Das Geheimnis der Dämonen

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Aus der Reihe: Das Geheimnis der Dämonen #1
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6

Es mussten Stunden vergangen sein, bis er es schaffte, die Augen zu öffnen. Wie Bleigewichte lagen die Lider auf den Pupillen. Er benötigte seine ganze Kraft, um wieder zu sehen. Was er erblickte, war nicht überraschend. Er befand sich in seiner Zelle, dem winzigen Raum, aus dem er für kurze Zeit entkommen war. Sehr weit hatte ihn sein Fluchtversuch nicht gebracht.

Die Nacht war die Hölle gewesen. Wortwörtlich. Halder hatte es geschafft, dass Alexander wünschte, nie geboren zu sein. In den hundert Jahren, die er auf der Erde war, hatte er nie solchen Schmerz erfahren. Nie eine solche Angst verspürt. Warum auch? Ein Ifrit zu sein, hatte viele Vorteile, und einer davon war, dass er seine körperliche Gestalt nach Wunsch verändern konnte. Krankheiten sind einem Ifrit fremd. Sobald ihn ein körperliches Unwohlsein beschlich, brauchte er nichts weiter zu tun, als sich in Rauch aufzulösen. Danach materialisierte er sich und setzte seinen Leib wieder in perfekter Harmonie zusammen.

Zum ersten Mal in seinem Leben war dies nicht möglich. Halders Gift hatte ihn dieser Fähigkeit beraubt. Der Banker hatte es langsam injiziert. Jeder Tropfen hatte geschmerzt.

„Das wird Ihnen für einige Zeit die Lust nehmen, sich unsichtbar zu machen oder in Rauch aufzulösen. So leid es mir tut.“

Die Worte hallten in seinem Kopf wider. Der Spott hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Und noch etwas. Hass.

Ich werde ihn töten!

Die Gewissheit nahm etwas von dem Schmerz, den das Gift hinterlassen hatte. Er wusste nicht, wie er es schaffen würde, aber die Machtdemonstration, die seinen Willen brechen sollte, hatte das Gegenteil bewirkt. Anstatt Alexander zu zerstören, hatte der Banker erreicht, dass der Ifrit fokussierter war als jemals zuvor.

Er war zu schwach, um mehr als seine Augen zu bewegen, aber das reichte aus, um seine Zelle erneut in Augenschein zu nehmen. Nichts hatte sich verändert. Noch immer befand er sich in einem kleinen Raum, der von Betonwänden umgeben war. Kein Fenster unterbrach die glatte Oberfläche der Mauern. Selbst die Tür ihm gegenüber war ohne Fugen in das Gemäuer eingefügt. Kein Lichtstrahl drang hinein. Es gab keine Spalten, keine Risse im Mauerwerk, nichts als die kalte, glatte, weiße Betonoberfläche.

Mit einem Seufzen schloss er die Augen, konzentrierte sich darauf, seine Umgebung mit den Sinnen abzutasten. Und dann endlich entdeckte er etwas, was ihm zuvor entgangen war. Energiefäden durchzogen den Raum. Manche waren mehrere Jahrzehnte alt, andere nur einige Stunden. Viele der Energielinien stammten von Halders Opfern. Seelen, die er ebenso wie Alexander gefoltert hatte. Ihre Überreste sprachen eine deutliche und zugleich erschreckende Sprache. Die letzte Nacht war angenehm im Vergleich zu dem gewesen, was die Zukunft für Alexander bereithielt.

Die jüngeren Energiestränge stammten von dem Banker. Sie durchzogen den Raum wie ein Spinnennetz. Einen Fluch auf den Lippen, schloss Alexander die Augen. Kein Wunder, dass er nicht weiter als Halders Arbeitszimmer gekommen war. Der Banker wusste genau, was er vorhatte. Und nicht nur das, Alexander konnte seine Kräfte nicht nutzen, denn Halders Energie hinderte ihn daran.

Ein raffiniertes Konzept. Aber sein Gegner hatte den gleichen Fehler begangen wie Alexander: Er war in seiner Machtbesessenheit unvorsichtig geworden.

Ein Lächeln stahl sich auf Alexanders Lippen. Die Bilanz war ausgeglichen, nur wusste Halder noch nichts davon.

Zwei Fehler. Ein dritter würde Alexander nicht unterlaufen.

„Sariel!“

Ihr Name war nur ein Flüstern auf seinen Lippen, aber es reichte. Wie schon zuvor öffnete sich Torsten Halders Bewusstsein. Seine Gedanken. Die Schaltzentrale seiner Macht.

Das schwarze Pulsieren in der Mitte wies ihm den Weg. Alexander lenkte seine Energie darauf zu. Er hatte nur wenige Sekunden, um sein Vorhaben auszuführen, aber er konnte sich keinen Fehler erlauben.

Langsam also.

Und dann war er dort. Inmitten des dunklen Mahlstroms, der Halders gesamtes Wesen durchdrang. Eine unglaubliche Machtkonzentration. Und, was noch wichtiger war, Energie. Genau das, was er brauchte, um zu überleben und den Banker zu töten. Ein Lächeln breitete sich auf Alexanders Gesicht aus. Die Vorstellung, Halder mit seiner eigenen Kraft zu vernichten, war ein berauschender Gedanke. Er konnte bereits fühlen, wie dessen Energie in seinen eigenen Adern pulsierte, sich über seinen Körper ausbreitete. Er durfte nur eines nicht vergessen: Halders Energie war gefährlich, denn von nun an würden dessen Machtgier, die Skrupellosigkeit und sein Fokus auf die Herstellung der schwarzen Hostie, ebenfalls ein Teil von Alexander sein. Ein Teil seines Wesens, den er kontrollieren musste.

Es würde nicht einfach werden, aber er schaffte das. Ganz sicher.


Eigentlich müsste hier längst ein Trampelpfad zu sehen sein. Der Gedanke zauberte ein ironisches Lächeln auf ihre Lippen. In ihrem Zimmer auf und ab zu laufen, war in den letzten Tagen ihre Hauptbeschäftigung. Sehr viel mehr konnte sie ohnehin nicht tun. Die Gefangenschaft nahm ihre Gedanken in Anspruch. Sie schaffte es weder sich auf ein Buch noch auf Fernsehfilme oder Musik zu konzentrieren.

Zuerst war sie irritiert. Dann wütend. Ihr Onkel hatte kein Recht, sie so zu behandeln. Seit Tagen formulierte sie ihre Anklage, aber es gab niemanden, der ihr zugehört hätte. Torsten Halder mied ihre Gesellschaft. Seit jenem Sonntag, an dem sie ihre Entscheidung verkündet hatte, war sie von jedem menschlichen Kontakt abgeschnitten. Ihr Essen wurde vor die Tür gestellt. Rosco ließ es zu, dass sie es hereinholte. Mehr aber war nicht möglich. Jeden Tag hoffte sie, er ließe in seiner Wachsamkeit nach, aber diesen Gefallen tat er ihr nicht.

Das Sonnenlicht blendete ihre Augen, als sie zum wohl hundertsten Mal am Fenster stand und überlegte, wie sie es schaffen könnte, aus dem dritten Stock unbeschadet nach unten zu kommen. Sie hatte ihre Bettwäsche verknotet, nur um festzustellen, dass ägyptisches Leinen nicht dafür gemacht war, als Seil missbraucht zu werden. Schon ein sachter Zug an ihrer selbst gefertigten Konstruktion reichte, um es zu zerreißen.

Ein weiterer Fehlschlag. Aber sie durfte nicht aufgeben. Je mehr Tage vergingen, desto schwieriger würde es sein, ihre Pläne zu verwirklichen, und dann war da noch Alexander. Der Fremde, dem sie helfen musste. Wenn sie nur wüsste, wie.

„Ach, verdammt.“ Sie drehte sich vom Fenster weg. Es war aussichtslos. Sie war nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen. Wieder stieg Alexanders Bild in ihr auf. Wie er sich in Schmerzen wand, schrie. Und dann dieser Blick direkt in ihre Augen, so als wolle er ihr etwas mitteilen. Sie musste ihm helfen. Es war unmöglich, es nicht zu versuchen.

Wenn sie nur wüsste, wo er sich befand. Obwohl sie nicht gerne daran dachte, rief sie sich noch einmal die Erinnerung an ihren Traum ins Gedächtnis. Dieses Mal konzentrierte sie sich auf seine Umgebung. Versuchte, das Bild der hilflosen Gestalt in den Hintergrund zu drängen. Eine Zelle. Etwa neun Quadratmeter groß, der Ort kam ihr bekannt vor. Sie war sich sicher … Das Traumbild verschwamm vor ihren Augen. Es wurde unscharf, der Boden schwankte unter ihren Füßen, und die Wände drehten sich in einem wilden Tanz. Mit einem Aufschrei versuchte sie sich festzuhalten. Irgendwo. Aber ihre Finger griffen ins Leere.

7

Sie lag auf dem Boden, als sie wieder zu sich kam. In ihrem Kopf jagte ein Wirbelsturm die Gedanken wie Herbstlaub vor sich her. Mit einem Stöhnen setzte sie sich auf. Sie war noch nie zuvor ohnmächtig geworden.

„Für alles gibt es ein erstes Mal“, murmelte sie vor sich hin. Dann versuchte sie aufzustehen. Es ging. Gerade so. Übelkeit stieg in ihr auf, aber sie verdrängte das Unwohlsein, bewegte sich stattdessen einige Schritte auf den kleinen Tisch zu. Die kurze Distanz war mit einem Mal sehr lang, dann aber hatte sie es geschafft. Mit einem Stöhnen ließ sie sich auf den Stuhl sinken. Endlich. Ihre Beine waren noch immer zittrig. Die Thermoskanne, die den Tee enthielt, den sie vor wenigen Stunden noch verweigert hatte, war mit einem Mal ein willkommener Anblick.

Das heiße Getränk sandte etwas Lebenskraft durch ihre Adern. Das war besser. Viel besser.

Für einen Augenblick schloss sie die Augen und genoss das Gefühl, ihren Körper zurückzugewinnen. Sie sollte etwas essen. Wahrscheinlich war sie ohnmächtig geworden, weil sie in den letzten Tagen kaum etwas zu sich genommen hatte.

„So komme ich hier nie heraus“, schalt sie sich.

Selbstgespräche. Der erste Schritt zum Wahnsinn. Mit einem Schulterzucken verdrängte sie diesen Gedanken. Es gab Wichtigeres, als über ihre geistige Gesundheit zu sinnieren.

Essen. Das bedeutete, sie musste ihre Augen öffnen. Sich der Wirklichkeit stellen.

Die Realität war anders als erwartet. Falsch. Sie war bereits verrückt, so viel war sicher. Anders konnte sie sich die Halluzination nicht erklären, die offensichtlich von ihr Besitz ergriffen hatten. Da, nur wenige Schritte von ihr entfernt, bewegte sich ein dunkler Schatten. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel, verstärkte den Kontrast. Es konnte die Dunkelheit, die diesen Schatten umgab, nicht durchdringen. Die dunkle Figur hob den Kopf.

Alexander!

Drogen. Das war die einzig plausible Erklärung. Ihr Onkel hatte Drogen unter das Essen mischen lassen.

 

Die Erscheinung keuchte, als hätte sie Schmerzen. Das Ganze war absurd.

„Ich … bin hier, um zu …“

Die Worte waren kaum zu verstehen. Aus irgendeinem Grund war Alexander außer Atem.

Für eine Halluzination war der Anblick zu real. Entweder war sie verrückt oder dieser Mann hatte es irgendwie geschafft, sich Zugang zu ihrem Zimmer zu verschaffen. Aber wie?

Sie erhob sich, achtete darauf, so leise wie möglich zu sein. Wenn sie bis zur Tür kam, konnte sie Rosco auf ihn hetzen. Er würde sie beschützen. Der Hund, der vor wenigen Minuten noch ihr Wächter war, könnte jetzt ihre Rettung sein.

„Bleib. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.“ Seine Stimme klang kräftiger als zuvor. Trotz der beruhigenden Worte lief ihr ein Schauer über den Rücken. Seine Körpersprache sagte etwas anderes. Sagte, dass er kurz davor stand, sich auf sie zu stürzen. Irgendetwas stimmte nicht. Der Mann, mit dem sie auf dem Sommerfest ihres Onkels einige Worte gewechselt hatte, war reserviert gewesen. Beherrscht. Dieser Mensch hier wies zwar eine äußerliche Ähnlichkeit mit ihm auf, machte aber den Eindruck, als sei er von einer bösen Macht besessen.

Seine Finger ballten sich an seiner Seite zu Fäusten, die Kiefer pressten sich so fest aufeinander, dass sie die einzelnen Muskelstränge sehen konnte. Während seine Augen … nicht die eines Menschen waren.

Ohne den Blick von ihm zu wenden, machte sie einen vorsichtigen Schritt nach hinten. Nur zwei Schritte bis zur Tür. Nachdem sie tagelang in dem Raum auf und ab gelaufen war, kannte sie die Abmessungen.

„Gehe nicht. Bitte.“ In einer Geste, die diese Worte unterstreichen sollte, hob er eine Hand.

„Nenne mir einen Grund, warum ich dir trauen sollte. Du bist nicht … Irgendetwas stimmt nicht mit dir.“ Warum rede ich mit ihm? Das ist ein Fehler. Sie musste verschwinden. Diesen Raum verlassen, bevor er die Beherrschung verlor.

„Weil ich hier bin, um dich zu retten.“ Die Worte klangen pathetisch. Sie wollte lachen. Es gab nichts, wovor ausgerechnet er sie retten müsste, aber etwas ließ sie innehalten. Die Worte klangen, als spräche er die Wahrheit. Was unsinnig war, denn sie brauchte keine Hilfe. Ihr Onkel würde in wenigen Tagen zur Vernunft kommen und bedauern, was er getan hatte. Es war nicht richtig, sie gegen ihren Willen festzuhalten, aber ihr drohte keine Gefahr. Ganz sicher nicht.

Warum also glaubte sie diesem Fremden?


Torsten Halders Energie war stärker, als er angenommen hatte. Alexander merkte, wie ihm die Kontrolle entglitt. Schlimmer noch, er begann wie der Banker zu denken. Die Gedanken verursachten ihm Übelkeit. Er sah das Kalkül, das hinter all dem steckte, wusste welche Vorkehrungen Sariels Onkel getroffen hatte, um an die Substanz zu kommen, die er benötigte. Aber das war nicht das Schlimmste. Mit einem Schaudern verdrängte er das Bild. Nein!

Erstaunlicherweise erlangte er durch dieses eine Wort die Kontrolle zurück. Zumindest genug, um Halders Energie zurückzudrängen. Er verbannte sie in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Er würde sie benutzen. Sie kontrollieren. Aber er würde es nicht zulassen, dieser Macht erneut zum Opfer zu fallen.

Ein Blick zu Sariel hin zeigte, was er befürchtet hatte. Sie sah ihm den Kampf an, der in ihm tobte. Sie hatte Angst vor ihm. Vielleicht war es besser so. Wenn sie Angst hatte, würde sie vorsichtig sein, ihn im Auge behalten. Sollte ihm die Kontrolle entgleiten …

Nein! Das werde ich nicht zulassen!

„Wovor willst du mich retten?“ Die Frage holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Sie sah ihn an, als wolle sie in seine Seele blicken. Er musste seine Antwort gut überlegen, damit sie ihm glaubte.

Bevor er ihr eine Erklärung liefern konnte, geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Schritte näherten sich. Torsten Halder. Der Banker hatte sich schneller von dem Energieentzug erholt, als er für möglich gehalten hatte. Er war nicht allein, mindestens zwei Männer begleiteten ihn. Seine Bodyguards.

„Schnell. Wir müssen weg von hier.“

„Warum?“

Die Schritte kamen näher. Alexander konnte Halders Aura spüren. Der Banker war wütend. Mehr noch. Er war rasend. Wenn sie nicht sofort von hier verschwanden, würde Sariel diese Begegnung nicht überleben. Halder hatte eine Entscheidung getroffen. Sie sollte noch heute sterben. Der Banker hatte beschlossen, dass ihr Beitrag zu der schwarzen Hostie wichtiger war, als mit ihr ein Kind zu zeugen. Er war nicht mehr länger bereit seine Pläne aufzuschieben.

„Sie kommen. Dein Onkel und seine Männer.“

„Gut! Ich muss mit ihm reden. Ihm klarmachen, dass er kein Recht hat …“

Mit einer Handbewegung unterbrach er ihren Redefluss. „Nicht jetzt.“

„Sage mir nicht, was ich zu tun habe. Es reicht, wenn mein Onkel denkt, er könne über mein Leben bestimmen.“

Nur noch wenige Meter, dann wären sie hier. Er konnte die Vibrationen spüren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihren Willen zu beugen. Noch bevor er seine Hand erneut ausstreckte, bereute er, was er tat.

8

Das Sonnenlicht war so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Es strömte ungehindert durch eine riesige Fensterscheibe. So muss es aussehen, wenn man gestorben und in den Himmel gekommen ist, dachte sie, während sie sich aufrichtete und die Umgebung aufmerksam musterte.

Sie befand sich in einem seltsamen Raum. Hier fehlten rechte Winkel und glatte Wände, es war wie in einer luxuriösen Höhle. Dunkelgraues Schiefergestein rahmte das Gemach ein. Neugierig sah sie sich weiter um. Auf dem Fußboden sorgten bunte Teppiche für Kontrast zu dem grauen Stein. Ein Sessel und ein Tisch, beides aus Ästen hergestellt, bildeten eine Sitzgruppe. Das Zimmer war behaglich, verströmte aber eine Atmosphäre, als sei es seit Langem nicht mehr benutzt worden.

Erneut suchte ihr Blick die Glasfront, die eine atemberaubende Aussicht bot. Wie in einem Adlerhorst konnte sie von ihrem Bett aus das Panorama der Bergwelt genießen, das sich in seiner ganzen Pracht vor ihr ausbreitete. Schneebedeckte Gipfel und ein eisblauer Himmel erstreckten sich in einer unendlichen Weite.

Es dauerte mehrere Minuten, bevor sie es schaffte, sich von dem Anblick loszureißen und die Gedankenfetzen, die durch ihren Kopf wanderten, zusammenzusetzen. Alexander. Die Hand, die er ausstreckte. Und dann Dunkelheit.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Das Bett, in dem sie gelegen hatte, war riesig. Weiche Kissen wollten sie dazu verführen, länger zu verweilen. Die Decke schmiegte sich an ihren Körper, als wolle sie sie ebenfalls überreden, zu bleiben und die Aussicht zu genießen.

Sie widerstand der Versuchung. Stattdessen ließ sie ein vertrautes Gefühl zu. Wut. Schon wieder hatte ein Mann seinen Willen über den ihren gestellt. Alexander hatte sie in eine Ohnmacht sinken lassen. Sie wusste nicht, wie er das geschafft hatte. Aber sie war sicher, er hatte sie in das schwarze Loch fallen lassen, als er mit seiner Hand auf ihren Kopf deutete. Danach musste er sie aus dem Haus ihres Onkels gebracht haben.

Wie hat er das geschafft, ohne von meinem Onkel daran gehindert zu werden? Torsten Halder mit seinen Bodyguards hätte in der Lage sein müssen, ihn aufzuhalten. Und dann war da noch Rosco.

Die Wut wurde von etwas anderem verdrängt. Angst. Dieser Mann hatte sie entführt. Auch wenn die Umgebung luxuriös war, so konnte dies nur eines bedeuten: Ihr Leben war in Gefahr. Ihre Muskeln, die eben noch bereit gewesen waren, ihren Körper mit einem Satz aus dem Bett zu befördern, gaben ihren Dienst auf. Sariel fiel in die Kissen zurück und ergab sich der Sturzflut der Gefühle, die über sie hinwegspülte. Es war seltsam. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie in ein Vakuum geflüchtet, das sämtliche Emotionen aussperrte. Erst in den letzten Tagen hatten es zwei Gefühle geschafft, diese Mauer zu durchdringen: Wut und Angst.

Die Wut konnte ihr nützlich sein. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, die Panik aus ihrem Kopf zu vertreiben. Was auch immer dieser Mann mit ihr vorhatte, sie würde es ihm nicht so leicht machen, wie er dachte. Sie war bereit zu kämpfen.

Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett. Es wurde Zeit, Alexander zu konfrontieren.

Wenn sie geglaubt hatte, die Aussicht aus ihrem Zimmer sei atemberaubend, so wurde sie schnell eines Besseren belehrt. Der Raum, den sie nun betrat, war etwa zehnmal so groß. Die Felsdecke wölbte sich in einem hohen Bogen über ihrem Kopf, aber das war es nicht, was ihren Blick festhielt. Die gesamte vordere Front des Raumes wurde von fast zwanzig Meter breiten Panoramafenstern dominiert. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verharrte sie und sog das Bild in sich auf.

„Guten Morgen. Ich hoffe, es geht dir gut.“ Die leisen Worte unterbrachen ihre Andacht.

„Gut?“ Noch während sie dieses eine Wort ausspuckte, wirbelte sie zu ihm herum. „Als gut würde ich es nicht bezeichnen, wenn ich aus einer Bewusstlosigkeit erwache, die von dir verursacht wurde.“

„Es tut mir leid.“ Alexander löste sich von der Felswand, an der er gelehnt hatte, und trat einen Schritt auf sie zu.

„Das ist mir egal. Ich will hier weg, nach Hause, und zwar sofort.“

„Das geht nicht.“

„Ach, ich vergaß. Mein Onkel hat deine Forderungen wohl noch nicht erfüllt. Das wird er nicht tun. Er verhandelt nicht mit Verbrechern.“

„Forderungen?“ Alexander sah sie irritiert an. „Ich will nichts von deinem Onkel.“

„Warum hast du mich dann entführt?“

„Entführen ist nicht das richtige Wort.“ Für einen Augenblick herrschte Stille.

„Dann sollte es kein Problem sein, mich wieder nach Hause zu bringen.“

„Ich sagte bereits. Es geht nicht.“ Alexander ging an ihr vorbei, bis er vor dem Fenster stand. Dann drehte er sich um und bedeutete ihr näher zu kommen. Den Teufel würde sie tun.

„Bitte“, sagte er schließlich, nachdem sie seiner Aufforderung nicht nachkam.

„Warum sollte ich?“

„Ich möchte dir etwas zeigen.“

Letztendlich siegte die Neugierde. Wenn ihre Vermutung stimmte, mussten sie sich hoch oben auf einem Berggipfel befinden. Zwei Schritte bestätigten ihre Vermutung. Fast wurde ihr schwindelig, als sie aus dem Fenster nach unten blickte. Wie hatte er an diesem Ort eine Behausung errichten können?

Frei. Obwohl er ihren Wunsch verweigert hatte, kam sie sich frei vor. Wie der Adler, der hoch am Himmel seine Kreise zog. Es war seltsam. Sie fühlte sich schwerelos, so als sei ihr Körper nicht mehr an die Erdanziehungskraft gebunden. Fast glaubte sie, sie könne sich ebenso wie der Vogel in die Lüfte erheben. Die Berge bewirkten, was er nicht vollbracht hatte: Ihre Wut löste sich auf.

Aber das war unwichtig. Alles, was zählte, war ihr Wille.

„Nein.“ Alexander sprach noch immer so leise, dass sie das Wort mehr erahnte, als es zu hören.

„Ich bin es leid, mir von Männern sagen zu lassen, was ich zu tun habe. Erst mein Onkel und nun du. Ich werde noch heute diesen Ort verlassen. Und du wirst mir helfen, von diesem Berg wieder herunterzukommen.“

„Wenn ich das tue …“ Alexander ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Anstatt ihn zu vollenden, wechselte er das Thema. „Du hast etwas, was dein Onkel besitzen will. Das ist der Grund, weshalb du nicht gehen kannst. Zurzeit ist Halder nicht ganz er selbst.“

Während er diese seltsame Erklärung abgab, ging eine Veränderung in ihm vor. Sein Gesicht verzerrte sich und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er trat einen Schritt zurück. Wie schon zuvor hatte sie das Gefühl, er sei kurz davor, sich auf sie zu stürzen. Und dann geschah etwas Seltsames. Sie konnte sehen, wie dunkle Energie in einem Wirbel um seinen Körper floss. Es sah aus, als stünde er in einem Strudel aus schwarzem Nebel. Der Anblick war unheimlich.

Er zitterte. Und dann war der Spuk vorbei. Die Schwärze zog sich zurück. Fast war sie bereit zu glauben, sich alles nur eingebildet zu haben.

„Ich habe eher den Eindruck, als wärst du derjenige, der nicht er selbst ist.“ Die Worte waren heraus, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Sie wollte nicht mit ihm reden, wollte nichts über diesen Menschen erfahren.

„Ich hielt es für eine gute Idee, mir die Energie eines anderen anzueignen. Leider stellt sich heraus, dass ich nicht so gut damit umgehen kann, wie ich dachte“, sagte er.

 

„Es soll Menschen geben, die aus ihren Fehlern lernen. Vielleicht gehörst du ja dazu. Aber, wenn ich ehrlich bin, interessiert mich das nicht. Wie ich schon sagte, ich will von hier weg.“

„Das ist schade, denn es geht nicht. Ich glaube, ich habe das bereits erwähnt.“

Wut überschwemmte sie erneut mit einer Heftigkeit, die sie erschreckte. Wie eine Welle brach die Emotion über Sariel herein. Ohne darüber nachzudenken, lenkte sie die Flut in Alexanders Richtung. Er taumelte zurück.

Aber sie hatte ihn nicht berührt. Sie hatte nur diese seltsame Kraft benutzt.

„Du bist stärker, als ich dachte.“ Alexander lächelte, aber es war eher eine verzerrte Grimasse. Er rieb sich die Rippen, so als habe sie ihn tatsächlich verletzt.

„Das war nicht ich“, protestierte sie.

„Doch. Ich weiß nicht, ob …“ Wieder dieses Zittern. Seine Augen veränderten ihre Farbe von blau zu fast schwarz. Ebenso wie die Wolke, die sie gesehen hatte, obwohl es so etwas nicht geben konnte.

Und dann war da nur noch Rauch. Plötzlich war sie allein.


Die Hitze der Sahara hüllte ihn ein wie ein schützender Kokon. Mit einem tiefen Atemzug ließ er sich in den Sand sinken.

Das war knapp. Einen Lidschlag länger und er hätte sich auf sie gestürzt. Die Energie Halders war so stark, dass er seine ganze Willenskraft aufbringen musste, um sie zu bezwingen. Sariels überraschende Attacke hatte dazu geführt, dass er die Kontrolle verlor.

Er war kurz davor gewesen, Sariel das anzutun, wovor er sie beschützen wollte.

Die glühenden Sonnenstrahlen taten ihm gut. Sie brannten Halders giftige Energie aus ihm heraus. Gut! Er musste Halders Einfluss loswerden, bevor er zu Sariel zurückkehrte. Im Moment war er für sie gefährlicher als der Banker.

„Ich bin ein verdammter Idiot.“ Ohne es zu wollen, hatte er diesen Gedanken laut ausgesprochen. Er verhallte in der unendlichen Weite, die ihn umgab. Die Wüste war geduldig, ein paar Worte konnten ihrer Macht nichts anhaben.

Er seufzte. Die letzten Tage hatten eines deutlich gezeigt: Er war bei Weitem nicht so stark, wie er geglaubt hatte. Der Banker hatte ihm wiederholt die Grenzen seiner Macht aufgezeigt. Und jetzt musste er feststellen, dass Halders schwarze Magie weitaus gefährlicher war, als er geglaubt hatte. Er hatte jede Faser seiner Kraft gebraucht, um ihr Herr zu werden. Fast hätte er versagt.

Die Sonnenstrahlen bohrten sich in seinen Körper, begannen ihre reinigende Arbeit. Mit ihnen kam der Schmerz. Ein müdes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hätte es wissen müssen, alles, was mit Torsten Halder zusammenhing, war schmerzhaft.


Sariel stand in der Mitte des Raumes. Sie war wütender als jemals zuvor in ihrem Leben. Wie konnte er es wagen zu verschwinden? Und sie hier, hoch oben in den Bergen, zurückzulassen.

Mit einem Aufschrei ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Schleuderte die Energie in alle Richtungen. Wie ein Wirbelsturm rasten die Kräfte, die sie entfesselte, durch den Raum. Ein Tisch flog durch die Luft. Eine Couch krachte gegen die Glasfront. Bilder wurden von den Wänden gerissen.

Die Elemente tobten, von ihrem Willen entfesselt. Nie zuvor hatte sie sich so lebendig gefühlt. So machtvoll.

Das triumphale Gefühl sollte nicht lange andauern.

Ein Spiegel, einer der letzten Gegenstände, die ihrer Kraft widerstanden hatten, reflektierte sie.

Der Orkan, der eben noch in ihren Ohren geheult hatte, verstummte. Die Stille war beängstigend. Noch schlimmer aber war die Kreatur, die sie in dem Spiegel erblickte.

Das war kein Mensch, sondern ein Wesen, das aus Feuer bestand.

Wer war sie?


Es dauerte lange, bis er sie entdeckte. Sie kauerte in der hintersten Ecke ihres Zimmers, mit den Armen hielt sie ihre Knie fest umschlungen. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, denn die Flut ihrer Haare ergoss sich über ihren Körper, aber ihre Haltung war ein deutlicher Ausdruck ihrer Verzweiflung.

„Was ist passiert?“ Seine Stimme klang rau, als er diese Worte flüsterte. Angst jagte einen Schauer über seinen Rücken. Hatte es Halder trotz der starken Schutzzauber, die diesen Ort umgaben, geschafft, zu ihr vorzudringen. Hatte er …?

„Nichts. Nichts ist geschehen.“ Ihr Blick war leer. Die Worte mechanisch. Ganz so, als sei es ihr egal, ob sie glaubwürdig waren oder nicht.

Er setzte sich neben sie. Wollte ihr etwas von seiner Körperwärme abgeben, um sie aus der Erstarrung zu lösen, aber sie bemerkte ihn nicht. Ihre Augen blickten starr geradeaus.

„Was bin ich?“ Sie sprach, ohne ihn anzusehen, fixierte die Berggipfel, als könne sie dort die Antwort finden. Erst als er nicht antwortete, sah sie ihn an.

„Du weißt es. Nicht wahr?“

Alexander war sich nicht sicher, was er auf diese Frage antworten sollte. Natürlich wusste er, was sie war. Aber war es ratsam, ihr die Wahrheit zu sagen? Sariel sah aus wie ein hauchdünnes, zartes Porzellangefäß, dessen vollkommene Oberfläche bereits einen Sprung hatte. Wenn er das Falsche sagte, würde er das Gefäß zerstören.

„Sag mir die Wahrheit, Alexander.“ Als er noch immer schwieg, lachte sie. Es war kein fröhlicher Laut. „Du bist wie mein Onkel. Auch er erzählt nur Dinge, die ich seiner Meinung nach wissen darf.“

Mit einem Ruck hob er den Kopf. „Ich bin in nichts deinem Onkel ähnlich.“

„Sieht aus, als hätte ich einen wunden Punkt getroffen.“ Der Sarkasmus verriet mehr über ihren Gemütszustand, als sie dachte. Vielleicht war sie stärker, als er zunächst angenommen hatte. Außerdem hatte sie ein Recht, die Wahrheit zu erfahren, zumindest was die Frage ihrer Herkunft anbelangte.

„Du bist ein Halbdämon. Das Kind einer Dämonin und eines Menschen.“

„Eine Halbdämonin?“ Sie lachte wieder. Dieses Mal aber bewegte sich das Lachen auf dem schmalen Grat zwischen Hysterie und Wahnsinn. „Es gibt keine Dämonen. Was bedeutet, dass es mich nicht gibt.“

„Sieh mich an, Sariel. Ich bin ein Dämon, ein Ifrit.“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Nummer also. Als Nächstes soll ich glauben, mein Onkel sei ein Vampir … und ach, ja, Werwölfe gibt es auch. Nicht wahr?“

„Du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Warum also versuchst du, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen?“

Dieses Mal war sie diejenige, die schwieg. Als sie sprach, war ihr Blick zum ersten Mal seit diesem seltsamen Zusammentreffen wieder klar. „Meine Mutter konnte das auch. Sich in Rauch auflösen. So wie du. Ich hatte es vergessen. Ich war noch ein Kind, als sie es das letzte Mal tat. Als ich anfing, darüber zu reden, hörte sie damit auf und behauptete ich hätte mich geirrt, wenn ich sie darauf ansprach. Warum hat sie mir nie gesagt, was ich bin?“

„Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich könnte dir diese Frage beantworten, aber ich kann nicht.“

„Kanntest du sie?“

„Nein. Aber das ist nicht ungewöhnlich. Dämonen leben in der Welt der Menschen meist allein, an entlegenen Orten.“ Mit einer Geste wies er auf die Fensterfront vor ihnen.

„Ifrit.“ Sie sprach das Wort, als wolle sie seinen Geschmack testen.

„Ich kann dir von uns, von unserer Art erzählen, wenn du möchtest“, bot er an.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich muss … ich muss darüber nachdenken.“

Die Tajine war fast fertig, als sie die Küche betrat. Seit ihrem Gespräch waren mehrere Stunden vergangen. In dieser Zeit war kein Laut aus ihrem Zimmer gedrungen. Er hatte sich Sorgen gemacht. Sariel hatte viel durchmachen müssen in den letzten Tagen. Er wünschte, er hätte ihr die Erkenntnis, dass sie eine Halbdämonin war, ersparen können. Aber nach der Verwüstung, die sie in seinem Wohnzimmer angerichtet hatte, war das unmöglich. Gegen seinen Willen musste er lächeln. Der Raum sah aus, als ob ein Tornado hindurchgefegt war. Sariel Halder hatte offensichtlich das erregbare Temperament der Ifrit geerbt. Er fragte sich, welche Charaktereigenschaften ihre Mutter ihr noch mitgegeben hatte.

„Das riecht gut.“ Sariel trat an seine Seite und betrachtete die Tajine, die auf einer Tonschale stand, in der die Holzkohle bereits zu einer weißlichen Glut heruntergebrannt war. „Was ist das?“

„Das ist eine Tajine, ein marokkanisches Tongefäß. In Marokko wird es fast täglich benutzt, um Speisen zuzubereiten. Ich mag diese Art des Essens, denn es ist sehr würzig, ohne allzu scharf zu sein.“