Das Geheimnis der Dämonen

Text
Aus der Reihe: Das Geheimnis der Dämonen #1
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Klingt gut.“

Mit einer einladenden Handbewegung wies er zum Tisch. „Setze dich. Das Essen ist fast fertig.“

„Danke! Ich hatte nicht erwartet, bekocht zu werden.“

„Dachtest du, ich würde dich verhungern lassen?“

„Nein. Ich war mir nur nicht sicher, ob Dämonen überhaupt essen.“ Sie sah ihn herausfordernd an.

„Wir essen, aber anders als Menschen können wir sehr lange ohne Nahrung auskommen. Wir sind nahezu unsterblich.“

„Unsterblich. Dafür siehst du ziemlich jung aus.“ Sariel musterte ihn. „Ich würde dich auf Mitte zwanzig schätzen.“

„Ich bin hundert Jahre alt. Es gibt Ifrit, die über tausend Jahre zählen, trotzdem sehen sie nach euren Maßstäben nicht alt aus. Für einen Ifrit bin ich jung.“ Was auch der Grund dafür war, dass Halder mich überlisten konnte.

„Und Halbdämonen? Was ist mit mir, bin ich auch unsterblich?“

„Möglicherweise. Es gibt Halbdämonen, die sehr alt werden und erst mit zweihundert oder dreihundert Jahren sterben. Manche sind ebenso wie wir unsterblich. Das hängt davon ab, welcher Erbteil in dir überwiegt. Die meisten Halbdämonen sind älter, als du es bist, bevor der Dämonenanteil in ihnen zutage tritt. Bei dir sind die Fähigkeiten früh ausgebrochen.“ Er runzelte die Stirn. „Zu früh.“

„Meine Mutter ist tot. Wie kann das sein, wenn sie doch unsterblich war?“

„Man kann einen Dämon töten. Es ist nicht einfach, aber es geht.“

„Meine Mutter starb bei einem Autounfall.“

„Das … kann sein.“

Er war ein miserabler Lügner. Innerlich verwünschte er sich dafür, aber er würde ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie durfte nicht erfahren, dass Halder ihre Eltern ermordet hatte. Ebenso wenig wie die Tatsache, wer dazu bestimmt war, ihren letzten lebenden Verwandten zu töten. Zum Glück bemerkte sie seinen inneren Zwiespalt nicht, denn sie hing ihren eigenen Gedanken nach.

Das war gut. Sehr gut sogar, denn sie war noch nicht bereit, mit einer weiteren Wahrheit konfrontiert zu werden. Nicht, nachdem ihr Leben gerade auf den Kopf gestellt worden war.

„Was ist es, was mein Onkel von mir haben will?“, fragte sie und holte ihn in die Realität zurück. Das Gefühl der Erleichterung löste sich in Rauch auf.

„Das habe ich noch nicht herausgefunden“, versuchte er, der Frage auszuweichen. Sariel musterte ihn.

„Du bist ein schlechter Lügner“, stellte sie fest. „Mein Onkel will etwas von mir. Was angeblich der Grund ist, weshalb du mich nicht zu ihm zurückbringst. Wenn du in diesem Punkt die Wahrheit sagst …“ Sie brach ab und überlegte. „Wenn es also wahr ist, dann bin ich offensichtlich nicht bereit, ihm das zu geben, was er haben möchte. Was seltsam ist, denn ich besitze nichts, was für ihn von Wert ist. Außer den Aktien. Aber die verwaltet ohnehin er für mich.“ Sie starrte auf den Fußboden und runzelte die Stirn. „Vielleicht sollte ich das ändern“, murmelte sie.

Alexander schwieg. Es war besser, wenn Sariel glaubte ihr Onkel sei an ihren Aktien interessiert.

9

Es war frustrierend. Und vor allem machte es sie wütend. Sie hatte alles versucht, um Alexander dazu zu bewegen sie nach dem Essen nach Hause zu lassen. Aber er blieb unerbittlich. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt.

Verdammt!

Sie durchmaß den Raum mit ihren Schritten. Anscheinend tat sie in letzter Zeit kaum etwas anderes, als in einem Zimmer auf und ab zu gehen. Aber die Selbstherrlichkeit der Männer in ihrem Leben, die nur darauf abzielte, ihr den eigenen Willen aufzudrängen, machte sie rasend.

Sie wollte weg von diesem Ort. Dummerweise war es zu spät dafür. Die Nacht hatte sich vor Stunden auf „Adlerschwinge“, wie Alexander sein Domizil in den Bergen getauft hatte, herabgesenkt. Wesen, die sich nicht wie ein Ifrit in Rauch auflösen konnten, waren gezwungen, mit einem Helikopter an- oder abzureisen. Nachts aber war diese Möglichkeit nicht gegeben, dafür sorgten die Berge.

Ein Ifrit zu sein, hatte eindeutige Vorteile.

Der Gedanke daran brachte sie zum Stehen. Wie konnte sie nur so dumm sein?

Sie würde sich in Rauch auflösen. Immerhin war sie halb Ifrit. Sie musste das doch auch können. Immerhin war ihre Mutter eine Dämonin.

Wenn ich nur wüsste, wie es geht!

Einige Stunden später musste sie frustriert feststellen, dass sie offensichtlich nicht in der Lage war, sich zu verwandeln. Dabei hatte sie nichts unversucht gelassen. Sie meditierte, stellte sich Rauch vor, machte sich in Gedanken schwerelos, löste sich auf. Und versagte immer wieder. So ziemlich die einzige Methode, die sie bisher nicht versucht hatte, war ein Streichholz zu nehmen und sich anzuzünden.

Dabei hatte es so einfach ausgesehen.

Wieder begann sie, in dem Zimmer auf und ab zu gehen. Was machte einen Ifrit aus? Welcher Teil seines Wesens sorgte für diese Verwandlung? Sie wünschte, Alexander hätte mehr erzählt. Ifrit waren Dämonen des Feuers. Sie waren temperamentvoll, schnell, unsterblich und liebten die Wärme.

Feuer. Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild einer Kerzenflamme. Sie flackerte in einem Luftzug. Um den Docht herum war die Flamme blau, dann wurde sie weißlich. Ein kaum wahrnehmbarer Rauchfaden stieg von ihr nach oben. Er entstand durch den Sauerstoff, den das Feuer verbrannte, zusammen mit der „Nahrung“, die der Kerzendocht lieferte.

Feuer, Sauerstoff und Nahrung ergaben Rauch.

Sariel atmete tief ein. Und aus. Und wieder ein. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, auf den Rhythmus, mit dem die Luft in ihren Körper strömte und ihn dann wieder verließ. Ein und aus. Ein und aus.

Nach etwa fünf Minuten brach sie ab. Das konzentrierte Atmen brachte sie zum Hyperventilieren. Möglicherweise hatte ihre Mutter ihr diese Eigenschaft nicht vererbt.

Ich bin zu sehr Mensch.

Vor wenigen Stunden noch hätte sie dieser Gedanke erfreut. Aber jetzt nicht mehr. Es war ihr erstaunlich leicht gefallen, ihr Anderssein zu akzeptieren. Zum großen Teil lag es an dem Gefühl der Erleichterung, das sie seit dieser Erkenntnis spürte. Es war, als ob sie durch ihr Wissen einen Teil ihres Wesens wiedergefunden hatte. Mit einem Mal fühlte sie sich ganz, was seltsam war, denn bisher war ihr nie aufgefallen, dass etwas in ihr gefehlt hatte. Aber das war nicht alles: Sie hatte zusätzlich den Eindruck, durch ihr Wissen eine Verbindung zu ihrer Mutter zu knüpfen. Seit dem Tod ihrer Eltern fühlte sie sich abgeschnitten. So, als sei eine unsichtbare Nabelschnur, die bis dahin die Familie verbunden hatte, durchtrennt worden. Jetzt war eine zarte, neue Brücke entstanden.

„Lara“, sie flüsterte den Vornamen ihrer Mutter. Es tat gut, den vertrauten Klang zu hören, die Schwingungen zu spüren. Und dann - plötzlich - tauchte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Eine Szene, die sie längst vergessen hatte. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen, das mit großen Augen auf die Stelle starrte, an der ihre Mutter eben noch gestanden hatte. Jetzt hing weißlicher Rauch in der Luft. Es ertönte ein Lachen, und ihre Mutter schloss sie von hinten in die Arme.

„Wie machst du das?“ Sariel lachte und versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien. Dann klatschte sie in die Hände. „Noch einmal. Ich will das noch einmal sehen. Bitte Mama.“

Erneut der Rauch. Das Lachen, Sariels Frage und die Antwort ihrer Mutter: „Ich stelle mir einfach den Ort vor, an dem ich sein will.“ Die Worte klangen in ihren Ohren.

„Ich stelle mir einfach den Ort vor, an dem ich sein will.“

Kein Atmen. Kein Gefühl von Auflösung. Nur ihre Vorstellungskraft. Ein Lachen befreite sich aus ihrer Kehle und flog davon. Ich werde es schaffen!

Erneut durchmaß sie den Raum mit ihren Schritten. Sie musste sich einen geeigneten Ort vorstellen, denn es war nicht auszuschließen, dass sie einen Fehler beging. Was, wenn sie etwas falsch machte und in der Alster landete? Oder in einem fremden Haus?

Außerdem galt es, einen weiteren Punkt zu berücksichtigen. Sie musste mit ihrem Onkel reden. Ihm verständlich machen, dass ihre Entscheidung, nach Paris zu gehen feststand. Sie ließe sich nicht ein zweites Mal zur Gefangenen seiner Wünsche machen. Das musste ihm klar sein. Und dann würde sie ihn mit dem konfrontieren, was Alexander gesagt hatte. Sie musste herausfinden, ob der Ifrit recht hatte. Ob es tatsächlich etwas gab, was Torsten Halder von ihr wollte.

Ihrer Berechnung nach musste es mittlerweile etwa zwölf Uhr nachts sein. Zu dieser Zeit war ihr Onkel in seiner Bibliothek zu finden. Mit nur wenig Konzentration konnte sie sich den großen Raum mit seinen hohen Regalen und dem imposanten Schreibtisch vorstellen. Ihr Onkel würde dort, in seine Dokumente und Unterlagen versunken, sitzen. Eine Lesebrille auf der Nase. Im Winter flackerte ein Feuer im Kamin. Jetzt, im Sommer, wäre es angenehm kühl. Eine Karaffe mit eiskaltem Wasser stünde auf einem kleinen silbernen Tablett, gleich neben dem großen Sessel, der für Besucher und Gäste gedacht war.

Zunächst bemerkte sie es nicht, dieses Gefühl der Leichtigkeit, der Schwerelosigkeit. Dann aber sah sie den dichten Nebel, der sie umgab. Weißlich und durchsichtig. Wie Rauch …

10

Die Luft entwich mit einem lauten Zischen aus ihren Lungen. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl zu ersticken. Dann aber gelang ihr ein tiefer Atemzug. Das Bild, das eben noch verschwommen war, nahm klare Formen an. Sie lag ausgestreckt auf dem kostbaren Perserteppich, der die Bibliothek ihres Onkels in einen sanften rotgoldenen Ton hüllte.

 

Sie hatte es geschafft. Die Stimme, die sie begrüßte, räumte letzte Zweifel aus: „Interessant. Du hast die Verwandlung schneller begonnen als erwartet.“

Torsten Halder durchbohrte sie mit seinem Blick. Ein Frösteln kroch durch ihren Körper. Ihr Onkel sah wütend aus. Etwas zittrig kam sie auf die Beine.

„Was meinst du?“ Die Frage war überflüssig, aber sie wollte sicher sein, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Anscheinend wusste ihr Onkel genau, was sie war. Warum aber hatte er ihr nie auch nur den kleinsten Hinweis darauf gegeben?

„Deine Verwandlung in einen Halbdämonen natürlich. Du wärst nicht hier, wenn du nicht wüsstest, wovon ich rede.“ Der Tonfall war noch immer kalt. Torsten Halder musterte sie. Sein Interesse war distanziert, emotionslos. So, als würde er eine neue Spezies unter dem Mikroskop untersuchen, deren Vorhandensein er seit Langem geahnt hatte.

„Alexander hat mir erzählt, was ich bin. Was meine Mutter war. Du hieltest es ja nicht für nötig, mich aufzuklären.“ In ihren Worten schwang nicht nur die Anklage mit, sondern auch Wut. Dieses Gefühl wurde allmählich vertraut.

„Der Ifrit. Vielleicht sollte er sich nicht in Dinge einmischen, die ihn nichts angehen. Wo ist er?“

Die Frage klang harmlos. Aber Sariel kannte ihren Onkel gut genug, um ein Interesse zu ahnen, das er nicht zugeben wollte.

„Ich weiß es nicht. Er hat mich an einen abgelegenen Ort gebracht. Es war dunkel dort und heiß.“ Die Lüge kam über ihre Lippen, noch bevor sie sich darüber im Klaren war, warum es besser wäre, nicht die Wahrheit zu sagen. Irgendein inneres Warnsystem war aktiviert worden. Es sandte verwirrende Signale aus. Eines aber war eindeutig, sie hatte Angst!

„Soso. Und was hat er noch erzählt, dieser Alexander?“

„Ich besäße etwas, was du haben willst. Deshalb hättest du mich in meinem Zimmer eingesperrt. Ist das wahr?“

Die Angst breitete sich immer weiter aus und ergriff Besitz von ihrem Körper. Sariel hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Aus irgendeinem Grund war es wichtig, gelassen zu wirken.

„Das hat er also gesagt.“ Torsten Halder lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Mehrere Sekunden vergingen, in denen Sariel sich zunehmend unbehaglicher fühlte. Und dann spürte sie es. Sie konnte jeden einzelnen Blutstropfen wahrnehmen, der durch ihre Adern floss, registrierte, wie der Blutstrom von einem hellen, gesunden Rot zu einer gräulichen, dunklen Masse verklumpte. Ihr Körper wurde schwer. Das Atmen zu einer mühsamen Arbeit, die ihre Lungenflügel gerade noch verrichten konnten. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, kämpfte mit der dicken Flüssigkeit, die durch die Adern gepumpt werden musste.

„Ein unangenehmes Gefühl, nicht wahr?“ Ihr Onkel klang zufrieden. Er öffnete seine Augen und betrachtete sie. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Gesichtszügen aus. „Dein kleiner Ifrit ist nichts weiter als ein Grünschnabel, der die ersten Schritte lernt. Er ist dumm.“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung unterstrich Halder seine Worte. „Wenn er auch nur ein wenig mehr Verstand hätte, wüsste er, dass man sich über seine Feinde informiert. Ich studiere seit über vierzig Jahren Magie, Dämonologie, Geister und alles, was damit zusammenhängt. Ich werde ihn zermalmen. Ihn ausbluten lassen.“

Der Schock, den diese Worte hervorriefen, breitete sich langsam aus. Alles war zähflüssig. Ihr Blut, ihre Gedanken, ihre Gefühle. Fast war sie dankbar dafür. Trotzdem formten ihre Lippen das eine Wort, das alle Fragen zusammenfasste, die sie stellen wollte: „Warum?“

Ihr Onkel lachte. „Warum? Was glaubst du, liebe Sariel, weshalb ich das alles tue? Um Macht zu erlangen und Unsterblichkeit. Leider benötige ich tatsächlich etwas, was nur du mir geben kannst. Das Blut eines Halbdämonen. Jetzt, nachdem du die Verwandlung begonnen hast, bist du am wertvollsten für mich. Voller Kraft und Magie. Nett von dir, dass du gerade in diesem Augenblick zu mir gekommen bist. Ich dachte, dieser verfluchte Ifrit hätte dich außerhalb meiner Reichweite gebracht.“

Blut.

Macht.

Unsterblichkeit. Die Worte tanzten einen Reigen in ihrem Kopf. Verloren an Sinn. Sie versuchte, sich einen anderen Ort vorzustellen. Alexanders Behausung hoch oben in den Bergen. Das Panorama, das sie heute Morgen erblickt hatte. Aber es war zwecklos. Natürlich. Ihr Onkel verhinderte, dass sie sich in Rauch auflöste.


Irgendetwas war anders. Es dauerte einen Moment, bis die Erkenntnis in Alexanders Bewusstsein drang. Bis er wach genug war, um zu verstehen, was seine Sinne spürten. Sie hatte den Adlerhorst verlassen.

„Verdammt.“ Wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, so müde von dem Gift des Bankers, wäre das nicht passiert. Im Wachzustand hätte er ihre Abwesenheit sofort bemerkt.

Ein Blick in ihr Zimmer bestätigte, was er bereits wusste. Sariel war zu ihrem Onkel zurückgekehrt.

Mit wütenden Schritten durchquerte er die geräumige Halle, die den Eingang zu seiner Behausung markierte. Er würde dem Banker dieses Mal besser gerüstet gegenübertreten. Ungeduldig traktierte er das Schloss, bis der Mechanismus endlich nachgab. Mit einem Krachen flog die schwere Holztür an die Wand. Dann aber wurde das Dunkel der Waffenkammer von hellem Licht durchflutet. Es war Jahre her, seit Alexander das letzte Mal diesen Raum betreten hatte. Normalerweise benutzte er keine Hilfsmittel. Seine Morde erledigte er effizient, lautlos und mit kalter Präzision. Ein sauberer Genickbruch. Dazu benötigte er weder ein Messer noch eine Pistole oder eine Garotte.

Sein Blick wanderte über das Arsenal, bis er an einer schlanken Klinge hängen blieb. Bester Damaszener Stahl. Das Opfer wäre tot, noch bevor das Signal des Schmerzes sein Gehirn erreichte.

Nein. Für Torsten Halder war diese Waffe nicht raffiniert genug. Für den Banker benötigte er etwas anderes.

Und dann sah er sie.

Eine Feder.

Unschuldig in ihrer weißen Vollkommenheit und so zart und durchscheinend, dass ein menschliches Auge sie nicht wahrnehmen würde.

11

Dieses Mal bemerkte Halder nicht, dass Alexander sich soeben in seiner Bibliothek materialisiert hatte. Trotzdem hatte der Banker Vorbereitungen für diesen Fall getroffen. Alexander konnte die silbernen Energiefäden sehen, die den gesamten Raum in ihrem Netz gefangen hielten. Heute aber konnten sie ihn nicht aufhalten. Er war weder geschwächt noch unvorbereitet. Sein Rauch schlängelte sich zwischen den Fäden hindurch, ohne Vibrationen zu verursachen.

„Es wird noch Stunden dauern, bis deine Fähigkeiten ihren Weg in dieses Gefäß gefunden haben.“ Halder zeigte auf ein Behältnis, das Ähnlichkeit mit einer Urne besaß.

Sariel antwortete nicht. Sie saß zusammengesunken auf einem Stuhl. Ihr Körper hing leicht nach vorne. Sie wäre heruntergekippt, wenn da nicht die unsichtbaren Fäden wären, die sie festhielten. Die dafür sorgten, dass sie sich nicht bewegen konnte.

Und dann war da noch etwas. Halders Gift, das bereits seinen Weg durch ihren Körper angetreten hatte. An ihrem Energiefeld konnte Alexander deutlich ablesen, wie es Sariels Blut verdickte. Ihr das Atmen erschwerte und dafür sorgte, dass sie sich nicht in Rauch auflösen konnte.

Der Anblick tat weh. Alexander merkte, wie sein ganzes Wesen danach verlangte, sich zu materialisieren. Zu einem Körper werden wollte, der sich auf Halder stürzen und ihn zu Boden schlagen würde. Aber das wäre genau die Aktion, mit der der Banker rechnete.

Die nächsten Worte bestätigten diese Vermutung: „Ich bin ein wenig enttäuscht. Eigentlich hatte ich erwartet, dein Ifrit würde dir zu Hilfe eilen. Schade. Offensichtlich bist du wertlos für ihn.“ Obwohl Halder die Worte an Sariel richtete, suchten seine Sinne die Bibliothek ab. Ohne Erfolg. Solange Alexander nichts anderes war als Rauch, würde der Banker ihn nicht erspüren können. Der Nachteil lag darin, dass auch Alexander ihm kaum etwas anhaben konnte.

„Vielleicht sollte ich den Vorgang etwas beschleunigen“, murmelte Halder und hob den Kopf. Sein Blick suchte erneut den Raum ab. Er ahnt, dass ich hier bin. Die Erkenntnis rief ein leises Triumphgefühl in Alexander hervor. Halder mochte so viel ahnen oder auch wissen, wie er wollte. Im Moment war er, was Alexander betraf, machtlos.

„Ja, ich werde deine Leiden verkürzen. Schließlich bist du meine Nichte. Ein wenig hiervon …“ Halder zog, während er sprach, eine Spritze auf. „..., und du wirst in das wohltätige Reich des Todes und des Vergessens gleiten.“

Mit der Spritze in der Hand ging er auf Sariel zu. „Es wird nur für einen Augenblick qualvoll sein. Das verspreche ich.“

Mit einem leisen Hauch stupste Alexander die Feder an. Fast schwerelos erhob sie sich und schwebte durch den Raum. Ihre silbrige Form so hell und durchscheinend, dass sie sich für einen Menschen am Rande der Wahrnehmung bewegte. Dirigiert von Alexanders Willen bewegte sie sich auf den Banker zu. Halder drehte sich um, suchte nach etwas, was er sehen und vernichten konnte. Aber es war bereits zu spät. Die Feder drang in Bereiche vor, die der Banker vor ihr nicht schützen konnte. Dieses Mal war er derjenige, der arrogant, dumm und - vor allem - schlecht vorbereitet war. Halder hatte Alexander unterschätzt, hatte dessen Jugend und Unerfahrenheit zum Anlass genommen, an weitere Fehler zu glauben. Fehler, die der Ifrit begehen würde.

Nicht heute.

Die Feder folgte den silbernen Gedankenschnüren, die ihr den Weg zu Halders Machtzentrale wiesen. Auf ihrer Spitze schimmerte ein winziger roter Punkt. Blut.

Der Banker konnte ihr Vordringen nicht spüren. Trotzdem schien ihn ein unbehagliches Gefühl zu beschleichen. Erneut sah er sich um. Dann schüttelte er den Kopf, als wolle er seine Gedanken verjagen.

„Genug“, flüsterte er.

Die Spritze hoch erhoben, ging er einen weiteren Schritt auf seine Nichte zu.

Die Feder näherte sich ihrem Ziel. Langsam. Zu langsam?

Halder blieb neben Sariel stehen.

Nur noch wenige Zentimeter trennten die Feder von dem dunkel pulsierenden Zentrum von Halders Macht.

Der Banker setze die Spritze auf Sariels Haut. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ein Tropfen hiervon, Ifrit, und sie ist tot.“

Die Feder erreichte den Ort ihrer Bestimmung. Ihr silberner Strudel kreiste um das eine Wort, das Halders Denken bestimmte.

Schwarze Hostie. Schwarze Hostie …

Mit einem leichten Druck senkte sich der Kolben der Spritze nach unten, begann das Gift …

Eine unsichtbare Explosion schleuderte den Banker zurück, er taumelte gegen ein Regal, versuchte sich festzuhalten. Aber es war bereits zu spät. Bewusstlos glitt er an dem Holz nach unten. Ein Wasserfall von Büchern begleitete seinen Sturz.

„Sariel!“ Alexander hauchte den Namen wie ein Gebet, als er nach vorne stürzte und den Körper stützte, der jetzt, befreit von Halders Fesseln, vom Stuhl zu gleiten drohte. Ohne sich dessen bewusst zu werden, hatte er sich bereits materialisiert und tastete mit fliegenden Fingern nach ihrem Puls. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Musste … Da, kaum wahrnehmbar, war das zaghafte Flattern ihres Herzens.

Mit einem Schlag durchflutete Alexander die Gewissheit, dass er soeben sein Leben, seine Daseinsberechtigung wiedererlangt hatte. Wäre Sariel gestorben, hätte die Unsterblichkeit ihren Sinn verloren.

Mit einem Stöhnen öffnete sie ihre Augen. „Mein Onkel? Was …?“ Ihr Blick fand Halders reglose Gestalt auf dem Boden, die Augen geschlossen. Eine Blutspur zog sich von seinem Mundwinkel zum Kinn.

„Er ist nicht tot“, beantwortete Alexander den fragenden Blick. „Im Gegenteil. Er ist unsterblich.“

„Unsterblich?“ Sariels flüsterte die Worte. „Aber wie …? Ich dachte, er muss mich töten, um Unsterblichkeit zu erlangen.“

„Ich habe ihm etwas gegeben, wonach er lange gesucht hat. Auch wenn das Ergebnis nicht das ist, was ihm vorschwebte.“ Alexanders Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als er das Wortspiel bemerkte.

„Dämonenblut. Nur ein Tropfen davon kann für einen Menschen sehr unangenehme Folgen haben. Deshalb benötigte Halder die spezielle Kraft, die nur ein Halbdämon ihm geben kann. Denn jetzt ist er zwar unsterblich, aber sein Körper wird altern und seine Macht ist zerstört. Für immer.“ Das Problem war nur, dass Halder tot sein sollte. Alexander hatte seinen Auftrag nicht erfüllt. Noch nicht, aber es war ausgeschlossen, den Banker vor den Augen seiner Nichte zu töten, auch wenn diese im Moment keinen Grund hatte, sein Überleben zu wünschen. Alexander glaubte zu wissen, wie wichtig die Verbindung zu diesem letzten Familienmitglied für sie war.

 

Sariel nickte. Und dann stand sie auf und löste sich auf. Für einen Augenblick war Alexander gelähmt von der Grazie, mit der diese Verwandlung vonstattenging. Dann aber folgte er ihrem Beispiel. Er wusste, wo er sie finden würde.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?