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Die Schlucht

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Zweites Kapitel

Erst vor einem Jahre hatte Raiski die Bekanntschaft von Sophie Nikolajewna gemacht, einer jungen Witwe von fünfundzwanzig Jahren, die in erster, nur kurzer Ehe mit dem Diplomaten Bjelowodow verheiratet gewesen war.

Sie stammte aus dem reichen alten Hause der Pachotins. Ihre Mutter hatte sie schon vor der Verheiratung verloren; ihr Vater, der als Ehemann ganz unter dem Pantoffel seiner Frau gestanden hatte, war nach Wiedererlangung seiner Freiheit plötzlich dahintergekommen, daß er viel zu früh ins Ehejoch gespannt worden sei und daher nie Gelegenheit gehabt habe, das Leben so recht aus dem Vollen zu genießen.

Er führte das Leben eines Hagestolzes und mutete sich Dinge zu, die über seine Kräfte und sein Alter weit hinausgingen, und während andere auf seine Kosten schmausten und zechten, saß er mit krankem Magen dabei und sah zu. Das hatte seinem Vermögen den Todesstoß versetzt. Als Ersatz für die Genußfähigkeit, die ihm abging, hatte sich bei ihm der greisenhafte Ehrgeiz eingestellt, als Leichtfuß und Lebemann zu gelten, und für die Treue, die er in der Ehe notgedrungen hatte halten müssen, suchte er sich nun durch allerhand verrückte Liaisons schadlos zu halten, die in kurzer Zeit seine Barmittel, die Brillanten seiner Frau und schließlich auch einen großen Teil der Mitgift seiner Tochter verschlangen. Auf seinen Landbesitz, der schon vor seiner Ehe arg verschuldet gewesen war, mußte er nun neue schwere Lasten aufnehmen.

Als seine Quellen so nach und nach versiegt waren, mußte er sich damit begnügen, nur ab und zu, vielleicht ein- oder zweimal im Jahre, eine kostspielige Dummheit zu begehen, irgendeiner Armance einen Brillantschmuck, eine Equipage oder ein teures Service zu kaufen, ihr drei Wochen lang den Hof zu machen, sie ins Theater zu führen und ihr zu Ehren Soupers zu geben, zu denen er die junge Lebewelt einlud. Dann verhielt er sich eine ganze Weile still, bis ihm wieder neue Geldmittel zuflossen.

Nikolaj Wassiliewitsch Pachotin war ein sehr stattlicher alter Herr von recht würdevollem Aussehen, mit ehrwürdigem weichem Silberhaar. Sein Äußeres erinnerte lebhaft an den englischen Minister Palmerston.

Ganz besonders stattlich nahm er sich aus, wenn er mit seiner Tochter Sophie Nikolajewna am Arme stolz und feierlich in den Ballsaal trat oder sich auf der Promenade mit ihr zeigte. Wer ihn nicht kannte, machte ihm ehrfurchtsvoll Platz, während die Bekannten sogleich, wenn sie seiner ansichtig wurden, ein vielsagendes Lächeln aufsteckten, ihm unter familiären Scherzen die Hand schüttelten, ihn aufforderten, doch wieder einmal ein lustiges Diner zu veranstalten, und ihm irgendeine lustige Geschichte ins Ohr flüsterten. . . .

Der Alte scherzte, erzählte selbst nach links und nach rechts hin Anekdoten, machte seine Witze und liebte es namentlich, mit seinen Altersgenossen Erinnerungen aus der längst entschwundenen Jugendzeit auszutauschen. Voll Begeisterung sprachen sie davon, wie damals Graf Boris oder Denis ganze Haufen Goldes im Kartenspiel verloren habe; mit aufrichtigem Bedauern konstatierten sie, daß sie selbst nur so wenig vergeuden dürften und überhaupt ein so klägliches Leben führten, und mit überlegener Miene unterwiesen sie die aufmerksam lauschende Jugend in der großen Kunst zu leben.

Mit besonderer Vorliebe aber schwelgte Pachotin in seinen Pariser Erinnerungen, als im Jahre Vierzehn die Russen als großmütige Sieger in der Seinestadt eingezogen waren und durch ihr chevalereskes Wesen nicht nur die seit der Revolution in dieser Hinsicht stark entarteten Franzosen übertroffen, sondern durch ihre sinnlose Verschwendung sogar die großzügige Freigebigkeit der Engländer überboten hätten.

Scherzend und lachend schritt der Alte durchs Leben und hielt sich nur an seine heiteren Seiten. Er behielt selbst bei einem Trauerspiel im Theater seine lächelnde Miene, war entzückt von den kleinen Füßchen der tragischen Heldin und lorgnettierte ungeniert ihren Halsausschnitt.

Trat dagegen etwas Ernstes an ihn heran, das nichts mit seinen Diners und zarten Abenteuern zu tun hatte, sondern an die Nerven ging und Aufregungen mit sich brachte, tauchten wichtige Fragen vor ihm auf, die an seinen Verstand oder seinen Willen appellierten, dann verfiel er in Zweifel und Unsicherheit, schwieg ängstlich und nagte hilflos an seinen Lippen.

Er hatte von Haus aus einen lebhaften, leicht auffassenden Sinn und eine gute Beobachtungsgabe, ja sogar einen gewissen geistigen Schwung. Mit sechzehn Jahren war er in die Garde eingetreten und hatte vortrefflich Französisch sprechen, schreiben und singen gelernt, vom russischen Schrifttum aber hatte er kaum eine Ahnung. Er hatte eine prächtige Wohnung nebst Equipage und Pferden und verfügte über ein Einkommen von zwanzigtausend Rubeln. Niemand trug sich eleganter als er, und noch jetzt, auf seine alten Tage, galt sein Geschmack in Modefragen als tonangebend. Alles saß an ihm wie angegossen; sein Gang war elastisch und vornehm, seine Sprechweise sicher, niemals ließ er sich hinreißen. Seine Urteile standen nicht selten mit der Logik auf dem Kriegsfuße, doch war er dafür ein recht gewiegter Sophist. Man durfte wohl anderer Meinung sein als er, eine Niederlage aber gab er nie zu. Die Welt, in der er lebte, sein ganzer Erfahrungs- und Betätigungskreis gab seinem Leben keinen eigentlichen Inhalt, und so fürchtete er denn alles, was nach Ernst aussah, wie das Feuer. Eben dieser Erfahrungskreis aber, dieser stetige Verkehr mit vielen Menschen, diese zahlreichen und mannigfaltigen Bekanntschaften hatten in ihm eine gewisse liebenswürdige kleine Intelligenz ausgebildet, und wer ihn nicht kannte, war leicht geneigt, sich auf seinen Rat und sein Urteil zu verlassen, um dann nachträglich, durch den Schaden klug gemacht, zu erkennen, mit wem er es im Grunde genommen zu tun hatte.

Er war noch nicht ganz in den bei seinem müßigen Leben und seinen Mitteln nicht ungefährlichen Strudel des Residenztreibens hineingeraten, als man ihn, den Fünfundzwanzigjährigen, mit einem hübschen Mädchen aus altem Hause verheiratete. Sie war eine kalte, despotische Natur und hatte es sogleich heraus, daß er der Schwächere war; es blieb ihm nichts weiter übrig, als nach ihrer Pfeife zu tanzen.

Augenblicklich war Nikolaj Wassiljewitsch Pachotin Mitglied irgendeines offiziellen Komitees, wohnte allwöchentlich einer Sitzung bei, hatte einen hohen Rang und zwei Sterne und erwartete mit Ungeduld den dritten Stern. Das war die Stellung, die er in Staat und Gesellschaft innehatte.

Außer dem dritten Stern hatte er noch einen anderen sehnsüchtigen Wunsch: eine Reise ins Ausland – das heißt nach Paris zu machen – diesmal nicht mit den Waffen, sondern mit dem gefüllten Geldbeutel in der Hand, und sich dort einmal gründlich, nach dem Rezept der alten Zeit, auszuleben.

Mit Entzücken, und zugleich mit einem Gefühl des Neides, rief er sich allerhand Anekdoten aus den Tagen vor der Revolution ins Gedächtnis zurück, so die Geschichte von dem berühmten Taugenichts, der in einem Porzellanladen eine Tasse zerschlug und als Antwort auf die Vorwürfe des Ladeninhabers den ganzen Porzellanvorrat des Mannes in einen Scherbenhaufen verwandelte, natürlich nicht, ohne ihm alles auf Heller und Pfennig zu bezahlen; dann die Geschichte von dem Leichtfuß, der dem König eine herrliche Villa abkaufte, um sie einer Tänzerin zu schenken, und ähnliche kecke Historien, die er gern erzählte und jedesmal mit einem Seufzer des Bedauerns darüber schloß, daß die alte Zeit unwiederbringlich vorüber sei.

Kurz nach dem Tode seiner Frau hatte er um seine Versetzung nach Paris gebeten, aber seine lockeren Sitten und törichten Streiche waren bereits so weit ruchbar geworden, daß ihm auf sein Gesuch ganz kurz geantwortet wurde, es liege kein Grund zu einer Versetzung vor. Er kaute an seinen Lippen, ging ein Weilchen melancholisch umher, beging dann irgendeine kostspielige Verrücktheit und beruhigte sich wieder. Die Sehnsucht nach Paris war ihm seither, zumal sein Vermögen inzwischen arg gelitten hatte, so gut wie ganz vergangen.

Neben der Sorge um die Erlangung des dritten Sterns nahm noch ein weiteres Problem ihn sehr lebhaft und andauernd in Anspruch: wie er nämlich seinen beiden älteren Schwestern, den Tanten Sophies, die als alte Jungfern lebten, das zur Bestreitung seiner Torheiten nötige Geld aus der Tasche locken könnte. Seine ganze Findigkeit und Energie wandte er der befriedigenden Lösung dieses Problems zu.

Nadjeschda Wassiljewna und Anna Wassiljewna Pachotin waren zwar geizig und hatten für die Person ihres Bruders nicht das geringste übrig, doch schätzten sie den Namen, den er trug, den guten Ruf des Hauses und die Überlieferungen ihres alten Geschlechts ungemein hoch und zahlten ihm außer einem ein für allemal festgesetzten Taschengeld von fünftausend Rubeln in einzelnen Beträgen noch jährlich Subsidien in etwa gleicher Höhe. Am Jahresschluß hatten sie dann noch jedesmal fast ebensoviel zu bezahlen, um die Rechnungen der Schneider, Möbelhändler und sonstigen Geschäftsleute aus der Welt zu schaffen, was natürlich unter heftigen Vorwürfen und Ermahnungen, ja fast unter Tränen vor sich ging.

Sie wußten, welchen Gebrauch er von dem Gelde machte, doch urteilten sie in dieser Beziehung nicht gar zu streng – erinnerten sie sich doch der lockeren Gewohnheiten der Lebemänner ihrer Zeit, die sie als etwas ganz Selbstverständliches hinnahmen. Als sittsame Damen hielten sie sich jedoch stets die Ohren zu, wenn er vor ihnen mit seinen törichten Streichen prahlen, oder wenn ein Dritter ihnen davon erzählen wollte.

Er war in ihren Augen ein hohler, zu nichts mehr brauchbarer, abgelebter Greis und ein schlechter Vater, aber er war doch eben ein Pachotin, ein Sprößling dieses alten Geschlechts, dessen Anfänge sich weit in der grauen Vorzeit verloren, dessen Ahnenbilder einen ganzen Saal einnahmen, dessen Stammbaum kaum auf einem großen Tische Platz fand, und das eine ganze Reihe von hervorragenden Männern aufzuweisen hatte.

 

Sie waren stolz auf alles das, und sie verziehen dem Bruder alles, einzig darum, weil er ein Pachotin war.

Sie selbst hatten einst in der großen Welt eine glänzende Rolle gespielt und waren aus Gründen, die außer ihnen kein Mensch mehr im Gedächtnis hatte, unvermählt geblieben. Sie lebten still für sich in dem alten Hause, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatten, gemeinsam mit der Familie des verheirateten Bruders, und verwandten all ihre Sorgfalt und Aufmerksamkeit auf die Erziehung Sophies, der einzigen Tochter Pachotins. Die Verheiratung der letzteren hatte in ihrem Leben eine Störung hervorgerufen, aber Sophie war bald Witwe geworden, auch ihre Mutter war bereits tot, und so hatte sie sich von neuem unter die fast klösterliche Obhut und Autorität ihrer Tanten begeben.

Die beiden alten Damen waren von hohem Wuchse, ganz ergraut und machten in ihrem Äußeren den Eindruck peinlichster Sauberkeit; sie trugen im Hause schwere dunkle Seidenkleider, große Hauben und viele Ringe an den Händen.

Nadjeschda Wassiljewna litt an neuralgischem Gesichtsschmerz, sie trug unter der Haube ein Samtkäppchen und um die Schultern einen hermelingefütterten Samtkragen, während Anna Wassiljewna Locken aus Rohseide und einen großen Schal trug. Beide gingen nie ohne Ridikül, und Nadjeschda Wassiljewna bediente sich außerdem einer goldenen Schnupftabakdose; eine Anzahl Taschentücher waren stets um sie herum. Außerdem besaß sie einen Mops, ein altes, ewig verschlafenes, heiseres Tier, das vor lauter Altersschwäche keinen der Hausgenossen außer seiner Herrin erkannte.

Das Haus der Pachotins war ein altes, langgestrecktes, zwei Stockwerke hohes Gebäude, mit dem Wappen der Familie an der Frontseite, mit dicken, massiven Mauern, tiefen, kleinen Fenstern und hohen Pfeilern. Eine endlose Reihe von Zimmern, die alle mit Damast ausgeschlagen waren, zog sich im Hause hin; schwere, reich geschnitzte dunkle Schränke, mit kostbarem Porzellan und Silber angefüllt, standen gleich Sarkophagen an den Wänden, mit schweren Diwans und Stühlen im Rokokostil abwechselnd, alles reich, aber nüchtern, ohne Komfort. Der Schweizer sah aus wie der Meergott Neptun; die Diener waren alt und schweigsam, die Dienerinnen trugen dunkle Kleider und Hauben. Die Kutsche war hoch und mit seidenen Fransen besetzt; die Pferde waren alt, doch von guter Rasse, mir langen Hälsen und Rücken, mit Lippen, die vom Alter weiß geworden waren, und Köpfen, die während der Fahrt bedächtig auf und nieder gingen. Sophies Zimmer hatte ein etwas lichteres Aussehen, namentlich wenn die Bewohnerin selbst anwesend war: es gab darin Blumen und Noten und eine ganze Menge moderner Nippsachen. Noch ein wenig mehr Ungezwungenheit, Unordnung, Licht und Geräusch, und es wäre ein ganz behagliches kleines Nestchen gewesen, wie geschaffen zum Schwärmen und Träumen, zu neckischem Spiel und selbst zum Lieben.

Aber die Blumen steckten in altertümlichen, schweren Vasen, die wie Graburnen aussahen, und ein massiver alter Silberaufsatz erhöhte noch den antiken Anstrich des Raumes. Den Damen war jede Unordnung in den Tod verhaßt: waren die Blumen in der Vase etwas auseinander geraten, dann kam Anna Wassiljewna, klingelte das Stubenmädchen in der Haube herbei und befahl, die Blumen symmetrisch zu ordnen.

Lag einmal eins der reichgebundenen Bücher auf dem Diwan oder auf einem der Stühle herum, dann stellte Nadjeschda Wassiljewna es sogleich ins Fach; fiel ein gar zu heller Sonnenstrahl ins Zimmer, und spielte er da lustig in dem Kristallglas, dem Spiegel oder dem Silberzeug, dann fand Anna Wassiljewna, daß die Augen sie davon schmerzten, und wies nur mit dem Finger nach der Portiere hin, worauf der Diener rasch zusprang und der schwere, steife Seidenvorhang glatt niederrollte, um dem losen Lichtstrahl den Weg zu versperren.

Dafür herrschte im unteren Stockwerk, bei Nikolaj Wassiljewitsch, die größte Unordnung. Die alten Traditionen waren hier mit modernem Komfort ganz durcheinander gemischt. Neben den schweren Barockmöbeln stand eine leichte Causeuse von Gambs, der gotische Kamin war durch einen Ofenschirm mit lustigen französischen Genrebildern verdeckt, auf dem Tische fand der Morgen häufig noch Überreste vom Nachtmahl vor, auf dem Diwan lag zuweilen ein Frauenhandschuh oder eine elegante Stiefelette umher, und im Toilettezimmer war ein ganzes Magazin von kosmetischen Mitteln etabliert. So still und ruhig es oben war, so laut erklang unten häufig das Sprechen und Lachen, immer ging es dort lebhaft und liederlich zu. Der Kammerdiener Pachotins war ein Franzose mit einschmeichelnder Redeweise und frechem Blick.

Drittes Kapitel

Raiski und Ajanow mußten eine ganze Reihe von Zimmern passieren, bevor sie endlich in die eigentliche Wohnung, das heißt in die von den beiden Alten und Sophie Nikolajewna bewohnten Räume gelangten.

Als sie in das Gastzimmer kamen, ließ der Mops ein heiseres Knurren vernehmen, brachte es jedoch nicht zu einem eigentlichen Bellen und legte sich, nachdem er sich einmal im Kreise herumgedreht hatte, wieder hin.

Anna Wassiljewna nickte ihnen zu, und Nadjeschda Wassiljewna erwiderte ihre Verbeugung mit einem freundlichen Blick, schneuzte sich dann mit Genugtuung und nahm sogleich eine Prise – sie wußte, daß sie nun bestimmt ihre Partie haben würde.

»Ma cousine!« sagte Raiski, während er der Nichte die Hand reichte.

Sophie Nikolajewna verneigte sich lächelnd und reichte ihm die Hand.

»Klingle doch, Sophie, man soll servieren,« sagte die ältere Tante, als die Gäste am Tische Platz genommen hatten. Sophie erhob sich von ihrem Platze, aber Raiski kam ihr rasch zuvor und zog die Klingelschnur.

»Sag’ Nikolaij Wassiljewitsch, daß wir uns zu Tisch setzen,« wandte sich die alte Dame mit kühler Würde an den Diener. »Und nun soll endlich aufgetragen werden! Du hast dich heut verspätet, Boris: es ist bereits ein Viertel nach fünf!« sagte sie in vorwurfsvollem Tone zu Raiski.

Er stand zu den beiden Alten im verwandtschaftlichen Verhältnis eines Neffen zweiten Grades und war somit ein weitläufiger Vetter von Sophie. Seine Familie, die gleichfalls von alter Herkunft war und dereinst sich großer Wohlhabenheit erfreut hatte, war zu dem Hause der Pachotins mehrfach durch Heiraten in Beziehung getreten. Seine persönliche Bekanntschaft mit diesen Verwandten war jedoch nicht älter als ein Jahr.

Die Schuld daran trug er ganz allein. Die alten Damen hatten, als sie seinen Namen hörten, sich sogleich danach erkundigt, ob er etwa von jenen Raiskis abstamme, die dann und dann dort und dort gelebt hätten. Er wußte davon, daß sie Erkundigungen eingezogen hatten, zog es jedoch vor, ihr Interesse für ihn unbeachtet zu lassen, da es ihm wenig verlockend schien, die Bekanntschaft dieser langweiligen und steifen, wenn auch reichen Herrschaften zu machen.

Er selbst war weder langweilig und steif noch auch reich. Seinem Stammbaum legte er durchaus keinen Wert bei, und über das Alter seines Geschlechts nachzudenken, lag ihm gänzlich fern.

Er war bereits in seiner Kindheit verwaist und unter der Obhut eines gleichgültigen, unverheirateten Vormunds aufgewachsen, der ihn zunächst einer Verwandten, einer Großtante Raiskis, zur Erziehung übergeben hatte. Sie war eine Frau von vortrefflichem Herzen, die aber über ihren Winkel nicht hinaussah und ganz in den häuslichen und wirtschaftlichen Sorgen aufging. In stiller Abgeschiedenheit, von Gärten und Wäldern umgeben, hatte Raiski die ersten Jugendjahre unter ihrer Aufsicht zugebracht, und als er größer ward, brachte ihn der Vormund auf ein Gymnasium, wo alle Erinnerungen an den ehemaligen Reichtum der Familie und die verwandtschaftliche Beziehung zu den übrigen vornehmen Geschlechtern des Landes rasch aus dem Gedächtnis des Knaben schwanden.

Die weitere Entwicklung Raiskis, seine Beschäftigung wie seine ganze Geistesrichtung waren vollends dazu angetan, ihn der alten Zeit mit ihren Überlieferungen zu entfremden.

Er hatte es also, wie gesagt, keineswegs eilig gehabt, seinen Petersburger Verwandten, die von seiner Existenz unterrichtet waren, näherzutreten.

An einem Winterabend jedoch hatte Raiski Sophie auf einem Balle gesehen und zweimal mit ihr gesprochen, und fortan war er eifrig bemüht, die nähere Bekanntschaft ihrer Familie zu machen. Am leichtesten war dies durch die Vermittlung ihres Vaters zu bewerkstelligen, und diesen Weg schlug er denn auch tatsächlich ein.

Er war mit einer hübschen Schauspielerin bekannt und wußte sich auf einer ihrer Abendgesellschaften geschickt an den Alten heranzumachen. Er schenkte ihm ein Porträt dieser Schauspielerin, das er selbst gemalt hatte, kam bei dieser Gelegenheit auf seine Familie und die verwandtschaftlichen Beziehungen zu sprechen und hatte bald die Genugtuung, den beiden Alten und der Tochter vorgestellt zu werden.

Er wußte die beiden Schwestern ganz zu bezaubern, indem er bald der schüchterne junge Mann war, der bescheiden auf die überlegene Weisheit des Alters lauschte, bald den lebhaften, munteren Gesellschafter spielte. Es dauerte nicht lange, so duzten sie ihn und redeten ihn als »mon neveu« an, wohingegen er Sophie Nikolajewna seine Cousine nennen durfte, im Hause auf vertraulichem Fuße verkehrte und gewisse Rechte genoß, wie sie ein Fremder nicht in hundert Jahren sich erworben hätte.

Er war jedoch damit noch nicht zufrieden, daß er zweimal täglich im Hause vorsprechen, ihnen Bücher und Noten bringen und uneingeladen zum Mittagessen kommen durfte. Er war an die freieren Sitten der neuen Zeit und den ungezwungenen Verkehr mit Frauen gewöhnt – Sophie aber war nur selten mit ihm allein, stets war die eine oder andere der beiden Tanten anwesend, und die Unterhaltung ging kaum jemals über das Gebiet des Alltäglichen und die Erinnerungen der Familie hinaus.

Wandte sich das Gespräch wirklich einmal einer bedeutsamen, tiefer ins Leben eingreifenden Frage zu, so drückten ihm die beiden Alten sogleich mit feierlicher Miene das Siegel ihrer Autorität auf.

Inzwischen empfand Raiski den lebhaftesten Wunsch, dahinter zu kommen, wes Geistes Kind eigentlich diese Sophie Nikolajewna Bjelowodowa war. Für die Gesellschaft war sie die schöne Frau von guter Erziehung, feinem Ton und vornehmem Hause, aber nicht darauf kam es ihm an. Er wollte vielmehr das Weib in ihr kennenlernen, wollte ergründen und feststellen, was sich unter dieser ruhigen, unbeweglichen Hülle der Schönheit verbarg, die immer gleichmäßig strahlte, nie auf etwas einen jähen, flammenden oder auch nur müden, gelangweilten Blick warf und sich nie ein ungeduldiges, unvorsichtiges oder heftiges Wort entschlüpfen ließ.

Schön aber war sie in der Tat. Es machte nichts aus, daß sie eine Witwe, eine Frau war; auf ihrer offenen, milchweißen Stirn und den edlen, ein wenig starken Zügen des Gesichtes lag eine jungfräuliche, fast kindliche Unbekanntschaft mit dem Leben.

Es schien, als habe sie noch nichts davon gehört, daß es Leidenschaften und Kummer in der Welt gibt und ein wildes Spiel der Geschehnisse und Gefühle, das den kindlichen Glanz von den Gesichtern verwischt und den Menschen Flüche auf die Lippen legt.

Eine gleichförmige, matte Glut lag in den großen, graublauen Augen. Zuweilen schien es wie ein Gefühl darin aufzuflackern – man konnte nicht sagen, daß sie eine herzlose Frau sei. Es war aber nur ein Gefühl unbestimmten Wohlwollens gegen alles in der Welt – wie es aus den Augen satter, sorgloser Leute strahlt, denen es an nichts mangelt, die keine Not und keinen Kummer kennen. Sie hatte dunkles, fast schwarzes Haar, und die dichten schweren Flechten im Nacken vermochten die Nadeln kaum festzuhalten. Schultern und Brust waren von üppiger Fülle.

Die Farbe des Gesichts, der Schultern, der Hände war frisch und rein, von blühender, durch Krankheit oder Entbehrungen nicht beeinträchtigter Gesundheit. Die Art, wie sie sich trug, machte bei aller Einfachheit einen vornehmen Eindruck. Der Stoff ihrer Kleider war von besonderer Art, und ihre Schuhe waren ganz anders, als man sie sonst trug.

Wie ein herrliches Gemälde, eine schöne Vision war sie an jenem ersten Ballabend Raiski erschienen. Das zweitemal hatte er sie nur von weitem im Theater gesehen, das drittemal wieder bei einem Balle, dann auf der Straße – und jedesmal war das Gemälde in seinem Glanz und seinen Farben sich selbst gleichgeblieben. Vergeblich hatte er sich bemüht, mit eindringlichem Blick in ihren Gedanken, ihrer Seele zu lesen und zu ergründen, was sich eigentlich unter der schönen Hülle verbarg: er hatte nichts herausgelesen außer dieser unergründlich tiefen Ruhe. Immer noch erschien sie ihm wie ein Gemälde oder eine schöne Museumsstatue.

Man fand allgemein, sie sei das Muster einer vornehm erzogenen Aristokratin, einer Dame comme il faut, und man bedauerte, daß sie noch nicht wieder vermählt war, erwartete jedoch mit Bestimmtheit, daß über kurz oder lang Gott Hymen ihr wieder seine Fesseln anlegen würde.

 

Im engeren Kreise der Familie, der Tanten, Onkel und sonstigen älteren Verwandten suchte man eifrig in diesem oder jenem Kavalier, der sich ihr näherte, ihren zukünftigen Gatten zu erraten: bald erschien irgendein Gesandter auffallend häufig im Hause, bald ein General, der sich irgendwo besonders ausgezeichnet hatte; und einmal war sogar allen Ernstes von einem älteren Herrn aus königlichem Geblüt – einem Ausländer – die Rede. Sie schwieg zu allem und schaute sorglos drein, als ob es sich gar nicht um ihre Person handelte.

Die anderen fanden dieses Verhalten ganz natürlich, ja sogar sehr »sublim«. Nur Raiski suchte – Gott weiß, aus welchem Grunde – sie aus dieser Reserve herauszulocken und wollte um jeden Preis das Geheimnis ihres Wesens ergründen.

Sie verfolgte seine Anstrengungen mit einem freundlichen Lächeln. Nicht eine Miene ihres Gesichts verriet einen lebhafteren Wunsch, eine Aufwallung, eine tiefere Regung. Vergeblich forschte er, wenn er mit ihr im Theater saß, zu ihrem Gesichte, ob vielleicht ein leidenschaftlicher Schrei oder sonst ein starker Vorgang auf der Bühne sie lebhafter bewegte. Sie verfolgte den Gang der Handlung ohne jede Spur jenes naiven Mitgefühls, jener Spannung, die das übrige Publikum gefesselt hielt. Und auch eine komische Szene, eine lustige Karikatur auf das Leben, die sonst ein allgemeines Lachen beim Publikum hervorrief, entlockte ihr nur ein leichtes Lächeln, das höchstens ein flüchtiger Blick des Einverständnisses zu ihrer Logennachbarin hinüber begleitete.

Und dabei war sie verheiratet! dachte Raiski und konnte sich nicht genug wundern.

Bald nachdem er die Bekanntschaft der Pachotins gemacht hatte, führte er seinen Kollegen Ajanow im Hause ein – er sollte den Tanten zweimal in der Woche eine Kartenpartie arrangieren. Er selbst benutzte die Gelegenheit, sich an diesen Spielabenden nach Möglichkeit der Cousine zu nähern und machte – weshalb und warum, wußte er selbst nicht zu sagen – alle nur erdenklichen Anstrengungen, Schritt für Schritt in das Wesen dieser seltsam stillen Schönen einzudringen.

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