab. Der Gastgeber des opulenten Gartenfestes, mochte ein begnadeter Kunstkenner sein, ein Genie, wenn es darum ging, seine Sammlung zu präsentieren. All das aber verblasste hinter seinem anderen Talent: der Planung des perfekten Mordes. Perfekt nach den Maßstäben der Menschen, denn die Tat war bisher ungesühnt geblieben. Niemand ahnte etwas von dem dunklen Geheimnis des Hamburger Bankers.

Alexander war hier, um den Blutpreis einzufordern.

Heute. Am Abend des Sommernachtsfestes, das Torsten Halder alljährlich in seiner Villa in Blankenese veranstaltete. Die Crème de la Crème der Hamburger Gesellschaft und einige handverlesene Prominente waren die Glücklichen, die an diesem Ereignis teilnehmen durften. Alexander war nicht eingeladen, aber das war auch nicht notwendig, konnte er doch überall erscheinen. Einer der Vorteile, die ein Ifrit genoss. Wenn nötig, konnte er sich auflösen und an einem anderen Ort wieder auftauchen. Unsichtbar. Warum aber hatte sie ihn entdeckt?

 

Seine Gedanken schweiften zu ihr ab. Sariel Halder. Ein Name wie aus einem Märchen. Das Bild der langen rotbraunen Haare und der traurigen, ernsten Augen wollte ihn nicht loslassen. Sie war schön. Selbst gemessen am Maßstab seiner Art war sie schön.

Es geschah schon wieder: Er war unkonzentriert. Was mindestens ebenso ungewöhnlich war, wie die Tatsache, dass er von einer Sterblichen bemerkt wurde.

Eine seltsame Nacht.

Erneut wanderte sein Blick durch den Raum. Eigentlich sollte er seine Aufgabe längst erledigt haben, aber sein mangelnder Fokus hielt ihn davon ab. Wenn er einen Mord rächte, so musste diese Rache perfekt sein. Das gelang nur, wenn er sich mit jeder Faser seines Wesens auf sein Tun konzentrierte.

Torsten Halder, der aus einer alten, ehrwürdigen Hamburger Bankerfamilie stammte, würde sterben.

Aber nicht heute.

Ohne davon zu wissen, hatte sich die Spanne seines Lebens soeben um einige Tage verlängert. Alexander brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, wie der Hamburger Banker sterben würde, nachdem das heutige Vorhaben gescheitert war.

Er hatte den Tod verdient. Mehr als verdient. Einen flüchtigen Augenblick lang überlegte Alexander, ob Halders Nichte ebenfalls dieser Meinung sein würde.

2

Einige Sekunden lang stand sie regungslos inmitten der Menschen. Sie war es nicht gewöhnt, dass sie gleich zu Beginn eines Gesprächs einfach stehen gelassen wurde.

Er hieß Alexander. Und er sah verdammt gut aus, hielt aber nicht viel von Höflichkeit. Sariel hätte gerne länger mit ihm gesprochen, was ungewöhnlich für sie war, denn in letzter Zeit ging sie Männern aus dem Weg. Aber sein offensichtliches Desinteresse hatte ein Gefühl der Sicherheit in ihr erweckt. Ein verspätetes Unbehagen kroch in ihr hoch. Er musste gedacht haben, sie wollte etwas von ihm! Was, wenn er …?

Mit einem Schulterzucken brach sie diesen Gedankengang ab. Am besten wäre es, sich ebenfalls zurückzuziehen. Sie hatte keine Lust, unter all den Fremden herumzustehen und so zu tun, als amüsierte sie sich. In Wahrheit fühlte Sariel sich unbehaglich, fehl am Platz, und wäre nur zu froh gewesen, sich in die Sicherheit und Abgeschiedenheit ihrer Räume flüchten zu können. Sie wünschte, ihr Onkel hätte nicht auf ihrer Anwesenheit bestanden.

„Es wird dir gut tun, Sariel. Du gehst zu wenig unter die Leute“, hatte er gesagt. Er hatte recht. Obwohl der Tod ihrer Eltern schon zwei Jahre zurücklag, war sie noch immer nicht darüber hinweg. Verkroch sich lieber in ihr Schneckenhaus, als unter Menschen zu sein.

Sie sollte loslassen. Aber es war so verdammt schwer.

Eine einzelne Träne löste sich. Glitt an ihrer Wange hinab und hinterließ eine silberne Spur. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte Sariel den Beweis ihrer Trauer ab.

Es war lächerlich. Peinlich … Und außerdem würden ihre Eltern wünschen, dass sie glücklich war.

Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich um, versuchte mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Niemand sollte bemerken, wie sie sich davonstahl. Für heute hatte sie lange genug, die unbekümmerte, glückliche Sariel gemimt. Außerdem war die Abgeschiedenheit ihrer Räume besser, als die hoffnungsfrohen Annäherungsversuche der Mitgiftjäger zu ertragen, die seit Kurzem Interesse an ihr bekundeten.

Sariel Halder war reich. Und jung. Und, wenn man Forbes glauben sollte, eine der besten Partien des europäischen Geldadels.

Toll!

Seit dieser Artikel herausgekommen war, konnte sie sich vor dem Interesse der männlichen Bevölkerung kaum noch retten. Zu einer anderen Zeit hätte Sariel sich darüber amüsiert. Jetzt aber sehnte sie sich nach Einsamkeit. Trotz dieses Gedankens ertappte sie sich dabei, wie sie die Menge nach dem Mann absuchte, der sich nicht für sie zu interessieren schien.

Er war fort. Was gut war. Sie wollte keine belanglose Konversation führen. Mit einem ärgerlichen Seufzer versuchte sie, das Gefühl zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Es fühlte sich an wie Enttäuschung. Was war nur mit ihr los? Sie hatte kein Interesse.

„Ich hatte schon befürchtet, dich nicht mehr zu finden.“ Die Stimme beschwor ein Bild von schwarzem Samt herauf. Eine seltsame Klangfarbe für einen Mann. Bevor sie sich umdrehte, wusste sie, wer sie angesprochen hatte. Der Unbekannte, nach dem sie vor wenigen Sekunden die Menge abgesucht hatte.

„Nein … ich ... Ich wollte gerade gehen.“ Sariel wurde heiß. Innerlich verwünschte sie ihr Gestammel ebenso wie ihr rot glühendes Gesicht. Sie wusste es einfach, ihre blasse Haut gab jedes Gefühl preis.

„Wie schade. Ich wollte mich für mein ungehobeltes Benehmen entschuldigen. Es war unverzeihlich …“

Abwehrend hob Sariel die Hand. „Du bist mir keine Erklärung schuldig.“

Sein Blick ließ sie verstummen. Fast kam es ihr vor, als könne er bis in ihre Seele vordringen. Seine Augen waren schwarz. Hypnotisierend. Dann beugte er sich ein wenig vor und nahm mit einer fließenden Bewegung Sariels Hand. Wie eine Feder streiften seine Lippen über ihre Haut. Die Berührung war leicht, kaum wahrnehmbar. Trotzdem beschleunigte sich ihr Herzschlag.

„Ich muss … ich muss jetzt wirklich gehen.“ Verwirrt schob Sariel eine Haarsträhne zurück, trat einen Schritt nach hinten und drehte sich um. Verschwand in der Menge. Kurze Zeit später befand sie sich in ihrem Zimmer, lehnte mit dem Rücken gegen die Tür und fragte sich, was zum Teufel mit ihr los war.


Ein Handkuss! Handküsse waren seit Jahrzehnten, wahrscheinlich seit Jahrhunderten aus der Mode. Warum hatte er sich zu einer solchen Geste hinreißen lassen? Aus irgendeinem Grund bewirkte Sariel Halders Nähe, dass er nicht klar denken konnte. Das war schlecht. Sehr schlecht. Alexander war über hundert Jahre alt. In dieser Zeit hatte er ungezählte Morde gerächt. Jedes Mal war er kalt, besonnen und fokussiert gewesen. Heute aber verhielt er sich wie jeder andere hirnlose Trottel, dem eine Frau gefiel.

Anstatt sich in den Mantel seiner Unsichtbarkeit zu hüllen, verharrte er und dachte über die Begegnung nach. Sie war eine seltsame Frau, anders als die Menschen, mit denen er sonst zu tun hatte. Über ihrem Wesen lag etwas Ätherisches, fast so, als könne sie sich ebenfalls in Rauch auflösen.

Die Präsenz eines anderen Menschen unterbrach seine Gedanken. Trotz der Tatsache, dass er sich inmitten unzähliger Gäste befand, war es eine bestimmte Person, deren Gegenwart in sein Bewusstsein kroch.

Torsten Halder.

Wie ein schwarzer Schatten breitete sich seine Aura über der Terrasse aus. Winzige Nadelstiche durchbrachen Alexanders Energiefeld. Noch bevor er reagieren konnte, überwältigte ihn der Gedanke, dass es zu spät war. Sein Körper fühlte sich mit einem Mal an, als sei er in ein Spinnennetz verstrickt. Zwang ihn, in Bewegungslosigkeit zu verharren, obwohl sich jede Faser seines Wesens danach sehnte, sich in Rauch aufzulösen.

Arroganz. Arroganz und Dummheit waren die größten Feinde eines Ifrit. Er war wie ein Tölpel in eine Falle gestolpert, deren Vorhandensein ihm entgangen war. Und das nur, weil eine Frau ihn abgelenkt hatte.

Zu der langen Liste der Fehler, die Alexander an diesem Tag begangen hatte, gesellte sich ein weiterer. Er hatte Torsten Halder unterschätzt. Ihre Blicke kreuzten sich, Halder deutete eine knappe Verbeugung an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Mit einem Schlag traf Alexander eine Erkenntnis. Sein Gegner wusste genau, warum er hier war. Und schlimmer noch, er hatte Vorkehrungen getroffen.

Alexander kippte nach vorne. Dunkelheit umfing ihn, senkte sich über seine Gedanken.

3

Kalt.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Alexander imstande war, dieses eine Wort im Kopf zu formen.

So kalt.

Alexander versuchte, Luft zu holen, schaffte es aber nur mit Mühe, etwas davon in seine Lungen zu pressen. Eine unsichtbare Kraft drückte seinen Oberkörper nach unten, schnürte seine Brust ein. Er konnte nicht mehr als ein paar zittrige Atemzüge tun.

Ich muss … Wärme … ich … brauche … Wärme …

Das Denken dieser wenigen Worte erschöpfte ihn. Zu der Kälte gesellte sich Dunkelheit. Nicht lange und er würde in ihr versinken, um nie wieder zurückzukehren. Nie wieder …

Die Worte hallten in seinem Kopf, brachten Fragmente seiner Willenskraft zurück. Er würde nicht aufgeben. Er war ein Ifrit. Ein Dämon des Feuers. Auch wenn seine Lebensflamme kaum noch brannte, so war sie nicht erloschen. Er würde es Torsten Halder nicht so leicht machen.

Die Entscheidung entzündete einen winzigen Funken in ihm. Ein Funke, der die tödliche Kälte kaum spürbar erwärmte.

Besser.

Die Erstarrung, die Alexander in festem Griff hielt, lockerte sich soweit, dass er seine Augen öffnen konnte. Ohne sich zu bewegen, ließ er seinen Blick schweifen, erfasste den dunklen, fensterlosen Raum, in den Halder ihn verbannt hatte. Viel gab es nicht zu sehen. Der Boden bestand aus grauem Beton, die Wände ebenfalls. Die Pritsche, auf der er lag, war aus Metall.

Eine Stahltür sorgte dafür, dass die Kälte diese vier Wände nicht verlassen konnte, ebenso wenig wie er selbst. Solange er diesen eisigen Temperaturen ausgesetzt war, konnte er sich nicht in Rauch verwandeln. Die Erkenntnis rief ein ironisches Lächeln hervor. Verwandeln! Er konnte froh sein, wenn er es schaffte, bei Bewusstsein und am Leben zu bleiben.


Mit einem letzten kritischen Blick in den Spiegel wandte Sariel sich um. Ihr Onkel hasste Unpünktlichkeit, und das Frühstück wurde jeden Morgen genau um halb sieben serviert. Als Sariels Eltern noch lebten …

Entschlossen verbannte sie diesen Gedanken aus ihrem Kopf. Ihre Eltern waren tot. Seitdem lebte sie bei Onkel Torsten, und auch wenn seine Angewohnheiten ihr oft seltsam vorkamen, musste sie ihm doch dankbar sein. Immerhin hatte er sie bei sich aufgenommen. obwohl er alleinstehend und kinderlos war. Plötzlich eine fast erwachsene Nichte unter seinem Dach zu haben, musste ihn in seinem gewohnten Lebensstil einschränken. Aber nicht mehr lange. Heute wollte Sariel ihm die frohe Botschaft überbringen, dass sie in drei Tagen nach Paris reisen würde. Ihr Kunststudium an der Sorbonne begann in zwei Wochen. Bis dahin musste sie eine Bleibe gefunden und den Transfer ihrer wenigen Besitztümer organisiert haben.

Das Problem war: Ihr Onkel würde sich nicht freuen. Nicht umsonst hatte er ihr immer wieder nahe gelegt, ihre Studien auf den Bereich der Betriebswirtschaftslehre zu konzentrieren. Mit der Perspektive, eines Tages die Führung seiner Bank zu übernehmen. Torsten Halder hasste es, wenn man seine Pläne durchkreuzte.

Sariel seufzte. Wahrscheinlich würde er für lange Zeit nicht mehr mit ihr reden. Das tat er immer, wenn sie sich ihm widersetzte. In der Vergangenheit hatte er damit erreicht, was er wollte. Dieses Mal aber würde sie ihren Willen durchsetzen. Auch wenn es bedeutete den Kontakt zu ihrem einzigen Verwandten zu verlieren.

„Guten Morgen, Onkel“, murmelte Sariel, als sie das Esszimmer betrat. Wie immer war der Tisch tadellos gedeckt. Das Silberbesteck glänzte im Sonnenlicht, das durch die hohen Terrassentüren fiel und den Raum überflutete. Hier tanzten keine Staubpartikel in dem grellen Licht. Wahrscheinlich erstarrten auch sie in Angst und Ehrfurcht vor Torsten Halder.

Das edle Porzellan wurde von feinen Stoffservietten eingerahmt. Die silberne Teekanne, die auf dem Tisch stand, versprach den edelsten Darjeeling. Kaffee wäre ihr lieber gewesen, aber davon hielt ihr Onkel nichts. Ganz der vollendete Kavalier stand er sofort auf, als sie den Raum betrat. Dann erst erwiderte er ihren Morgengruß: „Guten Morgen, Sariel. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“

„Ja, danke“, log sie mechanisch, während sie die Serviette auf ihrem Schoß ausbreitete. Sie hatte gehofft, ihn in eine seiner Zeitungen vertieft zu sehen, aber heute war Sonntag. Der optimale Zeitpunkt, um von ihren Plänen zu berichten. Sie hatte die ganze Nacht damit verbracht, dieses Gespräch vorzubereiten, die richtigen Formulierungen zu finden und ihre Argumente überzeugend darzulegen.

 

Dreißig Minuten später hatte Sariel ihren Entschluss noch immer nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen lauschte sie mit geheucheltem Interesse seinen Ausführungen über die internationale Finanzwirtschaft. Wie so oft schweiften ihre Gedanken ab.

Kalt … So kalt …

Die Worte schlichen sich in Sariels Kopf, unterbrachen ihre Sorgen, die sich allesamt darum drehten, wie sie ihrem Onkel die Neuigkeiten beibringen sollte. Ihr war nicht kalt. Im Gegenteil ihre Handflächen schwitzten, und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr Deo nicht das hielt, was die Werbung versprach. Kälte war so ziemlich das Einzige, was Sariel im Moment nicht spürte. Seltsam.

Konzentriert horchte sie in sich hinein, versuchte herauszufinden, was der Auslöser dieses Gedankens war.

Nichts. Wahrscheinlich verwirrten die Probleme, die sie heraufbeschwor, ihre Sinne. Es wurde Zeit zu handeln. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, innere Stärke zu gewinnen.

„Aus diesem Grund ist es so wichtig, Sariel …“

„Onkel, ich muss dir etwas mitteilen“, unterbrach sie seine Ausführungen. Mit einem Stirnrunzeln brach er ab. Torsten Halder war es nicht gewöhnt, dass man ihm ins Wort fiel.

„Ich fange in zwei Wochen mit meinem Kunststudium an der Sorbonne an. Ich wollte es dir schon längst sagen, aber …“

„Kunst? Du willst Kunst studieren nach allem, was ich für dich getan habe?“ Torsten Halders Gesicht färbte sich rot. Mit einem Mal war es, als würde Wut wie eine kalte Welle von ihm ausgehen. Wut, die sich auf Sariel richtete. Angst kroch in ihr hoch. Mit einem solchen Ausbruch hatte sie nicht gerechnet.

„Ich will nichts mehr davon hören.“ Torsten Halder schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Du wirst deine Anmeldung zurückziehen. In vier Wochen beginnt das Herbstsemester in Hamburg. Ich habe dich bereits für das Betriebswirtschaftsstudium angemeldet. Und das, junge Dame, ist genau das, was du studieren wirst!“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, verließ er den Raum.


Gegen seinen Willen schlossen sich Alexanders Augen. Wie Bleigewichte fielen die Lider nach unten, sie zu öffnen, würde mehr Kraft erfordern, als er besaß. Es waren nur wenige Sekunden, in denen er seine Umgebung erkundet hatte. Trotzdem überkam ihn ein bleiernes Gefühl der Müdigkeit, und er merkte, wie die winzige Flamme, die ihn am Leben hielt, kämpfte, um nicht zu erlöschen.

Kalt.

So kalt.

Die Worte verhallten in seinem Kopf, wurden zurückgeworfen. Wärme floss durch seinen Körper. Zurückgeworfen? Wärme? Irgendetwas oder irgendjemand hatte seine Gedanken gehört. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, als er diese Erkenntnis aufnahm. Die Flamme, die eben noch kurz davor war zu ersterben, tanzte mit einem Mal. Energie! Nicht viel, aber genug, um ihn am Leben zu erhalten. Genug, um mehr zu ermöglichen.

Vorsichtig streckte er seine Sinne aus, zwang sie, diesen Raum zu verlassen. Dabei war er sich mit jeder Faser seines Wesens der Gefahr bewusst, in die er sich begab. Wenn Torsten Halder auch nur das kleinste Lebenszeichen von ihm auffing, war er verloren. Er musste weiterhin glauben, dass Alexander dem Tod entgegenging. Oder besser noch, bereits tot war.

Sariel.

Er hätte es wissen müssen. Torsten Halders Nichte hatte seine Gedanken aufgefangen, sie reflektiert und ihnen dadurch etwas von ihrer Kraft gegeben. Zögerlich tastete Alexander ihre Aura ab. Er wollte ihr nicht noch mehr Energie entziehen. Sie hatte bereits mehr als genug getan. Auch wenn sie davon nichts ahnte.

Angst.

Irgendjemand oder irgendetwas jagte Sariel Angst ein.