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Die Schlucht

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»Wozu die vielen Worte? Wenn du darauf bestehst, sage ich dir natürlich alles. Ja, es wurde von dir gesprochen. Tantchen machte sich darüber Gedanken, daß du früher so in dich gekehrt und nachdenklich warst und nun mit einem Male so froh gestimmt scheinst . . .«

»Nun – und? . . .«

»Nun, und da sagte ich nur: ist sie nicht am Ende verliebt? . . . Das war bereits vor einiger Zeit . . .«

»Und was sagte Tantchen darauf?«

»Sie erschrak.«

»Wovor denn?«

»Zumeist wohl vor dem Ausdruck ›Ekstase‹ . . .«

»Haben Sie denn von Ekstase gesprochen?«

»Sie hatte selbst bemerkt, daß du so froh gestimmt warst, und sie war sogar erfreut darüber . . .«

»Und Sie haben sie dann erschreckt? . . .«

»Das nicht – ich bezeichnete deinen Zustand nur mit dem richtigen Namen, und sie erschrak vor dem Worte.«

»Hören Sie einmal,« sagte sie ernsthaft, »die Ruhe der Tante liegt mir sehr am Herzen, mehr vielleicht, als sie selbst annehmen mag . . .«

»Nein,« unterbrach Raiski sie lebhaft, »Tantchen ist fest davon überzeugt, daß du sie über alles liebst. Sie hat mir das selbst gesagt.«

»Gott sei Dank! Sie machen mir eine große Freude durch diese Nachricht. Nun hören Sie, was ich Ihnen sage, und führen Sie meine Befehle blindlings aus: gehen Sie zu Tantchen und zerstreuen Sie sofort alle ihre Befürchtungen und Vermutungen betreffs der Ekstase, der Liebe und so weiter. Das kann Ihnen nicht schwer fallen . . . Sie werden es bestimmt tun, wenn Sie mich lieb haben.«

»Was würde ich nicht alles tun, um dies zu beweisen! Noch heute Abend will ich . . .«

»Nein, jetzt gleich, in diesem Augenblick! Wenn ich zum Mittagessen komme, sollen ihre Augen mich wieder so anschauen wie früher . . . hören Sie?«

»Gut, ich will gehen . . .« sagte Raiski, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

»So laufen Sie doch, sofort, in diesem Augenblick!«

»Und du . . . gehst jetzt auch heim?«

Mit einer fast gebieterischen Handbewegung bedeutete sie ihm, daß er nach Hause gehen solle.

»Noch eins,« sagte sie, ihn für einen Moment zurückhaltend, »reden Sie mit Tantchen nie wieder von mir, hören Sie?«

»Ich höre, Schwesterchen,« sagte er lächelnd.

»Ihr Ehrenwort!«

Er zögerte verlegen.

»Und wenn sie davon anfängt? . . .« versetzte er.

»Dann schweigen Sie – Ehrenwort?«

»Ehrenwort!«

»Merci . . . und nun eilen Sie rasch zu ihr!«

»Gut, gut, ich eile schon . . .« sagte er, langsam davonschreitend und sich nach ihr umschauend. Sie winkte ihm zum Zeichen, daß er rascher gehen solle, und blieb stehen, um zu beobachten, ob er wirklich gehe. Er bog in die Allee ein, machte dann jedoch Kehrt und kam zurück, um ihr noch irgend etwas zu sagen. Doch sie war nicht mehr da.

»Tantchen hat recht: wie ein Geist ist sie verschwunden!« flüsterte er vor sich hin.

In diesem Augenblick fiel unten auf dem Grunde der Schlucht ein Schuß.

»Wer hat sich da wieder einen Spaß erlaubt?« fragte sich Raiski, während er nach Hause schritt.

Wjera erschien rechtzeitig zum Mittagessen, und so scharf auch Raiskis forschender Blick sie beobachtete – er konnte keine Spur von Ekstase oder Grübelei an ihr entdecken.

Sie war ganz so, wie er sie früher gekannt hatte.

Die Großtante sah zwei- oder dreimal heimlich zu ihr hinüber und schien sich zu beruhigen, als sie nichts Besonderes an ihr bemerkte. Raiski hatte Wjeras Auftrag erfüllt und Tantchens lebhafte Befürchtungen zerstreut – ganz freilich konnte er ihr Mißtrauen nicht beseitigen. Sie unterhielten sich alle drei über gleichgültige Dinge und saßen dann in nachdenklichem Schweigen da. Wjera nahm sogar irgendeine Handarbeit vor, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit zuwandte, doch es entging der Großtante nicht, daß sie den Seidenfaden ziemlich regellos kreuz und quer führte, während Raiski feststellen konnte, daß sie zuweilen wie erschauernd zusammenfuhr oder ängstlich um sich schaute, ob nicht etwa die anderen mit Argwohn auf sie blickten.

Am nächsten und übernächsten Tage jedoch war auch das überwunden, und wenn Wjera zur Großtante kam, war sie vollkommen ruhig, ja sogar leidlich heiter gestimmt. Nur schloß sie sich jetzt häufiger in ihrem Zimmer ein und hatte in der Nacht länger als sonst das Licht in ihrem Zimmer brennen.

»Was treibt sie eigentlich?« ging es der Großtante durch den Kopf. »Bücher liest sie nicht – sie hat keine da, soviel ich weiß. Aber vielleicht schreibt sie: Papier und Tinte sind oben.«

Am wenigsten konnte Tatjana Markowna diese Heimlichkeit vertragen, die sie geradezu als persönliche Kränkung empfand. Ein junges Mädchen, das heimlich korrespondiert, das vielleicht gar vom Fenster aus mit irgendeinem Fant verstohlene Signale wechselt – das wollte ihr gar nicht in den Kopf! Und wer, wer war denn dieses Mädchen? Ihre Großnichte, ihr liebes Kind, das die sterbende Mutter ihr anvertraut hatte – o, schrecklich, schrecklich! »Es überläuft einen kalt,« flüsterte sie vor sich hin, ohne zu ahnen, daß diese Kälteempfindung eine Wirkung ihrer Nerven war, an deren Vorhandensein sie nicht glaubte.

Sie wartete ab, ob nicht vielleicht der Zufall ihr etwas entdecken, ob nicht Marina aus der Schule plaudern oder Raiski etwas verraten würde. Doch nichts von alledem geschah. Sooft sie auch zur Nachtzeit spähend umherging, so eindringlich sie, bei aller Vorsicht, Marina ausfragte, soviel sie auch Marsinka auf Kundschaft schickte, um zu erfahren, was Wjera trieb – nichts brachte sie in ihren Nachforschungen weiter, alles blieb erfolglos.

Da kam ihr plötzlich der glückliche Gedanke, sich dadurch eine beruhigende Gewißheit zu verschaffen, daß sie auf Wjeras Gemüt gleichsam hinten herum, durch ein Beispiel – oder, wie Raiski sich ausdrückte, durch eine Allegorie – einzuwirken versuchte.

Sie erinnerte sich, daß sie noch irgendwo in ihren Koffern einen sehr lehrreichen Roman stecken haben mußte, den sie einstmals, in ihren jungen Jahren, selbst mit großem Interesse gelesen, und über dem sie sogar Tränen vergossen hatte.

Der Roman handelte von den schrecklichen Folgen der Liebe, der sich Kinder ohne Einwilligung ihrer Eltern hingeben. Ein Jüngling und ein Mägdlein hatten einander liebgewonnen, wurden jedoch durch ihre Eltern getrennt und sahen einander fortan nur aus der Ferne, vom Balkon aus, verständigten sich aber durch Zeichen und schrieben einander heimlich.

Dieser heimliche Verkehr wurde von den Nachbarn beobachtet, das Mägdlein kam um seinen guten Ruf und mußte in ein Kloster gehen, der Jüngling aber wurde vom Vater irgendwohin nach Amerika verbannt.

Tatjana Markowna glaubte gleich vielen andern Leuten an die Macht des gedruckten Wortes, sofern dieses eine erbauliche Tendenz hat, und in diesem sie ganz persönlich angehenden Falle erwartete sie von der Lektüre des Buches sogar eine gewisse Zauberwirkung, wie etwa von einem Hexenspruche oder von den Linien der Handfläche. Sie holte das Buch aus einer alten Kiste hervor, wo es unter allerhand Rumpelkram versteckt gelegen hatte, und legte es auf den Tisch neben ihr Arbeitskörbchen. Beim Mittagessen sprach sie den jungen Damen gegenüber den Wunsch aus, sie möchten ihr doch, namentlich bei schlechtem Wetter, abwechselnd etwas vorlesen; ihre Augen seien schon schwach, und sie käme selbst nicht mehr recht vorwärts mit den Büchern.

Marsinka hatte ihr bereits früher mitunter etwas vorgelesen, im allgemeinen jedoch verhielt sich die Großtante der Literatur gegenüber ziemlich gleichgültig. Nur wenn Tit Nikonytsch ihr irgendeine Zeitungsneuigkeit mitteilte, etwas von blutigen Mordtaten oder großen Feuersbrünsten, vielleicht auch gelegentlich eine wirtschaftliche oder hygienische Belehrung, ward ihr Interesse rege.

Als sie nun diesmal mit ihrem Vorschlage herausrückte, schwieg Wjera sich ganz aus, während Marsinka, auf das Buch zeigend, fragte:

»Geht die Sache auch gut aus, Tantchen?«

»Warte, bis du das Buch ausgelesen hast, dann wirst du es wissen,« antwortete die Großtante.

»Was für ein Schmöker ist denn das?« fragte Raiski am Abend. Er nahm das Buch, sah hinein und lachte.

»Kaufen Sie sich doch lieber ein Traumbuch und lassen Sie sich daraus vorlesen!« sagte er. »Diese alte Scharteke auszugraben! Die haben Sie jedenfalls damals gelesen, als Sie in Tit Nikonytsch verliebt waren? . . .«

Tatjana Markowna errötete und wurde ernstlich böse.

»Laß deine albernen Scherze, Boris Pawlowitsch!« sagte sie. »Ich bitte dich nicht, dabei zu sein, wenn wir lesen, stör’ uns also nicht in unserem Vorhaben!«

»Aber das ist ja ein ganz vorsintflutliches Erzeugnis . . .«

»Gewiß doch, ja – ich weiß, daß du nach der Sintflut geboren bist, und ich habe nichts dagegen, daß du auf deine Weise Romane und Dramen schreibst, ich bitte dich aber, uns bei unserem Geschmack zu lassen. Fang nur an, Marsinka – und du, Wjera, hör’ zu! Sobald Marsinka müde ist, wirst du weiterlesen. Das Buch ist sehr anregend und lehrreich.«

Wjera fügte sich schweigend, Marsinka aber wollte rasch nachsehen, ob im letzten Kapitel von einer Hochzeit die Rede ist. Doch die Großtante hinderte sie daran. »Fang nur von vorn an,« sagte sie, »du wirst noch früh genug zu Ende kommen. Wie kann man nur so ungeduldig sein!«

Raiski verließ das Zimmer, und Tantchens Kabinett verwandelte sich in eine Lesehalle. Wjera litt entsetzliche Langeweile, doch widersprach sie nie, wenn die Großtante ihr gegenüber auf ihrem Willen bestand.

In dem Roman wurden zunächst die Eltern des jungen Mannes und das Mägdlein sehr ausführlich geschildert, dann wurde erzählt, wie die beiden Familien gleich den Montecchi und Capulet miteinander in Zwist geraten waren, und hierauf folgte eine eingehende Darstellung des Äußeren und der Eigenschaften der jungen Leute, die miteinander aufgewachsen und erzogen, dann aber getrennt worden waren.

Am dritten oder vierten Vorlesungstage kam man endlich nach langer Geduldprobe zu der gegenseitigen Neigung der beiden jungen Leute, zu ihrer Liebeserklärung und dem ersten heimlichen Stelldichein. Die ganze Geschichte war höchst moralisch und sittenrein, dabei jedoch unerträglich langweilig.

 

Wjera saß zumeist still in Gedanken versunken da. Sobald das Wort »Liebe« vorkam, blickte Tatjana Markowna verstohlen zu ihr hinüber, um festzustellen, ob sie vielleicht erröte oder erbleiche oder sonstige Zeichen der Aufregung an ihr sichtbar würden. Nichts von alledem geschah: sie gähnte nur. Und als eine zudringliche Fliege sich ihr auf die Nase setzen wollte, jagte sie sie fort und beobachtete, wohin sie flöge. Dann gähnte sie von neuem.

Am nächsten Abend erschien Wjera überhaupt nicht zum Tee, sondern bat, ihn auf ihrem Zimmer trinken zu dürfen. Als die Großtante ihr sagen lassen wollte, sie solle zur Vorlesung kommen, stellte sich heraus, daß Wjera nicht zu Hause war: sie sei spazieren gegangen, hieß es.

Wjera glaubte nun glücklich den Schrecken der Vorlesung entflohen zu sein, aber die Großtante kannte kein Erbarmen: sie ließ in Wjeras Abwesenheit nicht weiterlesen und setzte die Fortsetzung der Lektüre für den nächsten Abend fest. Wjera warf Raiski einen trübseligen Blick zu – er verstand diesen Blick und schlug vor, doch lieber spazieren zu gehen.

»Meinetwegen – aber dann wird weitergelesen,« sagte Tatjana Markowna und sah dabei argwöhnisch auf Wjera, deren verzweifelten Blick sie aufgefangen hatte.

Es war nichts zu machen, Wjera mußte kapitulieren. Sie zeigte nun keine Langeweile, keine Müdigkeit mehr, sondern wußte sich tapfer zu beherrschen und hörte mit Aufmerksamkeit auf die langschleppende Erzählung. Raiski hörte ein Weilchen zu und entfernte sich dann.

»Ein schrecklicher Kerl, dieser Autor: als wenn er im Schlafe läge und Lindenbast kaute,« meinte er im Weggehen, und Marsinka mußte noch lange über den Ausdruck lachen. Wjera gähnte nicht mehr und beobachtete auch nicht mehr die Flugkünste der Fliegen, sondern saß, die Lippen fest aufeinander gepreßt, auf ihrem Stuhl. Kam die Reihe des Vorlesens an sie, dann las sie klar und deutlich, und die Großtante freute sich über ihre Aufmerksamkeit.

»Gott sei Dank,« dachte sie, »sie hört zu, sie interessiert sich, nimmt sich’s zu Herzen: vielleicht wird alles gut . . .«

Sehr ausführlich wurde in dem Roman geschildert, wie das Gefühl der jungen Leute immer heftiger und glühender wurde, wie die Eltern sie auf Schritt und Tritt überwachten und alle möglichen sittlichen Folterqualen ersannen, um ihre Herzen zu trennen. Marsinka konnte sich der Tränen nicht enthalten, Wjera dagegen lächelte nicht selten, blickte jedoch zuweilen auch wieder nachdenklich und finster drein.

»Es scheint sie wirklich zu packen,« dachte Tatjana Markowna. »Nun, Gott sei Dank!«

Wie alles in der Welt, so fand auch der Roman allmählich ein Ende. Nur wenige Kapitel waren noch übrig, und der letzte Vorlesungsabend brach an. Sobald das Teegeschirr weggeräumt war, setzte man sich um den Tisch, und die Vorlesung, der auch Raiski beiwohnte, begann.

Auch Wikentjew war anwesend. Er konnte nicht still sitzen, sondern sprang jeden Augenblick auf und lief zu Marsinka, mit der er dann leise plauderte. Er bat, man möchte auch ihn vorlesen lassen, und als es ihm gestattet wurde, flocht er ganze Abschnitte seiner eigenen Erfindung in die Handlung ein und las mit veränderter Stimme: sprach die verfolgte Heldin, so las er in sanftem, klarem Diskant, während er dem Helden seine eigene Stimme lieh und die Worte, die dieser zu sprechen hatte, stets an Marsinka richtete, die ihrerseits jeden Augenblick rot wurde und ihm ein böses Gesicht machte. In der Gestalt des finster drohenden Vaters suchte Wikentjew den moralischen Eiferer Nil Andreitsch zu verkörpern. Das ging den Damen zu weit – sie nahmen ihm das Buch weg und hießen ihn still sitzen. Er begleitete nun hinter dem Rücken der Großtante die Vorlesung mit allerhand mimischen Künsten, die nur Marsinka sehen konnte.

Marsinka aber übte Verrat und machte die Großtante auf ihn aufmerksam – da nahm Tatjana Markowna ihn bei der Hand und führte ihn in den Garten hinaus, wo er bis zum Abendbrot spazieren gehen sollte. Die Vorlesung wurde fortgesetzt. Marsinka war in schlechter Stimmung: das Buch war schon fast zu Ende, immer noch wurden lauter traurige Sachen erzählt, nichts deutete auf einen glücklichen Ausgang hin.

»Kann’s dir denn nicht gleich sein, ob die Sache glücklich oder unglücklich endet?« fragte Raiski.

»Oh, nur kein trauriges Ende!« sagte sie, »ich werde weinen, werde nicht einschlafen können!«

Das Drama der Verfolgungen war noch mitten im Gange, und die Strafpredigten der Eltern rollten in unendlich langweiligen Sentenzen über den Häuptern der Liebenden dahin.

»Sieh doch, wie Wjera zuhört!« flüsterte die Großtante Raiski zu. »Die Geschichte hat sie tief ergriffen – sieh, wie sie die Stirn runzelt und sich auf die Lippen beißt . . . !«

Endlich trat die Katastrophe ein: die Liebenden wurden im Garten überrascht. Der Held des Romans hatte aus Bettlaken und Taschentüchern eine Strickleiter hergestellt, auf der die Heldin zu ihm hinunterkletterte. Weinend lagen sie einander in den Armen, als plötzlich die Schar der Verfolger beim Scheine der Fackeln sie umringte und unter Ausrufen des Entsetzens und Unwillens der Fluch des Vaters auf ihre schuldigen Häupter fiel. Die Heldin bekam einen Ohnmachtsanfall, der Held stürzte vor dem hartherzigen Vater auf die Knie. Das Mägdlein wurde eingesperrt, nicht einmal verabschieden durften sich die Unglücklichen. Vier Wochen später verkündete dumpfes Glockengeläut, daß sie in ein Nonnenkloster aufgenommen war, während am selben Tage vom Hamburger Hafen ein Schiff abfuhr, das ihn nach Amerika bringen sollte. Die beiden Elternpaare blieben allein und verlassen zurück und büßten ihre Hartherzigkeit bis an ihr Lebensende in trostloser Einsamkeit.

Das letzte Wort war verklungen, der Deckel des Buches zugeklappt, und unter den Anwesenden herrschte tiefes Schweigen.

»Was für ein abgeschmacktes Zeug!« sagte Raiski nach einer Weile.

Marsinka trocknete ihre Tränen.

»Und was meinst du, Wjerotschka?« fragte die Großtante.

Wjera schwieg.

»Ein abscheuliches Buch, Tantchen,« sagte Marsinka, »was sie alles durchmachen mußten, die armen Kinder! . . .«

»Ja, das ist einmal so!« versetzte die Großtante mit einem Seitenblick auf Wjera. »Wenn Kunigunde erfahrene Leute, die das Leben und die Macht der Leidenschaft kennen, um Rat gefragt hätte, dann hätte sie das alles nicht zu erdulden brauchen . . .« Raiski nickte ihr mit ironischem Beifall zu.

»So mußte die Sache ein böses Ende nehmen,« fuhr die Großtante fort; »hätten sie ihre Eltern befragt, dann wäre es nicht so weit gekommen. Was sagst du, Wjerotschka?«

Wjera hatte sich bereits aus dem Zimmer entfernt, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen.

»Warum haben Sie mich eine ganze Woche lang mit diesem albernen Buche gequält, Tantchen?« fragte sie, bereits die Tür in der Hand haltend, und ohne erst die Antwort abzuwarten, schlüpfte sie wie eine Katze aus dem Zimmer. Die Großtante ging ihr nach und holte sie zurück.

»Was heißt das – warum?« sagte sie. »Ich wollte dir ein Vergnügen bereiten . . .«

»Nein, Sie wollten mich für irgend etwas bestrafen. Wenn Sie wieder einmal glauben, daß ich Strafe verdiene, dann sperren Sie mich lieber acht Tage lang bei Wasser und Brot ein.«

Sie kniete auf dem Bänkchen zu Füßen Tatjana Markownas nieder.

»Gute Nacht, Tantchen – schlafen Sie wohl!« sagte sie.

Die Großtante beugte sich zu ihr hinab, um sie zu küssen, und flüsterte ihr ins Ohr:

»Nicht strafen wollte ich dich, sondern warnen, damit du nicht irgend einmal . . . Strafe verdienst . . .«

»Und wenn ich sie verdiene . . .« gab Wjera flüsternd zur Antwort, »würden Sie mich dann auch ins Kloster schicken, wie jene Eltern ihre Kunigunde?«

»Wie denn? Bin ich denn ein grausames Tier?« versetzte Tatjana Markowna gekränkt. »Bin ich vielleicht ebenso böse wie diese entmenschten Eltern? Wie kannst du nur so etwas von mir denken, Wjera . . . es ist einfach sündhaft! . . .«

»Ich weiß, Tantchen, daß es sündhaft ist, und ich denke es auch nicht . . . Wie kamen Sie dann aber darauf, mich durch dieses dumme Buch da warnen zu wollen?«

»Wie soll ich dich denn sonst warnen und schützen, mein liebes Kind? . . . Sag’ es mir, beruhige mich! . . .«

Wjera wollte etwas antworten, hielt jedoch an sich und sah einen Augenblick zur Seite.

»Geben Sie mir Ihren Segen!« sagte sie dann, und nachdem die Großtante sie bekreuzt hatte, küßte sie ihr die Hand und ging aus dem Zimmer.

Raiski nahm das Buch vom Tische.

»Ein wunderliches Buch!« sagte er lächelnd. »Sind Sie mit dem Erfolge Ihrer schönen Kunigunde zufrieden?«

Die Großtante ließ statt jeder Antwort einen schmerzlichen Seufzer hören. Sie war nicht zum Scherzen aufgelegt. Sie nahm ihm das Buch fort und gab es Paschutka, damit sie es nach der Gesindestube trage.

»Na, Tantchen,« sagte Raiski, »jetzt hätten Sie Wjera glücklich auf den rechten Weg gebracht. Wenn nun noch Jegorka und Marina diese Allegorie mit gutem Erfolge lesen, wird in diesem Hause vor lauter Tugend kein Platz zu finden sein!«

Fünfzehntes Kapitel

Wikentjew hatte Marsinka in den Garten gerufen, Raiski war in sein Zimmer gegangen, und die Großtante blieb, in Nachdenken versunken, auf dem Kanapee sitzen. Eine ganze Weile saß sie da. Das Buch hatte sie bereits vergessen, ihr Glaube an die Wirksamkeit der gedruckten Moral war stark erschüttert, und sie schämte sich insgeheim sogar ein klein wenig, weil sie zu einem so banalen Mittel ihre Zuflucht genommen hatte. Ihr Auge hatte einen klaren, bewußten Ausdruck, sie schien irgend etwas zu überlegen oder alte, ruhende Erinnerungen zu erneuern. Ein hellseherisches Ahnen lag, mit Furcht, Mitleid und Rührung gepaart, auf ihrem Gesichte. Marina, Jakow und Wassilissa kamen nacheinander, um ihr zu melden, daß das Abendbrot serviert sei.

»Ich mag nicht essen,« antwortete sie nachdenklich. Marina ging hinaus, um die jungen Damen zu Tisch zu rufen.

»Ich mag nicht essen,« sagte auch Wjera.

»Ich mag nicht essen,« versetzte zu Marinas Erstaunen auch Marsinka, die noch niemals ohne Abendbrot zu Bett gegangen war.

»Soll ich’s nicht in Ihrem Zimmer anrichten?« meinte Marina.

»Ich danke, ich mag nicht essen,« lautete die Antwort.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu,« dachte Marina, »das ist noch niemals dagewesen! Ich muß es der Gnädigen melden.«

Zu Marinas Verwunderung war Tatjana Markowna jedoch keineswegs erstaunt über Marsinkas Verhalten und sagte nur kurz: »Ihr könnt abräumen!«

Marina ging hinaus, während Wassilissa schweigend das Bett der Gnädigen zurecht machte.

In der Zeit, da Marina fragen ging, was mit dem Abendbrot geschehen solle, hatte Jegorka, der es bereits als sicher annahm, daß die Herrschaften heute nicht mehr zur Nacht speisen würden, den Deckel einer Bratenschüssel abgenommen und, nachdem er den Inhalt berochen, ein Stück davon mit den Fingern herausgefischt, »um’s zu probieren«, wie er Jakow gegenüber, der ihn bei seinem Tun ertappte, erklärte. Er forderte Jakow auf, seinem Beispiel zu folgen; dieser schüttelte anfangs den Kopf, bekreuzte sich dann jedoch nach guter frommer Sitte und holte sich gleichfalls ein Stück von dem Braten mit den Fingern aus der Schüssel heraus, »um’s zu probieren«.

»Es scheinen Lorbeerblätter an der Sauce zu sein,« bemerkte er scharfsinnig.

»Kosten Sie auch von dieser Schüssel hier, Jakow Petrowitsch,« meinte Jegorka, während er seine Hand nach einem Stück Sterlet in Gelee ausstreckte.

»Wenn nur die Gnädige morgen nicht danach fragt!« meinte Jakow und nahm gleichfalls ein Stück von dem Fisch. Als Marina ins Zimmer kam, waren die beiden bereits beim Backhuhn angekommen.

»Alles aufgeputzt!« rief sie ganz verblüfft und schlug sich dabei auf die Hüfte. Jakow und Jegorka nahmen schleunigst Reißaus wie ein paar aufgescheuchte Wölfe, guckten sich nach ihr um und grinsten dabei.

»Was soll ich nun morgen zum Frühstück servieren?« sagte sie, ihnen verzweifelt nachschauend.

Alles war im Hause verstummt. Das Bett war gemacht. Tatjana Markowna erwachte aus ihrem Hinbrüten und blickte nach dem Heiligenbilde an der Wand, vor dem sie jedoch nicht wie sonst niederkniete. Sie bekreuzte sich nur, ohne zu beten – sie war zu unruhig, um die rechte Andacht zu finden. Sie setzte sich aufs Bett und versank wieder in düsteres Grübeln.

» ›Wie soll ich dich warnen und schützen?‹ – ›Geben Sie mir Ihren Segen!‹ » flüsterte sie bang, ihr Gespräch mit Wjera wiederholend. »Wie kann ich erfahren, was in ihrer Seele vorgeht? Nun denn: der Morgen ist klüger als der Abend . . . jetzt will ich zu Bett gehen . . .« sprach sie zu sich selbst.

 

Sie sollte jedoch in dieser Nacht nicht so bald den Schlaf finden. Eben wollte sie sich niederlegen, als sie ein Kratzen und Rascheln an ihrer Tür vernahm.

»Wer ist da?« fragte sie erschrocken.

»Ich, Tantchen – öffnen Sie!«

Es war Marsinkas Stimme. Tatjana Markowna öffnete die Tür.

»Was ist dir, mein Kind? Du willst mir wohl gute Nacht sagen? Warum hast du nichts zum Abend gegessen? Wo ist Nikolaj Andreitsch?« sagte sie. Als sie jedoch einen Blick auf Marsinka warf, erschrak sie.

»Was ist dir, Marsinka? Was ist geschehen? Wie siehst du denn aus? Du zitterst am ganzen Leibe! Bist du krank? Hat dich etwas erschreckt?« sprach sie, Marsinka mit Fragen überschüttend.

»Nein, nein, Tantchen – es ist nichts, ist nichts . . . Ich kam nur . . . ich muß Ihnen etwas sagen . . .« sprach sie, sich ängstlich an die Großtante schmiegend.

»Setz’ dich, setz’ dich . . . dahin, da, auf den Stuhl . . .«

»Nein, Tantchen – ich setze mich lieber zu Ihnen, und Sie legen sich hin. Ich will Ihnen alles erzählen – das Licht bitte ich auszulöschen . . .«

»Aber was ist denn nur geschehen? Du machst mich ängstlich . . .«

»Nichts weiter, Tantchen – legen Sie sich nur rasch hin, ich sage Ihnen alles ins Ohr . . .«

Die Großtante beeilte sich, ihren Wunsch zu erfüllen, und Marsinka erzählte ihr nun alles, was ihr nach der Vorlesung im Garten begegnet war. Folgendes aber war ihr begegnet.

Als sie nach Beendigung des Romans hinaustrat, bat Wikentjew sie, doch mit ihm in den Hain zu kommen und zuzuhören, wie herrlich die Nachtigall dort schlage. »Während Sie dort lasen, hörte ich ihr in einem fort zu: ach, wie sie singt, wie sie singt! Kommen Sie!« sagte er.

»Es ist aber so dunkel, Nikolaj Andrejewitsch,« meinte Marsinka.

»Haben Sie denn Angst?«

»Allein würde ich Angst haben, mit Ihnen aber nicht.«

»Dann kommen Sie! So wunderbar singt sie – hören Sie? hören Sie? Man kann es von hier aus hören. Ein Uhu sitzt dort in einem hohlen Baumstamme, der schrie erst, aber wie er den Gesang hörte, verstummte er. Kommen Sie!«

Sie ging unentschlossen von der Freitreppe in den Garten hinab, und er reichte ihr den Arm. Langsam, halb wider Willen, schritt sie neben ihm her durch die Allee.

»Wie dunkel es ist . . . nein, ich geh’ nicht weiter! Geben Sie meinen Arm frei!« sprach sie fast unwillig, ging jedoch unwillkürlich weiter; es war, als ziehe sie etwas gewaltsam vorwärts, obschon Wikentjew ihren Arm losgelassen hatte.

»Gehen Sie näher heran, hierher!« flüsterte er.

Sie machte noch zwei Schritte, sich gleichsam durchs Dunkel tastend, und blieb stehen.

»Noch näher, noch näher, fürchten Sie sich nicht!«

Sie ging noch einen Schritt weiter; ihr Herz schlug heftig, sie fürchtete sich in der Dunkelheit.

»Es ist so finster . . . ich habe Angst . . .« sagte sie.

»Wovor denn? Es ist doch niemand da, vor dem Sie Angst zu haben brauchten! Treten Sie hierher – geben Sie acht, dort ist ein Graben! Stützen Sie sich auf mich – so!«

»Was denn? Lassen Sie mich doch, ich finde mich schon selbst durch! . . .« sagte sie voll Angst, kaum aber hatte sie das Wort ausgesprochen, als er auch bereits ihre Taille umfaßt und sie über den Graben getragen hatte.

Sie kamen in den Hain.

»Ich gehe nicht einen Schritt weiter . . .«

Dennoch schritt sie langsam vorwärts, jedesmal zusammenfahrend, wenn ein trockener Zweig unter ihrem Fuß knackte.

»Hier wollen wir stehen bleiben – leise! . . .« flüsterte er – »hören Sie?«

Die Nachtigall schlug ihre Triller. Der Zauber der lauen Nacht umfing Marsinkas Sinne. Der Nebel, das leise Rauschen der Blätter, das Lied der Nachtigall ließ sie still erschauern. Starr und schweigend stand sie da und faßte in ihrer Angst zuweilen nach Wikentjews Hand. Als er dann jedoch nach der ihrigen griff, zog sie sie zurück.

»Wie schön ist das doch, Marfa Wassiljewna, welch eine Nacht!« sprach er.

Sie bedeutete ihm durch eine Handbewegung, daß er sie nicht im Zuhören stören solle. Die köstliche Stimmung der Nacht hatte eben auf sie zu wirken begonnen.

»Marfa Wassiljewna,« flüsterte er kaum hörbar, »mir ist so wunderbar zumute, so wohl, wie ich es noch nie empfunden . . . Alles in mir ist in Bewegung . . .«

Sie schwieg.

»Ich könnte jetzt aufs Pferd steigen und davonrasen, daß mir der Atem vergeht . . . Oder ich möchte in die Wolga springen und ans andere Ufer schwimmen . . . Und wie ist Ihnen zumute?«

Sie fuhr zusammen.

»Was ist Ihnen? Sind Sie erschrocken?«

»Gehen wir fort von hier! Wir haben lange genug zugehört . . . Tantchen wird sonst böse werden . . .«

»Ach, noch einen einzigen Augenblick – bitte, bitte!« flehte er.

Sie blieb wie gebannt stehen. Immer herrlicher klang das Lied der Nachtigall.

»Wovon mag sie nur singen?« fragte er.

»Ich weiß es nicht . . .«

»Ihr Lied muß doch einen Sinn haben; sie singt doch nicht bloß so ins Blaue hinein! Sie singt doch für irgend jemanden . . .«

»Sie singt für uns . . .« flüsterte Marsinka und lauschte dann schweigend.

»Mein Gott, ist das schön! . . . Marfa Wassiljewna . . .« flüsterte Wikentjew und versank in stilles Sinnen.

»Wo sind Sie denn, Nikolaj Andreitsch?« fragte sie.

»Warum schweigen Sie? Als wenn Sie gar nicht da wären: sind Sie denn noch hier?«

»Ich glaube, die Nachtigall singt dasselbe, wovon auch ich jetzt singen möchte . . . nur daß ich’s nicht vermag . . .«

»So bedienen Sie sich doch der Nachtigallensprache . . .«sagte sie lachend. »Woher wissen Sie denn, wovon sie singt?«

»Ich weiß es eben!«

»Dann sagen Sie es mir doch!«

»Sie singt von der Liebe.«

»Von was für einer Liebe? Wen soll sie denn lieben?«

»Sie singt von meiner Liebe . . . zu Ihnen . . .«

Er war selbst über seine Worte erschrocken – plötzlich aber zog er ihre Hand an seine Lippen und küßte sie leidenschaftlich.

Blitzschnell entriß sie ihm die Hand, lief Hals über Kopf davon, sprang leicht über den Graben, eilte die Parkallee entlang und die Freitreppe hinauf und blieb dort einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen.

Er war hinter ihr hergestürzt.

»Nicht einen Schritt weiter – daß Sie es nicht wagen!« sagte sie, schwer atmend und die Türklinke in der Hand haltend. »Gehen Sie nach Hause!«

»Marfa Wassiljewna! Mein Engel, meine Herzensfreundin . . .«

»Wie können Sie es wagen, mich so zu nennen, bin ich vielleicht Ihre Schwester, oder Ihre Cousine?«

»Mein Engel! Meine Teuerste . . . Sie sind mir alles auf dieser Welt! Bei Gott . . .«

»Ich werde schreien, Nikolaj Andreitsch! Gehen Sie nach Hause!« sprach sie in gebieterischem Tone und bebte dabei wie Espenlaub.

»Sagen Sie doch, bitte – warum sind Sie so sonderbar gegen mich? . . . Sie weichen mir seit einiger Zeit aus, wollen nicht mehr mit mir allein bleiben . . .«

»Wir sind doch keine Kinder mehr, müssen unsere Torheiten lassen!« sagte sie. »Tantchen meinte . . .«

»Was meinte Tantchen?«

»Gar nichts. Sie haben doch gehört, wie es mit Richard und Kunigunde in dem Buche kam, was dort das Ende vom Liede war! . . . Wie konnten Sie sich erlauben . . .«

»Dieses alberne Buch kann niemand sonst geschrieben haben als Nil Andreitsch . . .«

»Gehen Sie nach Hause! Gott weiß, was die Leute schon von uns reden . . .«

»Sie lieben mich also nicht mehr, Marfa Wassiljewna?« sagte er düster und fuhr sich dabei nicht einmal mit den Fingern durchs Haar, wie er es sonst zu tun pflegte.

»Habe ich Sie denn je geliebt?« fragte sie mit unbewußter Koketterie. »Wer hat Ihnen das eingeredet? Was für dummes Zeug! Wie kommen Sie nur darauf? Ich will’s Tantchen sagen!«

»Was wollen Sie ihr sagen? Ich werde es ihr selbst sagen!«

»Was werden Sie ihr sagen? Gar nichts können Sie ihr von mir sagen!« sagte sie bissig, doch nicht ohne innere Unruhe. »Wie sind Sie denn heut überhaupt? Es scheint etwas über Sie gekommen zu sein . . .«

»Ja, das ist’s in der Tat. Hören Sie mich an, Marfa Wassiljewna, mein Engel . . . Auf den Knien bitte ich Sie . . .«

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