Das Geheimnis der Dämonen

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Aus der Reihe: Das Geheimnis der Dämonen #1
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4

Nur wenige Minuten, nachdem Torsten Halder das Esszimmer verlassen hatte, stand Sariel ebenfalls auf. Ihr war der Appetit vergangen, daran konnte auch der frische, geräucherte Lachs auf ihrem Teller nichts ändern. Alles schmeckte schal, so als sei das Leben schon lange daraus entwichen. Selbst die Marmelade hatte einen alten, abgestandenen Geschmack. Das musste an ihrer Stimmung liegen, denn Martha, die Haushälterin ihres Onkels, achtete stets darauf, dass nur das Beste auf dem Esstisch zu finden war. Andernfalls hätte er sie längst gefeuert.

Mit einem Ruck versuchte sie, die düsteren Gedanken abzuschütteln. Ich bin ihm dankbar, wiederholte sie wie ein Mantra in ihrem Kopf. Sie hatte es in den letzten zwei Jahren zu einem unablässigen Refrain gemacht. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte sie sich allein zurechtfinden müssen. Was vielleicht besser gewesen wäre, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.

Der kostbare weiße Perser auf dem Fußboden verschluckte das Geräusch ihrer Schritte, als sie auf die Tür zuging. Sie musste diesen Raum verlassen. Oder noch besser, dieses Haus, das von der Wut erfüllt war, die ihren Onkel gepackt hatte.

Sie ging durch die langen, weißen Gänge zu ihrem Appartement zurück. Das Innere der Villa war vollkommen in strahlendem Weiß gehalten. Einzige Ausnahme davon der Ballsaal, aber Sariel war sicher, dass dieser ihrem Onkel ein Dorn im Auge war. Von diesem Raum abgesehen, gab es nichts, was die sterile Einöde durchbrach. Holzböden, Teppiche, Möbel, Wände, sogar die Bilder, die nicht im Ballsaal hingen, erstrahlten in einem blendenden Weißton.

Die Flure waren mit dicken Teppichen ausgelegt, was der Grund dafür war, dass sie es zuerst nicht wahrnahm. Dann aber hörte sie es, ein leises Tapsen, die Schritte eines Tieres. Einer der Wachhunde folgt mir! Ein kalter Schauer rann ihren Rücken hinab. Das konnte nur einer der Rottweiler sein, die ihr Onkel hielt. Normalerweise waren diese Kreaturen in den Zwingern verbannt; nur nachts ließ er sie hinaus. Dann machten sie den Garten unsicher. Obwohl Torsten Halder immer wieder versichert hatte, sie würden Sariels Geruch kennen und ihr niemals etwas zuleide tun, ging sie ihnen aus dem Weg. Ihre Anwesenheit war mit ein Grund, weshalb sie abends niemals das Haus verließ.

Vielleicht beabsichtigt er genau das damit. Ärgerlich vertrieb sie diesen Gedanken. Was war nur heute mit ihr los? Torsten Halder war mit Sicherheit kein herzlicher Mensch. Es lag nicht in seiner Natur, Gefühle auszudrücken oder liebevoll zu sein. Allein die Idee, er könne sie in eine Umarmung schließen, führte dazu, dass sich ein zynisches Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Nein, seine Stärke lag nicht darin, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Vielmehr im Gegenteil: Wo immer er sich aufhielt, verbreitete er eine Aura der Macht und der Aggression. Aber egal, wie gefühlskalt er auf andere Menschen wirken mochte, so wusste sie doch eines: Er war der einzige Verwandte, den sie hatte.

Noch immer dieses Tapsen. Ein Hecheln gesellte sich hinzu. Wie von selbst verlangsamten sich Sariels Schritte, bis sie stehen blieb und sich umdrehte. Da, nur wenige Meter von ihr entfernt, stand Rosco, der größte und - ihrer Meinung nach - am gemeinsten aussehende Rottweiler, den ihr Onkel besaß. Auch er blieb stehen, maß sie mit seinen Blicken und wartete gelassen auf ihre nächste Bewegung. Das zumindest war Sariels Eindruck, als sie ihn musterte. Vielleicht überlegte er sich auch nur, ob sie ein nettes Frühstück abgeben würde.

Wieder bahnte sich Furcht einen Weg durch ihren Körper. Aber das durfte nicht sein. Wenn diese Bestie ihre Angst spürte, war alles möglich. Auch das Undenkbare. Mit einem gezwungenen Lächeln drehte sie sich um, ging weiter in Richtung ihrer Räume. Immer darauf achtend, dass ihre Schritte gemessen waren. Obwohl sie nichts lieber getan hätte, als zu rennen.


Er musste herausfinden, warum Sariel Angst hatte. Er konnte sich nicht erklären, was ihn dazu drängte, aber ihr Wohlbefinden war wichtig. Wichtiger als alles andere. Die energetische Verbindung zu ihr herzustellen, erschöpfte ihn. Aber auch das war ohne Belang. Er musste wissen, wie es ihr ging.

Angst! Noch immer. Jetzt aber war ein neues Element hinzugekommen. Verwirrung.

Alexander versuchte den Grund dafür herauszufinden, aber er sah nur verschwommene Bilder. Irgendetwas verfolgte sie, aber es war nicht Halder. Vielleicht einer seiner Bodyguards? Angestrengt suchte er ihr Umfeld nach einem weiteren Menschen ab. Aber da war nichts … bis auf … ein Hund!

Es bestand keine unmittelbare Gefahr für sie. Vielleicht hatte sie schon immer Angst vor Hunden gehabt. Das Tier selbst hatte keine bösen Absichten, soviel konnte er immerhin mit den letzten Resten seiner Energie spüren. Es machte vielmehr einen wachsamen Eindruck, so als würde es aufpassen, auf ihr Wohlergehen achten.

Kein Grund zur Besorgnis also.

Besorgnis?

Warum machte er sich um einen Menschen Sorgen? Um eine Frau, die er noch nicht einmal kannte?

Mitgefühl. Das war alles. Sariel Halder hatte ihre Eltern verloren. Alexander hatte nie den Schmerz gespürt, den Sariel gefühlt haben musste. Was er aber kannte, war die Isolation, die ein Wesen ohne Familie zwangsläufig erleidet. Und was Freunde betraf, es gab nur einen Menschen, zu dem Alexander ein solches Verhältnis pflegte und auch ihn sah er nur selten.

Alleinsein war zu seiner Natur geworden. Er kannte kaum etwas anderes, und doch sehnte er sich nach etwas, was er nicht benennen konnte, was er nie erlebt hatte. Ein Ifrit war machtvoll. Das Gefühl von Einsamkeit einzugestehen, war ein Zeichen der Schwäche.

Und das konnte tödlich sein.


Acht Schritte zur Tür. Umdrehen. Acht Schritte zurück, zum Fenster. Umdrehen. Acht … Dieser Hund machte sie verrückt. Seit zwei Stunden lag Rosco vor ihrer Tür. Warum verschwand er nicht dorthin, woher er gekommen war?

Natürlich war diese Frage müßig. Sariel wusste genau, warum er vor ihrem Zimmer Wache hielt. Ihr Onkel hatte das veranlasst. Er wollte nicht, dass sie an die Sorbonne ging.

„Er hat kein Recht, mich hier festzuhalten.“ Die Worte verhallten in dem Raum.

Ihr Onkel hatte seine Aktion besser vorbereitet, als sie zunächst vermutet hatte. Weder Handy noch Laptop waren auffindbar. In der kurzen Zeit, die seit ihrer Ankündigung und der Rückkehr zu ihrem kleinen Apartment vergangen war, hatte er ihre Verbindungen zur Außenwelt abgeschnitten. Rosco tat ein Übriges.

Rosco! Der Hund war darauf abgerichtet, Fremde anzugreifen. Wenn Sariel den Versicherungen ihres Onkels Glauben schenken sollte, war er ebenfalls darauf trainiert, ihr nichts zu tun. Was also hinderte sie daran, ihre Gefangenschaft zu beenden und das Haus zu verlassen?

Eine Idee formte sich in ihrem Kopf. Sie würde so tun, als wolle sie in die Küche gehen. Nach dem mageren Frühstück heute Morgen hatte sie ohnehin Hunger. Selbst wenn Rosco ihr folgen würde, schaffte sie es möglicherweise, durch die Tür zu verschwinden, die von der Küche in den Garten führte. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als sie dem Hund vor der Nase zuzuschlagen. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Das war die Lösung!

Mit einem leisen Knarren schwang die Zimmertür auf, deren Holzrahmen ebenso altertümlich war wie das gesamte Haus.

Roscos Kopf, der bisher auf seinen Vorderpfoten geruht hatte, schnellte nach oben. Das Tier, das eben noch friedlich und entspannt ausgesehen hatte, wirkte plötzlich hellwach.

„Braver Bursche“, sang Sariel leise in einem, wie sie hoffte, beruhigenden Tonfall. Roscos Ohren stellten sich auf Empfang. Er rührte sich nicht, aber es war offensichtlich, dass er sofort aufspringen würde, sobald sie einen Fuß vor die Tür setzte.

Angst stieg in ihr auf. Aber sie schluckte sie hinunter. Es war ihr Leben. Ihre Entscheidung, ob und wo sie studieren würde. Torsten Halder hatte kein Recht, ihr seinen Willen aufzuzwingen.

Sie setzte einen Fuß in den Flur.

Rosco zog die Lefzen nach hinten.

Der zweite Fuß folgte.

Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle.

„Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang, Rosco?“, flötete Sariel und kam sich dabei unendlich blöd vor.

Der Hund und Sariel musterten sich, als wären sie in einem unsichtbaren Wettbewerb gefangen. Wer würde den ersten Schritt tun? Wer würde als Erster seine wahren Absichten verraten?

Ohne ihren Blick von Rosco zu wenden, zog Sariel die Tür hinter sich zu, achtete aber darauf, sie nicht zu schließen.

Das Knurren wurde lauter.

Trotzdem wagte sie einen Schritt in den Flur hinaus, Richtung Küche. „Komm schon, Rosco. Nur ein kleiner Abstecher zu Martha. Du bekommst von ihr ein saftiges Steak. Ich verspreche es dir.“

Anscheinend war Rosco nicht hungrig oder besser trainiert, als Sariel erwartet hatte. Sein Grollen übertönte mittlerweile alle anderen Geräusche. Die Botschaft war eindeutig: Eine weitere Bewegung in die falsche Richtung und er würde sie anfallen.

Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Torsten Halder hatte gewonnen.


Wut.

Die Erkenntnis, dass die rot glühende Emotion Torsten Halders Energiefeld wie Lava umspülte, brachte ein Lächeln auf Alexanders Lippen. Das war gut. Sehr gut. Halder war mit etwas anderem beschäftigt. Ihm entging, wie Alexander seine Aura abtastete und versuchte, in seine Gedanken zu dringen.

 

Die winzige Flamme, die Alexander am Leben hielt, nährte sich an Halders Wut. Sie wurde stärker. Erlaubte ihm, seine Fühler auszustrecken und zu versuchen, hinter Halders Pläne zu kommen.

Der Banker war abgelenkt. Die starke Emotion, die er im gesamten Haus verbreitete, sorgte dafür, dass er Alexanders Zugriff nicht spürte. Aber Halder war nicht dumm, seine Gedanken waren von Barrieren umgeben, die Alexander nicht durchdringen konnte. So sehr er auch nach einer Lücke suchte, er konnte keine entdecken. Ein Gutes aber hatten seine Bemühungen: Das rot glühende Gefühl umgab Halder in einer pulsierenden Wolke. Für Alexander war es ein Lebenselixier. Noch ein wenig mehr davon und er wäre stark genug, um diesem Gefängnis zu entfliehen.

Warum war der Banker wütend?

Irgendjemand oder irgendetwas hatte ihn in einen Zustand versetzt, in dem er töten wollte.

Noch hatte Halder sich unter Kontrolle. Nicht mehr lange und der Damm würde brechen. Dann würde er die Ursache für seine Rage vernichten.

Sariel.

Die Erkenntnis fuhr wie ein Stromschlag durch Alexanders Bewusstsein. Sie war es, die Halder in diesen Zustand versetzt hatte. Das Wissen bewirkte, was Alexanders vorsichtiges Tasten zuvor nicht erreicht hatte: Torsten Halders Gedanken öffneten sich ihm. So verschlossen er vor wenigen Sekunden noch gewesen war, so offen lag er jetzt vor ihm. Ahnungslos in seiner Arroganz.

Wie eine Welle stieg das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, in Alexander auf. Er hatte sich den Zutritt zum Allerheiligsten verschafft. Halders Denken lag wie eine Landkarte ausgebreitet vor ihm. Die einzelnen Gedanken wie silberne Stränge. Sie liefen alle auf ein einziges Ziel zu. Schwarz pulsierte es in der Mitte des funkelnden Netzes. Die von dieser dunklen Masse ausgehende Gefahr war so greifbar, dass Alexander kurz davor war umzukehren.

Schwarze Hostie

Das Wort, das Alexander in Halders Gedanken las, katapultierte ihn in seinen eigenen Körper zurück und unterbrach die energetische Verbindung, die er mit dem Banker aufgebaut hatte. Erstarrung senkte sich über ihn, als er darüber nachdachte, was diese Entdeckung bedeutete.

Die schwarze Hostie war eine der schlimmsten schwarz-magischen Kreationen. Ein magisches Gebäck mit dem Sinn, demjenigen, der es aß, zu Unsterblichkeit und Macht zu verhelfen.

Ein Schauer erfasste Alexander mit einer Heftigkeit, die ihn mehrere Minuten lang in schmerzhaften Krämpfen gefangen hielt. Dann ließ die Kälte nach, die das Wort in ihm hervorgerufen hatte. An ihre Stelle trat eine weitere Erkenntnis. Torsten Halder hatte ihn gefangen genommen, weil er ihn brauchte. Eine der beiden wichtigsten Zutaten, die er für die Herstellung der Hostie benötigte, war Blut. Das Blut eines Dämons und eines Halbdämons. Halbdämonen, die Kinder eines Dämons und einer Sterblichen, waren selten; noch seltener als Ifrit. Wie also wollte Halder an diese Ingredienz kommen? Es war Jahrzehnte her, seit Alexander das letzte Mal einem Halbdämonen begegnet war.

Wie also …? Sariel. Der Name war nur ein Wispern in seinen Gedanken.

Die Nichte des Bankers war der einzige Mensch, der bisher in der Lage gewesen war, Alexander zu sehen. Der Grund dafür war einfach.

5

Schmerz.

Eisige Flammen, die statt Blut durch ihre Adern flossen. Mit einem Stöhnen wand sie sich im Bett. Ihr Herz hämmerte, während die Schmerzen sie immer fester umklammerten. Dann endlich wachte sie auf. Schweißgebadet.

Trotz der erlösenden Erkenntnis, dass es ein Albtraum gewesen war, brauchte Sariel lange, um sich zu beruhigen. Die Bilder in ihrem Traum waren zu lebendig gewesen. Verfolgten sie noch immer, obwohl sie das Licht anknipste und versuchte, sich mit tiefen, regelmäßigen Atemzügen zu entspannen.

Ein Körper. Unendliche Qualen. Angst, die wie Blut durch die Adern strömte, und der hilflose Versuch, sich zu wehren.

Allein die Erinnerung daran bewirkte, dass sich ihr Herzschlag erneut beschleunigte. Sie bekam kaum noch Luft.

„Aufhören! Sofort aufhören!“ Obwohl sie die Worte flüsterte, bewirkten sie eine Veränderung. Die Atmosphäre in ihrem Schlafzimmer wurde wärmer. Fast so, als würde sich die eisige Kälte, die sie noch vor kurzem gespürt hatte, zurückziehen.

Das helle Mondlicht zog eine silberne Spur durch den Raum. Mit den Augen folgte Sariel der klar erkennbaren Linie bis zu der großen, weißen Scheibe am Nachthimmel. Es war Vollmond. Wahrscheinlich hatte sie deshalb so schlecht geträumt. Ohne Vorwarnung durchzuckte sie ein weiteres Bild. Die Gestalt, deren Schmerzen sie beobachtet hatte, drehte den Kopf und sah sie an.

Alexander.

Die Erkenntnis war ein Schock. Dann aber rasten Fragen durch ihren Kopf: Warum sah sie das Gesicht eines Mannes, den sie kaum kannte, in ihren Gedanken? Warum hatte sie diese Vision im Wachzustand? Zuvor glaubte sie noch, es sei ein übler Traum. Aber jetzt?

Mit einem Satz sprang Sariel aus dem Bett. An Schlaf war nicht zu denken, denn das Chaos in ihrem Kopf würde sich nicht so schnell legen. Dazu waren zu viele Fragen aufgewirbelt worden. Bei all den Dingen, die ihr unklar waren, hatte sie doch eine Gewissheit. Er war in Gefahr. Die Qualen, die Sariel in ihrem Traum durchlebt hatte, waren real.

Kein Mensch sollte so leiden müssen.


Wie ein Sturm wirbelte die Erkenntnis durch seinen Kopf. Sariel Halder war eine Halbdämonin. Da ihr Vater Torsten Halders Bruder war, musste ihre Mutter eine Dämonin gewesen sein. Sariels Gesicht tauchte in seinen Gedanken auf. Umrahmt von Haaren, die wie Lava glühten.

Sie war halb Ifrit.

Er hätte es wissen müssen, aber Halbdämonen waren selten. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, sie als solche zu identifizieren. Mit einem Seufzen überließ er sich der Gedankenflut. Er musste zur Ruhe kommen, um seinen nächsten Schritt zu planen. Die Energie, die er durch Torsten Halders emotionalen Ausbruch gewonnen hatte, sorgte dafür, dass er sich von Minute zu Minute stärker fühlte.

Höchste Zeit, um diese ungastliche Zelle zu verlassen.

Alexander war zittrig auf den Beinen, als er aufstand und sich in die Mitte des Raumes stellte. Aber er wusste, er hatte genügend Lebenskraft gesammelt. Seine Verwandlung in Rauch würde gelingen. Gerade so.

Als Ziel wählte er die Sahara. Dort, inmitten der Wüste, befand sich eines seiner Häuser. Gebaut aus Steinblöcken, die er dem alten römischen Fort Tisavar entwendet hatte. Damals war die römische Befestigung bereits eine Ruine, die verlassen den Rand der Sahara säumte. Er hatte Jahre gebraucht, um aus den Steinen eine Behausung zu formen. Die viereckige Struktur schlang sich um einen Innenhof, dessen Mitte ein Brunnen schmückte. Während draußen die Sonne ein helles, in den Augen brennendes Licht verbreitete, herrschte innen ein schattiges Halbdunkel.

Die Räume mit ihren weiß gekalkten Wänden boten Zuflucht vor der gleißenden Hitze. Bunte Kissen und Diwane sorgten für Bequemlichkeit.

Er liebte diesen Ort. Hier fühlte er sich in seinem Element, geschützt durch die unendliche Weite der Sahara, ihrer tödlichen Kargheit und Menschenfeindlichkeit.

Er würde ein paar Stunden dort bleiben, so lange, bis er seine Kräfte regeneriert hatte, und dann zurückkehren, um Sariel in Sicherheit zu bringen. Der Gedanke, sie zurückzulassen, gefiel ihm nicht, aber er war noch nicht stark genug, um ihr jetzt schon helfen zu können.

Das Bild der flimmernden Glut vor Augen, die die Wüste zu dieser Tageszeit erfüllen würde, löste er sein stoffliches Sein auf.

Der Aufprall war heftig und raubte ihm für einen Augenblick den Atem. Die unsanfte Landung bewirkte eine abrupte Transformation in seinen menschlichen Körper.

Er lag auf dem Boden … auf … einem Teppich?

„Beeindruckend.“ Ohne aufzusehen, schrieb Torsten Halder in ein Journal. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell in der Lage sein würden, die Kälte zu überwinden.“ Der Banker hob den Kopf und streifte Alexander mit einem Blick, der vollkommen emotionslos war.

„Setzen Sie sich.“ Mit einer knappen Geste zeigte Halder auf einen Sessel, der vor seinem Schreibtisch stand. Alexander hatte sich in Halders Bibliothek materialisiert. Ein Fehler, der nicht hätte passieren dürfen. Wenn es denn ein Fehler war …

Der Raum war vollkommen in Weiß gehalten. Die Farbe strahlte hell genug, um in den Augen zu schmerzen. Wären nicht die Bücher und DVDs gewesen, die die Wandregale füllten, hätte er sich wie in einem Vakuum gefühlt.

Noch immer erschöpft von der Kraftanstrengung, stand Alexander auf, versuchte das Zittern seiner Beine zu unterdrücken und bewegte sich auf den Sessel zu. Dann setzte er sich und unterzog den Banker einer eingehenden Musterung.

Halder war etwa sechzig Jahre alt. Seine stahlgrauen Haare passten zu den Augen, deren innere Kälte keine Gefühle preisgab. Seine Haltung ließ auf einen militärischen Hintergrund schließen. Sein Körper war trotz seines fortgeschrittenen Alters schlank und durchtrainiert. Alles an ihm verriet ein Übermaß an Disziplin.

„Man begegnet nur selten einem Ifrit, der … wie soll ich es ausdrücken? …, dumm ist?“

„Dumm?“ Noch während Alexander dieses Wort wiederholte, breitete sich die Erkenntnis in ihm aus. Der Banker hatte recht. Der Fluchtversuch, und dann die Falle, in die er unvorbereitet getappt war - er hatte sich wie ein Tölpel benommen.

„Wie schön. Selbsterkenntnis stärkt den Charakter.“ Der Spott war nicht zu überhören. Halder spielte mit ihm. Das Bild einer Katze schob sich in Alexanders Gedanken. Einer Katze, die mit einer Maus spielte. Wie hatte ihm ein solcher Fehler unterlaufen können?

Wieder unterbrach der Banker seine Gedanken. „Sie wundern sich, warum Sie hier sind. Nicht wahr?“

Statt einer Antwort nickte Alexander. Er würde Halder nicht verraten, was er wusste.

„Vielleicht mag ich es nicht, wenn man mich töten will“, sinnierte der Banker, lehnte sich in seinem Sessel zurück und maß Alexander mit seinem Blick.

„Das ist nicht der wahre Grund“, murmelte Alexander. Sein Kopf wurde schwer, sein Körper wurde wie von Bleigewichten nach unten gezogen. Es war anstrengend, einen klaren Gedanken zu fassen. Trotzdem schaffte er es, an einer Gewissheit festzuhalten. Sein Eindringen in Torsten Halders Gedankenwelt musste sein Geheimnis bleiben.

„Oh nein. Nicht so schnell.“ Ein schwacher Stromschlag fuhr durch seinen Körper. Energie. Nicht genug, um ihn zu kräftigen, doch so viel, um zu verhindern, dass die Dunkelheit gewann.

„Ich habe Ihre Kräfte überschätzt. Wie dumm von mir.“ Der Banker lachte, aber Alexander konnte dem nichts entgegensetzen. Außer einer Frage:

„Was wollen Sie von mir?“

Statt Worte ließ Halder Bilder in seinem Kopf entstehen. Visionen, die einen Teil seiner Pläne so deutlich zeigten, als würde Alexander sie auf dem Fernseher verfolgen. Natürlich würde er ihn umbringen. Zuvor aber würde er sich jede seiner Fähigkeiten aneignen. Das Wichtigste aber zeigte Halder ihm nicht: Sein Plan, eine schwarze Hostie zu kreieren, sollte wohl das Geheimnis des Bankers bleiben.