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Die Schlucht

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Dreizehntes Kapitel

Raiski saß wohl eine Stunde lang wie vernichtet oben am Rande der Schlucht im Grase, das Kinn auf die Knie gestützt und die Stirn mit den Händen bedeckend. Ein einziges Stöhnen war in seiner Brust. Er büßte seine großherzige Anwandlung mit bitterster Qual, er litt um Wjeras wie um seinetwillen und verfluchte sich selbst, weil er so nachgiebig gewesen.

Diese Ungewißheit, diese zehrende Eifersucht, diese Trauer um entschwundene Hoffnungen – o, wie nagten sie an seinem Herzen! Und auch in Zukunft würde die Leidenschaft nicht aufhören, ihn zu peinigen, würde ihm Tag und Nacht die Ruhe rauben und ihn nicht aufatmen lassen. Der Schlaf mied sein Lager, oder wenn er kam, so kam er wie eine Schildwache, die die Qualen des wachen Zustandes nur mit neuen Qualen ablöste.

Wenn er des Morgens die Augen öffnete, stand das Gespenst der Leidenschaft vor ihm, in Gestalt dieser unerbittlichen, bösen, eisig kalten Wjera. Sie lachte ihn aus, wenn er verlangte, daß sie ihm »den Namen, den Namen« nennen solle – das einzige, was seine Fieberglut kühlen, was sein Leiden zur rettenden Krisis und zur Genesung führen konnte.

»Doch – wo steckt sie nur? Warum kommt sie nicht?« fuhr es ihm plötzlich durch den Sinn, und er schaute um sich.

Er sah auf die Uhr. Sie war gegen neun fortgegangen, und nun war es bald elf! Sie hatte ihm gesagt, er solle warten, sie würde sogleich wieder zurück sein. Es dauerte etwas lange, dieses »sogleich«! . . . »Wo ist sie nur? Was treibt sie?« dachte er voll Unruhe.

Er kletterte bis zu der Bank empor, setzte sich auf diese und lauschte, ob sie nicht endlich komme. Doch kein Laut, kein Geräusch ließ sich vernehmen – bis auf das Rascheln der fallenden dürren Blätter.

»Sie sagte, ich solle hier warten – und nun hat sie mich vergessen! Und ich warte hier, warte!« sagte er sich, stand auf von der Bank, ging ein paar Schritte abwärts und blieb wieder lauschend stehen.

»Mein Gott – bleibt sie denn immer so spät, bis in die Nacht hinein, bei diesen Rendezvous? Wer ist sie eigentlich, was ist sie – diese meine Göttin, diese schöne, stolze Wjera? Sie lacht dort vielleicht mit ihm zusammen über mich . . . Doch wer ist er? Ich will es wissen – wer ist er??« sprach er im Zorne halblaut vor sich hin. »Den Namen, den Namen will ich haben! Ich bin nur das Werkzeug, der aufgestellte Wächter, der gehorsame Diener ihrer Leidenschaft . . . und welcher Leidenschaft?!«

Verzweiflung und Wut bemächtigten sich seiner. Fünf Monate lang hatte sie mit ihm Verstecken gespielt, hatte ihm bald gestattet, sie zu lieben, bald ihn zurückgestoßen und ihm ins Gesicht gelacht . . .

»Warum diese Folter? Ist das der Lohn für meine Zuneigung? Was hat sie aus mir gemacht? Sollte ich nicht, nach all diesen Streichen, die sie mir gespielt, ihr endlich dieses Geheimnis entreißen und den von ihr verschwiegenen Namen der Welt bekanntgeben?«

Er lief rasch den Abhang hinab, blieb vor den Büschen stehen und lauschte. Nichts war zu hören.

»Doch . . . ist es nicht gemein, ihr Geheimnis zu stehlen? Ist es nicht feig und hinterlistig? . . .« sagte er sich und zauderte unwillkürlich, ja er ging sogar ein paar Schritte zurück.

»Stehlen! Was heißt stehlen?« flüsterte er vor sich hin, während er unentschlossen dastand und sich mit dem Taschentuche den Schweiß von der Stirn wischte. »Und morgen beginnt dann wieder das Rätselraten, und die bösen Nixenaugen blicken mich wieder so spöttisch an, und hohnlachend sagte sie mir ins Gesicht: ›Ich liebe Sie!‹ Nein, ich mache der Qual ein Ende – ich will wissen, wer es ist!« entschied er und stürzte sich ins Dickicht.

Wie ein Dieb schlich er dahin, tastete links und rechts, verfluchte das trockene Reisig, das unter seinen Füßen knackte, fühlte nicht, wie die Zweige ihm ins Gesicht schlugen. Aufs Geratewohl kroch er vorwärts, ohne den Ort des Stelldicheins zu kennen. Und so erregt war er, daß er sich auf die Erde niedersetzen mußte, um Atem zu holen.

Gewissensbisse regten sich für einen Augenblick wieder in ihm und hielten ihn auf – doch er kroch weiter auf allen Vieren, mit den Nägeln in dem trockenen Laub und der Erde scharrend . . .

Er kam an dem Grabhügel des Selbstmörders vorüber und wandte sich dann nach dem Pavillon, immer wieder spähend und lauschend, ob er nichts erblicke, nicht eine Stimme vernehme . . .

. . . Inzwischen ging oben in Tatjana Markownas Gemächern alles seinen regelrechten Gang. Das Abendessen war vorüber, und die Gäste saßen im Salon und gähnten schon ab und zu. Tit Nikonytsch floß über vor lauter Höflichkeit, erging sich bald Paulina Karpowna und bald Wikentjews Mutter gegenüber in Komplimenten, machte seine Kratzfüße, versuchte sich in liebenswürdigen kleinen Scherzen und meinte, man müsse den Damen das Leben immer so angenehm wie möglich machen.

»Wo steckt denn eigentlich Mr. Boris?« fragte Paulina Karpowna wohl schon zum fünften Male. Niemand hatte ihr Antwort gegeben, bis sie sich endlich mit ihrer Frage direkt an die Großtante wandte.

»Gott mag es wissen, wo der sich herumtreibt!« versetzte Tatjana Markowna. »Er wird nach der Stadt gegangen sein, irgendwohin zu Besuch. Und dabei hinterläßt er nie, wohin er geht, man weiß gar nicht, wohin man ihm den Wagen schicken soll. Der richtige Nomade!«

Jakow wußte mitzuteilen, daß Boris Pawlowitsch noch spät am Abend im Park »spazieren gegangen seien.«

Von Wjera hieß es, sie habe sagen lassen, daß sie zum Tee nicht erscheinen würde, man möchte ihr jedoch das Abendbrot verwahren, sie würde sagen lassen, wann sie es zu haben wünsche. Niemand außer Raiski hatte sie fortgehen sehen.

»Hör’ mal, Jakow – sag’ doch Marina, sie möchte dem Fräulein den Braten warm machen, wenn sie Abendbrot verlangt. Und das Fruchteis soll sie in den Eisschrank stellen, damit es nicht zerfließt!« befahl die Großtante. »Und du, Jegorka, vergiß nicht, sobald Boris Pawlowitsch kommt, ihm zu sagen, daß das Abendbrot für ihn bereit steht – er ist sonst imstande, hungrig zu Bett zu gehen!«

»Sehr wohl,« sagten die beiden Diener.

»Nachtwandler, richtige Nachtwandler sind das!« murmelte die Großtante ärgerlich und zugleich besorgt vor sich hin.

»Sich um diese Stunde noch herumzutreiben, bei solcher Kälte. . .«

»Ich will einmal in den Garten gehen,« sagte Paulina Karpowna, »vielleicht ist Mr. Boris irgendwo in der Nähe. Er wird sich freuen, mich zu sehen . . . Ich glaube schon das letztemal bemerkt zu haben, daß er mir etwas zu sagen hat . . .« fügte sie geheimnisvoll hinzu. »Er weiß wahrscheinlich nicht, daß ich hier bin . . .«

»Natürlich wußte er’s – darum ist er doch weggegangen,« flüsterte Marsinka Wikentjew ins Ohr.

»Ich habe eine Idee, Marfa Wassiljewna: ich laufe voraus, verstecke mich im Gebüsch und mache ihr mit Boris Pawlowitschs Stimme eine Liebeserklärung! . . .« schlug Wikentjew, gleichfalls im Flüstertone, ihr vor und wollte schon hinauseilen, um seinen Einfall zu verwirklichen.

»Nicht doch!« sagte Marsinka, ihn am Ärmel festhaltend, »Sie werden ihr einen Schreck einjagen, und wenn sie dann in Ohnmacht fällt, setzt es nur Schelte von Tantchen!«

»Ich bringe den Flüchtling zurück – gestatten Sie, ich bin gleich wieder da!« sagte Paulina Karpowna abermals.

»Gehen Sie in Gottes Namen!« sagte Tatjana Markowna. »Aber geben Sie acht, daß Sie sich nicht die Augen ausstechen, es ist draußen so finster! Nehmen Sie lieber Jegorka mit, er wird Ihnen mit der Laterne leuchten.«

»Nein, ich gehe allein, es ist besser, daß wir ungestört bleiben . . .«

»Tun Sie es lieber nicht!« sprach Tit Nikonytsch in höflich warnendem Tone, »an diesen feuchten Abenden sollte man nach acht Uhr überhaupt nicht mehr ins Freie gehen.«

»Ich fürchte mich nicht . . .« sagte die Krizkaja und nahm bereits ihre Mantille um.

»Ich würde mir nicht herausnehmen, Sie zurückzuhalten, aber ein Arzt in Düsseldorf am Rhein . . . ich habe seinen Namen vergessen – ich lese jetzt ein Buch, das er geschrieben hat, und kann es Ihnen leihen . . . der hat da ganz vortreffliche hygienische Vorschriften aufgestellt . . . Er rät ganz entschieden . . .«

Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Paulina Karpowna hatte sich bereits der Tür zugewandt. In aller Eile sagte sie ihm nur noch, er möchte auf sie warten und sie nach Hause bringen.

»Mit dem größten Vergnügen, mit dem größten Vergnügen!« antwortete er und machte hinter ihr her sein Kompliment, während sie bereits zur Tür hinaus nach dem Garten lief.

Vierzehntes Kapitel

Es war nur wenige Minuten nach diesem Gespräch, daß oben am Rande der Schlucht, im tiefen nächtlichen Dunkel, sich das Geräusch von Schritten zwischen den Sträuchern vernehmen ließ. Man hörte wieder das Knacken der Äste und das Rauschen der Zweige, gegen die irgendjemand heftig anstürmte – trockene Blätter fielen raschelnd zu Boden, und es war, als ob ein verwundetes oder jäh aufgeschrecktes Wild in großen, hastigen Sätzen emporstürmte.

Das Geräusch kam näher und näher, und endlich sprang der Dahereilende aus dem Dickicht auf den kleinen freien Platz oben am Rande der Schlucht. Es war Raiski, der aus der Tiefe hervorbrach, in rasendem Ungestüm, ganz außer sich, mit wutverzerrten Zügen. Er warf sich auf die Bank, richtete sich gerade empor und saß wohl zwei Minuten lang unbeweglich da – dann schlug er die Hände zusammen und bedeckte mit ihnen sein Gesicht.

»War es ein Traum – oder war es Wirklichkeit?« flüsterte er wie geistesabwesend.

»Nein, nein – es war eine Täuschung der Sinne, es kann ja nicht sein! Es kam mir nur so vor! . . .«

Er stand auf, setzte sich aber sogleich wieder, als ob er auf etwas lauschte; dann legte er die Hände auf die Knie und brach in lautes, nervöses Lachen aus.

»Nun haben sie ein Ende, all die Zweifel, die Fragen, die Geheimnisse!« sagte er und lachte wieder hell auf, daß er sich förmlich schüttelte. »Das ist sie also – die Göttin, die Edle, Reine! Das Weib mit der schönen Seele! Wjera, die Statue! Und er! . . . Und der Paletot, den ich eigens beim Schneider für den armen Verbannten bestellt habe – der liegt da vor dem Pavillon herum! Und das Geld . . . die dreihundert Rubel . . . die hat er einfach als Wertgewinn eingezogen . . . Die früheren achtzig Rubel hat er in Abzug gebracht, und zweihundertundzwanzig sollte ich ihm schicken . . . macht genau dreihundert! O, die ehrliche Seele . . . Sekleteja Burdalachowa!«

 

Er lachte von neuem laut auf, doch klang es jetzt mehr wie ein Stöhnen. Dann schwieg er plötzlich still und griff mit der Hand nach dem Herzen.

»O, wie das hier schmerzt!« stöhnte er. »Wjera, die Katze . . . Wjera, das schwache, hinfällige Weibchen . . . das in kläglicher Geilheit dem ersten besten stämmigen Rüpel zur Beute wird! . . . Wohl – mag sie tun, was sie will, sie ist ja frei und Herrin über sich selbst; aber wie konnte sie es wagen, jemanden zu verhöhnen, der so unvorsichtig war, eine ehrliche Leidenschaft für sie zu fassen? . . . ihren Freund obendrein, ihren Bruder? . . .« Kochend vor Wut schleuderte er es heraus: »O, Rache, Rache!«

Er sprang auf und stand in schmerzlichem Brüten da.

Doch worin sollte seine Rache bestehen? Sollte er zur Großtante hinlaufen, sie bei der Hand nehmen und hierher führen, mit einer ganzen Menschenschar, mit Laternen, die die Schande beleuchteten? Sollte er ihr zurufen: »Das ist die Schlange, die Sie dreiundzwanzig Jahre lang an Ihrem Busen genährt haben!«?

Er wehrte ab: »Nein, nein, das ging nicht!« und fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn.

»Das wäre eine Gemeinheit, Boris!« sprach er flüsternd zu sich selbst. »Das bringst du nie fertig! Das hieße sich nicht an ihr, dieser Schlange, rächen, sondern an der Großtante, die dir stets eine zweite Mutter gewesen ist.«

Er ließ resigniert den Kopf hängen; dann warf er ihn plötzlich wieder in den Nacken und stürzte in einem Anfall von Raserei nach der Schlucht.

»Dort feiert nun die Leidenschaft der Gosse ihren Sieg – ja, ja! Diese dunkle Nacht birgt den geheimnisvollen Triumphgesang der Liebe!« spottete er mit verächtlichem Lächeln. »Der Liebe!« wiederholte er. »Und Mark ist der Sieger! Dieses Irrlicht, dieser Raufbold, dieser liberale Wirtshausschwätzer! Ach, Schwesterchen – wärst du doch bei dem einen Verehrer, dem hübschen, stämmigen Tuschin geblieben!« flüsterte er giftig. »Der besitzt doch wenigstens Wälder und Felder und Seen, und er kutschiert seine Pferde wie ein Rosselenker in Olympia. Aber dieser Vagabund! . . .«

Der Atem wollte ihm versagen.

»Das sind nun unsere Männer der Tat!« flüsterte er.

»Gegen den Polizeimeister die Faust in der Tasche ballen, den Stubenmädchen und Küstersfrauen die Torheit der Ehe demonstrieren, mit Hilfe von Feuerbachschen Argumenten und unter Vorspiegelung einer unbezwinglichen Leidenschaft für die Ergründung der Naturgesetze sich in das Vertrauen der Weiber einschleichen, um dann solche schwachnervige kleine Räsonneurinnen zu verführen – das ist ihr Programm! . . . O, bleib nur dort auf dem Grunde der Schlucht, du erbärmliches, geiles Weibchen, geh dort zugrunde wie jener arme Selbstmörder! Das ist mein Abschiedsgruß an dich! . . .«

Er wollte nach der Schlucht hin ausspucken – und stand plötzlich wie erstarrt: wider seinen Willen, aller Wut und Verachtung zum Trotz, erhob sich langsam in seiner Vorstellung vom Grunde der Schlucht Wjeras Bild und stand in so bezaubernder Schönheit vor ihm, wie er es nie gesehen.

Ihre Augen glühten in Leidenschaft, so hell wie zwei Sterne. Nichts Böses oder Kaltes lag in ihnen, keine Unruhe, keine Trauer; nichts als Glück sprach aus ihrem hellen Glanze. Ihre Brust, ihre Arme, ihre Schultern, kurz die ganze Gestalt war von vollem Leben und gesunder Kraft durchströmt.

Sie blickte versöhnt auf die ganze Welt. Sie stand auf ihrem Piedestal, doch nicht als bleiche Marmorgestalt, sondern als lebendiges, einen unwiderstehlichen Zauber ausstrahlendes Weib, als poetische Vision, wie sie ihm einstmals vorgeschwebt, als er unter dem frischen Eindrucke von Sofias Schönheit nach Hause ging; zuerst eine kalte, anscheinend leblose Statue, hatte sie sich allmählich in ein lebendes Wesen verwandelt, um das herum plötzlich alles zum Leben erwachte, die Bäume zu grünen und zu blühen und ein warmer, seinsfroher Pulsschlag sich zu regen begann . . .

Und nun stand sie vor ihm, diese lebendige Gestalt – das Weib. Vor seinen Augen vollzog sich das Erwachen Wjeras, die bisher eine Statue gewesen, aus jungfräulichem Schlafe. Es war ihm, als würde seine Brust zugleich von kaltem Eise erfüllt und von heißen Flammen durchlodert; er empfand die schmerzlichsten Qualen und konnte doch die Augen von diesem stolzen Bilde der Schönheit nicht abwenden, das voll Liebe auf die ganze Welt schaute und auch ihm mit freundschaftlichem Lächeln die Hand reichte . . .

»Ich bin glücklich!« hörte er sie flüstern.

Zu ihren Füßen lag Mark, einem Löwen gleichend, der der Ruhe pflegte, mit dem Ausdruck schweigenden Triumphes im Gesicht; ihr Fuß ruhte auf seinem Kopfe . . . Raiski zuckte zusammen, suchte mit Gewalt zur Besinnung zu kommen.

Das Entsetzen über den Fehltritt seiner Schwester, dieser Schönheit, dieser niedergemähten Blume, trieb ihn hinweg – die Eifersucht aber, die Wut und vor allem der Reiz dieser neuen, unwiderstehlichen Schönheit der zum Leben erweckten Wjera zogen ihn wieder zurück nach der Schlucht, zu diesem Siegesfeste der Liebe, dieser hehren Feier, welche die ganze Welt, die ganze Natur mit zu begehen schien. Es war ihm, als höre er Stimmen, als dringe der Gesang und der Flügelschlag von Vögeln an sein Ohr, als vernehme er zärtliches Liebesgeflüster und leidenschaftliche Seufzer, die den ganzen Garten anzufüllen und bis zur Wolga hinüberzutönen schienen . . .

Voll Angst, wie versteinert, stand er da am Rande der Schlucht und vertiefte sich in Gedanken ganz in den Anblick dieser neuen, zum Leben erwachten Wjera, um im nächsten Augenblick wieder von unmenschlichem Schmerz ergriffen zu werden und erbleichend zu flüstern: »Rache, Rache!« Ringsum aber, und dort in der Tiefe, war es still und dunkel. Da plötzlich sah er zehn Schritte weit entfernt die Silhouette einer menschlichen Gestalt, die sich vom Hause her ihm näherte. Er blickte voll Überraschung hin.

»Wer ist da?« fragte er grimmig.

»Ich bin es . . . ich . . .«

»Wer denn?« wiederholte er noch grimmiger.

»Ich bin es, Mr. Boris . . . Paulina . . .«

»Sie!? Was wollen Sie hier?«

»Ich bin gekommen . . . ich weiß . . . ich sehe . . . Sie haben schon lange etwas auf dem Herzen, das Sie mir sagen wollen . . .« flüsterte Paulina Karpowna geheimnisvoll. »Aber Sie getrauen sich nicht . . . Du courage! Hier hört und sieht uns niemand . . . espérez tout . . .«

»Was will ich Ihnen sagen? Reden Sie! . . .«

»Que vous m’aimez – oh, ich habe es längst bemerkt! . . .! N’est-ce pas? Sie suchten vor mir zu fliehen . . . aber die Leidenschaft hat Sie immer wieder zurückgetrieben . . .«

Er faßte ihre Hand und zog sie nach der Schlucht zu.

»Ah! De grace! Aber nicht so brüsk . . . Was tun Sie denn? . . . Lassen Sie mich los! . . .« schrie sie voll Angst – sie war allen Ernstes erschrocken.

Doch er hielt ihre Hand fest umklammert und zog sie bis dicht an den Rand der Schlucht.

»Ich lechze nach Liebe!« rief er wie in rasender Leidenschaft.

»Heute ist die Nacht der Liebe – hören Sie? . . . Hören Sie die Seufzer . . . die Küsse? Das ist die Leidenschaft, die heute triumphiert – ja, die Leidenschaft, die Leidenschaft! . . .«

»Lassen Sie mich los, lassen Sie mich los!« kreischte sie in jähem Schreck. »Ich falle hin, mir ist so schlecht . . .«

Er ließ sie los; seine Arme sanken herab, und er atmete tief auf. Dann sah er sie durchdringend an, als ob er sie eben erst bemerkte.

»Fort von hier! Fort, nur fort!« rief er aus, und wie ein Wilder stürzte er, sie vor der Schlucht stehen lassend, davon, lief durch den Park und den Blumengarten und gelangte auf den Hof.

Auf dem Hofe blieb er stehen, holte tief Atem und sah sich um. Er hörte, wie jemand am Brunnen im Wasser plätscherte, es schien Jegorka zu sein, der sich zur Nacht Gesicht und Hände wusch.

»Hol’ meinen Reisekoffer herunter!« rief er ihm zu, »morgen fahre ich nach Petersburg!«

Und er goß sich aus der Brunnenrinne selbst Wasser auf die Hände, befeuchtete damit die Augen und den Kopf und ging mit raschem Schritt nach seinem Zimmer.

Er lief hinaus auf die Terrasse, schritt im bloßen Rock auf dem Hofe hin und her, sah zu Wjeras Fenster hinauf und ging wieder nach seinem Zimmer, um ihre Rückkehr zu erwarten. In dem Nachtdunkel jedoch konnte er keine zehn Schritte weit sehen, und so verlegte er seinen Beobachtungsposten nach der Akazienlaube. Doch hier packte ihn von neuem die Wut – das Laub war schon fast ganz abgefallen, so daß er nicht sicher war, in seinem Versteck ungesehen zu bleiben.

Dennoch blieb er bis zum Einbruch der Morgendämmerung in der Laube. Er saß wie auf Kohlen – nicht aus Leidenschaft, denn seine Leidenschaft war wie durch Zauberkraft verschwunden. Welche Leidenschaft hätte auch angesichts eines solchen Hindernisses standgehalten? Nein, er empfand nur den unwiderstehlichen Wunsch, der neuen Wjera in die Augen zu sehen und dem geilen Weibchen mit einem verachtungsvollen Blicke die Schmach zu vergelten, die sie ihm, der Großtante, dem ganzen Hause, der ganzen Gesellschaft, kurz – dem gesamten Menschentum, dem gesamten weiblichen Geschlechte angetan hatte.

»Liebe offen und ehrlich, stiehl niemandes Vertrauen, schwelge in deinem Glücke und bring ihm Opfer, treib mit der Achtung der Menschen, mit der Liebe der Deinigen kein frevelhaftes Spiel, lüge nicht so schändlich und erniedrige das Weib nicht in dir!« perorierte er im stillen. »Ja, einen Blick noch will ich ihr zuwerfen – darin soll sie ihre Strafe, ihre Verurteilung lesen, und dann will ich für immer abreisen.«

Er bebte in fieberhafter Ungeduld und Erwartung, wann sie wohl zurückkehren werde. Wie ein Panther wollte er sie aus dem Hinterhalt anfallen, wollte ihr den Weg versperren, ihr jenen Blick zuwerfen, ihr ein Wort – nur ein einziges! – entgegenschleudern . . . Wie lautete es doch, dieses Wort?

Er saß in einem Winkel der Laube, fuhr sich mit den Händen durch das stark gelichtete Haar, betastete sein Gesicht, rang die Hände und krümmte sich wie in heftigen Krämpfen. Plötzlich sprang er auf und warf den Plaid zur Seite, in den er sich gehüllt hatte; sein Gesicht erglänzte in boshafter Schadenfreude, die ein plötzlich auftauchender Gedanke in ihm hervorrief.

»Das Schicksal selbst hat mir das zugeflüstert!« ging’s ihm durch den Kopf, und er lief rasch aus der Laube nach dem Tor zu.

Das Tor war noch geschlossen; er blickte um sich und bemerkte in Ssawelijs Fenster den matten Schimmer einer Lampe.

Er klopfte an das Fenster, und als Ssawelij es öffnete, hieß er ihn den Schlüssel zum Pförtchen herausbringen – er habe einen Gang vor, und das Pförtchen solle offen bleiben. Vorher jedoch lief er noch einmal nach seinem Zimmer, um den goldenen Buketthalter zu holen, den Wjera für Marsinka bestimmt hatte. Dann ging er spornstreichs zum Gärtner, nach der Orangerie. Eine ganze Weile mußte Raiski klopfen, bis der Gärtner endlich erwachte, worauf dann beide sich nach dem Gewächshause begaben.

Der Tag brach an. Raiski ließ seinen Blick über die Stauden und Bäume des Gewächshauses gleiten, und ein boshaftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er wies den Gärtner an, welche Blumen er in das für Marsinka bestimmte Bukett hineinnehmen solle: alles, was noch irgend an hübschen Blüten vorhanden war, kam hinein, und es wurde ein ganz prächtiger Strauß.

»Ich brauche noch ein zweites Bukett . . .« sagte Raiski mit unsicherer Stimme.

»Was für eins?«

»Eins aus Orangenblüten . . .« flüsterte er und fühlte, wie er selbst bei seinen Worten erblaßte.

»Ein Brautbukett also? Die eine Ihrer jungen Damen macht ja wohl Hochzeit?« meinte der Gärtner.

»Kann ich nicht ein Glas Wasser bekommen? . . .« fragte Raiski, ohne auf die Frage des Gärtners zu antworten. Er trank begierig das Glas Wasser aus und trieb den Gärtner an, sich mit dem Bukett zu beeilen. Endlich war es fertig. Raiski knauserte nicht beim Bezahlen, ließ sich beide Sträuße in einen Bogen Papier einwickeln und trug sie vorsichtig nach Hause.

Er mußte zunächst erkunden, ob Wjera nicht inzwischen in seiner Abwesenheit heimgekehrt war. Er ließ Marina wecken, hieß sie auf sein Zimmer kommen und befahl ihr nachzusehen, ob das gnädige Fräulein noch zu Hause oder bereits ausgegangen sei.

 

Marina berichtete, das Fräulein sei schon fort, worauf er ihr befahl, das für Marsinka bestimmte Bukett in Wjeras Zimmer auf den Tisch zu stellen und das Fenster in ihrem Zimmer zu öffnen – sie habe ihn selbst am Abend gebeten, für das Öffnen des Fensters zu sorgen. Dann schickte er sie fort, begab sich wieder auf seinen Posten in der Laube und wartete in einem seltsam beklemmenden Gefühl, in dem die langsam schwindende Leidenschaft, mit Eifersucht und auch wohl ein wenig Mitleid gemischt, zum Ausdruck kam. Vor der Hand jedoch drängte das Bewußtsein der erlittenen Kränkung und der schon allzulange ertragenen Qual alles stärkere menschliche Empfinden in ihm noch zurück. Sein Zorn brachte die Summe des Mitgefühls in ihm zum Schweigen. Der Geist des Guten in ihm verhielt sich stumm und traurig, seine langsame, stille Arbeit war gewaltsam gehemmt, und alle bösen Geister zerrten an Raiskis Seele.

Das Gesicht auf die Hand gestützt, saß er da, ließ den Blick in die Runde schweifen und sah doch nichts als den Gartenweg, der nach dem alten Hause führte, fühlte nichts als das ätzende Gift ihrer Lüge, ihres Betruges.

»Ich will diesen Hund, diesen Mark, über den Haufen schießen . . . oder mir selbst eine Kugel durch den Kopf jagen; eins von beiden muß geschehen . . . vorher jedoch . . . will ich noch das hier zur Ausführung bringen . . .« flüsterte er.

Er hielt den Orangenblütenstrauß mit beiden Händen fest, wie ein kostbares Heiligtum, und betrachtete es voll Entzücken, voll innerer Genugtuung; zwischendurch spähte er immer wieder durch den Blumengarten nach der dunklen Allee, ob sie nicht endlich komme.

Es war bereits ganz taghell. Ein feiner Regen fiel, die Wege wurden schlüpfrig.

»Soll man ihnen nicht ein paar Regenschirme schicken?« dachte er höhnisch lächelnd, während er mit der Hand zärtlich über das Bukett strich und daran roch.

Plötzlich erblickte er Wjera in der Ferne – eine solche Verwirrung und Schwäche, ein solcher Schreck befiel ihn, daß er nicht nur nicht imstande war, sie wie ein Panther aus dem Hinterhalt anzufallen und ihr den Weg zu verlegen, sondern sich selbst an der Bank festhalten mußte, damit er nicht hinfiele. Sein Herz schlug heftig, seine Knie zitterten; er heftete seinen Blick auf Wjera, die näher und näher kam – und konnte ihn nicht losreißen; er wollte sich erheben – und vermochte es gleichfalls nicht; selbst das Atmen bereitete ihm Schmerzen.

Sie kam daher, den Kopf auf die Brust gesenkt und ganz in die schwarze Mantille gehüllt. Man sah nur die weißen Hände, die die Mantille auf der Brust festhielten. Sie ging ohne Hast, ohne den Kopf zur Seite zu wenden, umschritt vorsichtig die kleinen Regenlachen, die sich gebildet hatten, betrat langsam die Treppe vor dem alten Hause und verschwand im Flur.

Es war Raiski zumute, als hätte man ihm schwere Eisenfesseln abgenommen. Er sprang, ganz bleich, aus dem Hinterhalt hervor und versteckte sich unter ihrem Fenster.

Sie aber betrat, wie im Schlafe hinwandelnd, ihr Zimmer; sie bemerkte nicht, daß ihre Kleider, die sie beim Fortgehen achtlos auf den Boden geworfen hatte, bereits wieder weggeräumt waren, sah weder das Bukett auf dem Tische, noch das geöffnete Fenster.

Mechanisch warf sie die beiden Mantillen auf den Diwan, zog die schmutzigen Schuhe aus, holte mit dem Fuße ihre Atlaspantoffeln unter dem Bett hervor und zog sie an. Dann nahm sie, den Blick irgendwohin in die Ferne richtend, auf dem Diwan Platz, schloß wie in tiefer Ermattung die Augen, lehnte sich mit Rücken und Kopf gegen das Diwankissen und versank in einen schlafähnlichen Zustand.

Kaum eine Minute mochte sie in dieser Haltung dagesessen haben, als ein dumpfes Geräusch sie weckte; es war, als sei etwas auf den Fußboden gefallen. Sie öffnete die Augen, richtete sich rasch in die Höhe und blickte um sich. Auf dem Boden lag ein großer Strauß von Orangenblüten, der von draußen durchs Fenster geworfen war.

Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, wurde bleich wie der Tod und ging, ohne den Strauß aufzuheben, rasch nach dem Fenster. Sie sah Raiski, der sich eben entfernte, und war einen Augenblick starr vor Bestürzung. Er wandte sich um, und ihre Blicke trafen sich.

»Der großmütige Freund . . . der Ritter . . .« flüsterte sie und holte mühsam Atem, als empfinde sie einen tiefen Schmerz. Jetzt erst bemerkte sie das zweite Bukett auf dem Tische, das sie selbst für Marsinka bestellt hatte. Sie nahm es und führte es mechanisch an ihr Gesicht, doch es entglitt ihren Händen, und sie fiel bewußtlos neben dem Strauß auf den Teppich nieder.

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