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Die Schlucht

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Zwölftes Kapitel

Auf der Universität teilte Raiski seine Zeit so ein, daß er des Morgens die Vorlesungen hörte oder den Park des Kreml besuchte, an den Sonntagen im Nikita-Kloster dem Mittaggottesdienst beiwohnte, dann das Ausziehen der Wache mit ansah und schließlich in die Konditorei von Pierre oder Pedotti ging, um Kaffee zu trinken. Die Abende brachte er in seinem »Kreise« zu, der aus gleichaltrigen Studiengenossen, lauter jungen Leuten von heißem Kopf und edlem Herzen, bestand. Das brauste und schäumte nur so, in stolzer Erwartung einer großen Zukunft.

Raiski hatte zunächst ganz so, wie auf der Schule, jeden einzelnen der Professoren und Mithörer mit eindringendem Blicke studiert, und als ihre äußere Erscheinung ihm nichts Neues mehr sagte, hatte er – mehr aus Langerweile und zu seiner Unterhaltung – auch dem Gegenstand der Vorlesungen seine Aufmerksamkeit zugewandt.

In der Vorlesung über russische Grammatik interessierten ihn weniger die Regeln des Satzbaues und die sonstigen Sprachgesetze, als die Art, wie der Professor sie vortrug, wie die Worte ihm über die Lippen glitten, und wie die Zuhörer sie aufnahmen.

Wo aber der Vortrag sich dem Leben selbst und den historischen Geschehnissen zuwandte, wo in der Geschichte, in einem Gedicht, einem Roman wirkliche Menschen und deren Schicksale, Griechen, Römer, Germanen, Russen geschildert wurden, da öffnete sich Raiskis Ohr wie von selbst: er ging ganz auf in dem, was er hörte, sah diese Menschen, dieses Leben leibhaftig vor sich.

Aus sich selbst heraus wäre er, selbst mit Hilfe der Professoren, in die Werke der alten Klassiker niemals eingedrungen. In russischer Übersetzung existierten sie nicht, und in der Bibliothek seines Vaters, auf dem Gute bei der Großtante, waren zwar einige von ihnen in französischer Übertragung vorhanden, doch war ihm, als er sie zum erstenmal durchblätterte, das Verständnis für sie noch nicht aufgegangen, und so hatte er sie wieder beiseite gelegt – sie waren ihm zu trocken, zu nüchtern erschienen.

Erst im zweiten Kursus hörte er von zwei oder drei Kathedern Vorlesungen über dieses Thema, und da erschienen auch in den Händen der »Musterschüler« die Werke der betreffenden Autoren in der Originalsprache. Um jene Zeit befreundete sich Raiski mit einem Studenten Namens Koslow, einem schüchternen, unter dem Drucke der Armut verkümmerten jungen Menschen.

Koslow war der Sohn eines Diakons, er hatte zuerst im Seminar, dann auf dem Gymnasium und für sich zu Hause Griechisch und Latein getrieben und sich bei dem Studium dieser Sprachen ganz in die klassische Welt eingelebt, so daß er für das moderne Leben kaum ein Verständnis hatte. Raiski schloß eine enge Freundschaft mit ihm; anfangs hatte die Vereinsamung, die Schlichtheit und Güte des anderen einen Eindruck auf ihn gemacht, und dann hatte er in ihm das »heilige Feuer« der Begeisterung für die alte Welt, ein fast hellseherisches Verständnis für alles, was sein Spezialgebiet betraf, entdeckt.

Koslow hatte Raiski, soweit dessen lebhaftes, ewig gleich einem Meer hin und her wogendes Naturell es gestattete, in das Verständnis der antiken Welt eingeführt, doch war er nicht imstande gewesen, sein Interesse für diese Welt auf längere Zeit zu fesseln oder gar ihn auf immer für ihren Dienst zu gewinnen.

Raiski begnügte sich mit den Anregungen, die ihm Koslow gegeben hatte, entschlüpfte ihm jedoch wieder und ließ ihm nur seine Freundschaft, während er selbst das Bild dieser schlichten, reinen Jünglingsseele als Erinnerung für alle Zeit im Gedächtnis behielt.

Von Plutarch und den »Reisen des jungen Anacharsis« war er zu Titus Livius und Tacitus übergegangen; er vertiefte sich in die eingehenden Schilderungen des ersteren und die großzügigen Berichte des zweiten, er ging mit Homer und Dante schlafen, vergaß oft alles, was rings um ihn geschah, und lebte nur noch in seinen Annalen, Mythen und russischen und sonstigen Sagen.

Ward ihm dagegen die Ausarbeitung einer Abhandlung aus dem betreffenden Gebiete aufgegeben, so geriet er in Verlegenheit, verfiel in dumpfes Brüten und wußte nicht, wie er sein Thema anfangen sollte, ob es nun von den »Quellen der Völkerkunde«, von dem »alten russischen Münzwesen« oder von der »nordsüdlichen Richtung der Völkerwanderung« handelte.

Statt über die Wanderung der Völker Betrachtungen anzustellen, suchte er sich vielmehr diese Wanderungen in lebendigen Gestalten und Szenen zu veranschaulichen. Er sieht, wie die Völkermassen gleich großen Heuschreckenschwärmen sich vorwärts bewegen, wie sie zur Nacht sich lagern, ihre Zelte aufschlagen und die Lagerfeuer anzünden; er sieht die mit Tierfellen bekleideten und mit Keulen bewaffneten Männer, sieht die in Lumpen gehüllten Weiber und die halbverhungerten Kinder; er sieht, wie sie auf ihrem Zuge alles niedermetzeln und vernichten, und wie ihre Nachzügler zugrunde gehen. Er sieht den grauen Himmel, die ausgeplünderten und verheerten Länder, und er sieht sogar die alten russischen Münzen: so klar und deutlich sieht er sie, daß er sie hinzeichnen könnte – aber er weiß nicht, wie er es anfangen soll, darüber eine große Abhandlung zu schreiben. Und schließlich – was ist darüber noch groß zu schreiben, wenn er sie doch auch ohnedies sieht? Im Sommer machte er gern Ausflüge in die Umgegend, besuchte die »alten Klöster« und vertiefte sich in den Anblick der von der Zeit geschwärzten Heiligenbilder, der düsteren Gewölbe und Winkel. Rascher und leichter als die Professoren führte ihn hier seine Phantasie in die Welt des russischen Altertums ein.

Wie lebendig standen da die alten Zaren, Mönche, Krieger und Staatsmänner vor seinem Geiste. Das alte Moskau erschien ihm als ein weit ausgedehntes, im Verfall begriffenes Reich. Kriegszüge, Hinrichtungen, Tatarenhorden, donische Kosaken, der Zarenhof der Iwans – alles drang auf ihn ein, alles lud ihn zu Gaste, lockte und rief ihn, die alte Zeit zu schauen.

Lange Zeit stand er zuweilen da und schaute, bis ein Klopfen, ein Geräusch in der Nähe ihn aus seinem Sinnen weckte: er fuhr auf und sah vor sich eine alte Klosterwand, ein altes Bildnis – – er befand sich in einer Zelle, einem einsamen Turmgemach. Nachdenklich verläßt er den altertümlichen, düsteren, dumpfen Raum und kommt erst draußen, in der frischen Luft, wieder zur Besinnung.

Raiski begann zu schriftstellern – er schrieb Verse und Prosa, zeigte sie zuerst dem einen, dann dem anderen Kameraden, dann seinem ganzen »Kreise«, und der Kreis entschied, daß er ein Talent sei.

Da machte sich Boris an einen historischen Roman, schrieb ein paar Kapitel und las sie gleichfalls in seinem Kreise vor. Die Kameraden begannen in ihm ihre »Hoffnung« zu sehen und wurden alsbald seine Trabanten.

Bei den Repetitionen und Prüfungen hatten Raiski und seine Schar nicht viel Glück, sie traten dann zumeist in die zweite und dritte Reihe und bekamen ihre Plätze auf der vierten Bank.

Auf der ersten und zweiten Bank saßen die »Musterschüler«, die so friedlich und still in den Vorlesungen zu sitzen pflegten, die alles nachgeschrieben hatten, die stolz, mit ruhigem Gewissen ins Examen gingen und noch stolzer daraus zurückkamen – diese geborenen Magister und Kandidaten.

Sie pflegten auf den »Kreis« von oben herabzuschauen, hielten Raiski für abgetan, wenn sie ihn einen Romantiker nannten, und hörten seine Verse und seine Prosa gleichgültig oder überhaupt nicht an.

Sie widmeten sich allen Gegenständen, über die sie Vorlesungen hörten, mit gleichem Eifer und hatten für nichts eine besondere Vorliebe. Auch später, im Dienste, im Leben, wohin man sie auch stellen mag, in welche Lage sie auch kommen mögen, schlagen diese »Musterknaben« stets ihr »recht befriedigend« heraus und schreiten ruhig und gemessen, ohne nach links oder rechts zu sehen, auf ihrem Lebenswege dahin.

Raiskis Freunde zeigten seine Verse und seine prosaischen Versuche dem einen und anderen der »genialen« Professoren, den »Propheten«, wie sie von ihren Verehrern genannt wurden.

»Ach, unser Iwan Iwanytsch! Ach, unser Peter Petrowitsch! Unsere genialen Führer, unsere Leuchten!« pflegten die begeisterten Jünglinge unter verzücktem Augenverdrehen von diesen Heroen der Wissenschaft zu schwärmen.

Einer der »Propheten« besprach Raiskis Verse öffentlich in einer Vorlesung und sagte, daß in ihnen das malerische Element vorherrsche, daß sie zahlreiche schöne Bilder enthielten und musikalischen Wohlklang besäßen, jedoch noch der Tiefe und Kraft ermangelten. Aber – so prophezeite er – das würde mit den Jahren noch kommen, und er beglückwünschte den jungen Autor zu seinem Talent und riet ihm, die Muse »zu hegen und zu pflegen«, das heißt ernsthaft an sich zu arbeiten.

Raiski war ganz berauscht von dem Lob, er schwankte, als er das Auditorium verließ, und sein »Kreis« feierte das Ereignis durch eine Orgie, die drei volle Tage anhielt.

Ein anderer »Prophet« las den Anfang seines Romans und lud den jungen Autor zu sich ein. Raiski verließ den Professor mit einem Gefühl, als hätte er ein erquickendes warmes Bad genommen – auch dieser »Prophet« hatte sein Talent anerkannt und ihm einen ganzen Haufen alter Bücher, Chroniken, Urkunden und Verträge mitgegeben.

»Kommen Sie Ihrem Talent durch ein ernsthaftes Studium zu Hilfe,« hatte er ihm gesagt, »dann haben Sie entschieden eine Zukunft!«

Raiski machte nun noch »ernsthafter« seine Ausflüge in die Umgegend, vertiefte sich noch mehr in das Anschauen der alten Gebäude, besah, befühlte, beroch die Steine, las die Inschriften auf ihnen, vermochte jedoch nicht zwei Seiten in den Chroniken, die der Professor ihm mitgegeben hatte, zu erfassen und schilderte das russische Leben so, wie er es in seinen poetischen Visionen erblickte. Das Ende vom Liede war, daß er sehr »ernsthaft« ein scherzhaftes Gedicht schrieb, in dem er einen Kameraden besang, der eine Abhandlung über die »Schuldverschreibungen« verfaßt hatte, dabei aber seiner Wirtin Kost und Quartier regelmäßig schuldig blieb.

 

Nur mit Mühe und Not quälte er sich von einem Kursus zum anderen hindurch, die Examina machten ihm jedesmal unendliche Schwierigkeiten. Aber sein Ruf als »zukünftiges Talent«, eine Anzahl gelungener Verse, ein paar prosaische Versuche und Skizzen aus der russischen Geschichte halfen ihm schließlich über alle Klippen hinweg.

»Welche Karriere wollen Sie denn einschlagen?« fragte ihn eines Tages ganz unerwartet der Dekan. »In acht Tagen verlassen Sie die Universität – was wollen Sie denn anfangen?«

Raiski schwieg.

»Welchen Beruf wollen Sie ergreifen?« fragte der Dekan abermals.

»Ich . . . will Künstler werden . . .!« wollte Raiski schon antworten, erinnerte sich jedoch, wie wenig der Vormund und die Großtante von der gleichen Antwort erbaut gewesen waren. So sagte er denn diesmal.

»Ich . . . will Verse schreiben.«

»Aber das ist doch kein Beruf, das treibt man doch nur so nebenher!« bemerkte der Dekan.

»Ich will auch . . . Erzählungen schreiben,« sagte Raiski.

»Gewiß, auch das ist ganz schön, Sie haben ja Talent. Aber das tut man erst später, wenn das Talent gereift ist. Ich meine . . . welche praktische Karriere haben Sie gewählt?«

»Zuerst will ich in die Armee eintreten, in die Garde, und dann in den Zivildienst, will Staatsanwalt werden . . . und Gouverneur . . .« antwortete Raiski.

Der Dekan lächelte.

»Zunächst also wohl Junker? Nun, das ist doch ein Wort!« sagte er. »Sie und Leontij Koslow sind die beiden einzigen, die sich keine bestimmte Laufbahn erwählt haben.«

Als man Koslow gefragt hatte, was er werden wolle, hatte er nur geantwortet: »Lehrer irgendwo in der Provinz« – und dabei war er geblieben.

Dreizehntes Kapitel

In Petersburg trat Raiski als Junker in ein Garderegiment ein: er ritt begeistert in der Front mit, war ganz Feuer und Flamme, fühlte beim Klange der Regimentsmusik, wie es ihm gleich Ameisen über den Rücken lief, reckte sich, klirrte mit Säbel und Sporen, sobald er einem General begegnete. Und des Abends fuhr er dann in Gesellschaft unternehmender Kameraden mit der Troika in die Umgebung der Stadt, zu irgendeinem lustigen Picknick, oder nahm bei den russischen und ausländischen »Armiden« der Hauptstadt, in jenem Zauberreiche, das »den Glauben an alles Bessere« erstickt, Unterricht in der Kunst des Lebens und Liebens.

Hier erlosch denn auch in ihm fast gänzlich aller Glaube an Ehre und Redlichkeit, wie an den Menschen überhaupt. Ohne es zu wollen, ja oft wider Willen, lernte er die Geheimnisse dieser »Wunderwelt« kennen, und seine empfängliche Natur sog, begierig wie ein Schwamm, alle auf ihn einstürmenden Eindrücke auf.

Die Frauen dieser Welt erschienen ihm als ein ganz besonderer Menschenschlag. Wie der Dampf und die Maschine die lebendige Kraft der menschlichen Hand ersetzt haben, so hatte hier der umfangreiche Mechanismus eines scheinbaren Lebens, einer scheinbaren Leidenschaft das natürliche Leben und die natürlichen Leidenschaften ersetzt. Diese Welt kannte keine wahre Neigung, keine Kinder, keine Wiegen, keine Brüder und Schwestern, keine Gatten und Gattinnen, sondern nur Männer und Frauen.

Unter den Männern gab es solche, die mitten aus ihren Arbeiten und Sorgen heraus, nicht selten unter Verzicht auf die behagliche Wärme, die stillen Sympathien der Familie, sich in diese Welt der jederzeit lauernden Romane und Dramen wie in eine Spielhölle stürzten und in dem Dunst erlogener Gefühle und teuer bezahlter Zärtlichkeiten sich zu berauschen suchten. Andere wurden durch ihr jugendliches Feuer und ihre Unerfahrenheit in dieses Reich erheuchelter Liebe mit all ihren raffinierten Künsten hineingetrieben, wie der Gastronom durch die erlesenen Schüsseln eines Pariser Kochs vom schlichten häuslichen Mahle hinweggelockt wird.

Alles in diesem Reiche läuft auf Berechnung hinaus: Luxus, Ehrgeiz, Eitelkeit sind die Motive, die dort wirksam sind, nie darf das Herz sprechen, nie werden die Gefühle gefragt. Die Schönen dieses Zauberreiches bringen alles der Berechnung zum Opfer, selbst ihre Leidenschaft, ihr Temperament, wenn die Situation und die Rolle, die sie zu spielen haben, es erfordern.

Sie sind nicht als Opfer ihrer sozialen Lage anzusehen, wie jene unglücklichen Geschöpfe, die für ein Stück Brot, für das bißchen Kleidung und Obdach sich der tierischen Begierde hingeben. Nein: dort gibt es Priesterinnen der starken, wenn auch künstlich hervorgerufenen Leidenschaften, feine Spielerinnen, die mit dem Leben und der Liebe spielen wie der Kartenspieler mit den Karten.

Dort gibt es keine ernsteren Ziele, keine solideren Absichten und Hoffnungen. Fern liegt der Gedanke an den stillen Hafen in diesem sturmgepeitschten Meere. Die Priesterin dieses Kults, die »Mutter der Wollust«, will nicht, wie der echte, leidenschaftliche Spieler, einen großen Schlag machen und dann für immer den Spieltisch verlassen, um in einem stillen Winkel ein neues Leben zu beginnen.

Würde solch eine solid veranlagte Natur sich in diesen Kreis verirren, dann würde sie entweder ihren Charakter oder ihren Reiz bald verlieren: sie müßte entweder bald ihren besseren Absichten entsagen, oder sie sähe sich rasch von ihren Verehrern verlassen, wenn sie den freien Sitten und Anschauungen dieser Welt nicht huldigen wollte.

Ihr Leben wird ein ewiges Spiel mit der Leidenschaft, und das Ziel dieses Lebens ist der unbegrenzte Sinnengenuß, der zur Gewohnheit wird und Ermüdung und Übersättigung herbeiführt. Das einzige Schreckbild aber, vor dem diese Schönen zittern, ist, daß sie altern und überflüssig werden.

Nichts fürchtet die Priesterin dieses Kults mehr als das. Im Spiel der Leidenschaft nimmt sie alle nur erdenklichen Gestalten, Charaktere und Formen an, wie ihre Rolle sie gerade verlangt – doch immer sind sie nur geliehen, wie die Kostüme für eine Maskerade. Sie ist schüchtern und bescheiden, oder stolz und unzugänglich, oder zärtlich und anschmiegsam, wie der Augenblick es erfordert.

Legt sie die Maske ab, dann ist sie oft bösartig, gefühllos, ja selbst grausam. Vor nichts schreckt sie zurück, und nicht einen Augenblick wägt sie Bedenken, aus Rachsucht oder rein zu ihrer Unterhaltung das Familienglück, die Ruhe eines Menschen zu zerstören, von seinem finanziellen Ruin nicht zu reden; denn die Männer zu ruinieren, ist ja eben ihr – Beruf.

Unbegrenzter Luxus muß sie umgeben. Keiner ihrer Wünsche darf unerfüllt bleiben.

Ihre Wohnung ist wie ein Tempel – ein Tempel freilich, der einer Ausstellung von Möbeln und teuren Nippsachen gleicht. Nicht der Geschmack der Besitzerin, sondern der des Möbelhändlers und Tapezierers kommt darin zur Geltung. Es fehlt der Stempel des verfeinerten, künstlerisch geläuterten Empfindens, das in dieser Welt nicht zur Geltung zu kommen vermöchte. Das kostbare Service, die teure Equipage, Pferde, Lakaien, Kammerzofen, die wie Balletteusen gekleidet gehen, sind hier der Maßstab für Vornehmheit und Geschmack.

Ein teures Gemälde, eine kostbare Statue, die sich zufällig einmal hierher verirren, werden nicht nach dem Kunstwert, sondern nach dem Preise, der für sie bezahlt worden ist, beurteilt. Keinen Gastgeber, keine Hausfrau, keine Kinder, keine alten, treuen Diener gibt es in dem Quartier solch einer Göttin der Lust.

Sie lebt wie auf einer Wegstation, immer auf dem Sprunge, jeden Augenblick zur Abfahrt bereit. Sie hat keine Freunde, weder unter den Männern noch unter den Frauen, sondern nur Bekannte, diese freilich in großer Menge.

Das Leben einer Schönen dieser Welt, dieses »Lumpenkönigreichs«, wie Raiski es nannte, gleicht einem bunten Kaleidoskop: Besuche in ihrem Kreise, Theatervorstellungen, Spazierfahrten, wahnsinnig teure Dejeuners, Diners, die bis zum frühen Morgen, und nächtliche Orgien, die bis zum Mittag des nächsten Tages andauern, reihen sich aneinander, und die einzige Sorge ist, daß kein Stillstand in dem ewigen Wechsel eintrete.

Ein Tag, der nicht voll besetzt ist, ein Abend, an dem es keinen Trubel, keine Ausfahrt, kein Theater, keine lustige Schmauserei gibt, gilt als etwas Entsetzliches. Solch ein Tag kann zum Nachdenken bringen, kann allerhand peinliche Fragen anregen, kann die bessere Empfindung, das Gewissen, das Gespenst der Zukunft wecken . . .

Voll Angst wehrt sie das ungewohnte Gefühl von sich ab, mit Gewalt verscheucht sie die auftauchenden Fragen. Nur selten, und nur bei wenigen, treten solche Momente ein. Ihr Denken schlummert zumeist, ihr Herz ist kalt und gefühllos, ihr Wissen auf ein Mindestmaß beschränkt.

Brillanten – das einzige Echte an ihr – und sonstigen Schmuck möglichst über den Bedarf von ihren Verehrern kaufen zu lassen und dadurch die Juweliere reich zu machen – das ist das einzige Ziel ihres Ehrgeizes.

Und ein anderer wichtiger Punkt ist das Reisen: in Paris die Gräfin zu spielen, irgendwo in Italien einen Palast zu bewohnen, die eigene Schönheit und das Gold im Beutel glänzen zu lassen, unterwegs die eine und andere Eroberung zu machen, Männer von Rang und Reichtum natürlich – – ja, das ist ihnen ein herrliches Ziel!

Das Ideal des Mannes ist ihnen vor allem der homme genereux liberal, der mit Eleganz das Geld zum Fenster hinauswirft; dann kommt der comte, der prince usw. Von Geist, Ehre, Sittlichkeit hat diese Welt ihre ganz besonderen Vorstellungen. Sparsamkeit, Zurückhaltung, Ordnungsliebe gelten hier als sittliche Gebrechen eines Mannes. Wer mit diesen Eigenschaften behaftet ist, wird als Auswurf der Menschheit angesehen.

Während Raiski als junger Offizier und dann später als junger Beamter sich in der Welt der Petersburger »goldenen Jugend« bewegte, kam er oft genug in die Lage, dieser Welt der Schönen seinen reichlichen Tribut zu zollen, und als er aus diesen Kreisen schied, geschah es mit einem Gefühl tiefer Trauer und mit reichen Erfahrungen, ohne die er recht wohl hätte auskommen können.

Er hatte den Wunsch der Großtante erfüllt und war Offizier geworden – aber die Bilder, die er dort unten an der Wolga in sich aufgenommen hatte, der schattige Park mit dem Hain und der Schlucht dahinter, die wildbegeisterten Augen Waßjukows und die Klänge seiner Geige verfolgten ihn nach wie vor.

Er träumte von einer weiten Kunstarena, von der Akademie oder dem Konservatorium, und er sah im Geiste sich selbst als eifrigen Mitstreiter in dieser Arena der Künste.

Er stellte sich ein stilles Atelier mit gedämpftem Licht vor, mit Marmorwerken, angefangenen Gemälden und Modellpuppen – und er selbst, im Samtkittel, mit wallendem Künstlerhaar, saß mitten darin in liebevoller Betrachtung des Kunstwerks, das er eben auf der Staffelei hatte: es ist der Kopf eines Freundes, dessen Bildnis er malt.

Noch fehlt die Seele darin, noch ist kein Leben, kein Feuer in den Augen. Aber nun setzt er die beiden magischen Punkte hinein und führt ein paar kühne Striche, und plötzlich lebt dieser Kopf, er spricht und blickt so offen: Geist ist darin, und Gefühl, und Schönheit . . .

Besucher kommen, blicken schüchtern ins Atelier und flüstern leise . . .

Und dann kommt endlich die Ausstellung. Er steht in einem Winkel und schaut nach seinem Gemälde hin, aber er sieht es nicht, denn die Menschen drängen sich davor und nennen seinen Namen. Irgend jemand bemerkt ihn und zeigt ihn der Menge, und alle Gesichter wenden sich nun von dem Bilde ab und ihm zu. Er wird ganz verwirrt – und erwacht aus dem schönen Traume . . .

Er reichte seinen Abschied beim Regiment ein, bat um Überführung in den Zivildienst und kam an den Tisch, dessen Vorsteher zu jener Zeit Iwan Iwanowitsch Ajanow war. Doch der Leser weiß bereits, daß er auch im Zivildienst keinen größeren Erfolg hatte als beim Militär. Auch hier schied er aus und ging – auf die Kunstakademie.

Schüchtern betrat er ihre Räume und sah sich ringsum: alles saß schweigend da und zeichnete nach Gipsköpfen. Auch er begann zu zeichnen, doch schon nach zwei Stunden ging er und zeichnete zu Hause weiter, gleichfalls nach Gipsköpfen.

Aber hier geht die Sache nur mit Hindernissen vor sich – bald zündet er sich eine Zigarre an, bald streckt er die Beine auf dem Diwan aus, beginnt zu lesen, oder versinkt in Nachdenken und lauscht auf die Motive, die ihm im Kopfe klingen. Er setzt sich ans Klavier und vergißt alles rings um sich, auch das Zeichnen.

Drei Wochen später geht er wieder in die Akademie: wieder sitzen dort alle schweigend in den Sälen und zeichnen nach Gipsköpfen.

Er lernt den einen und anderen der Studiengenossen kennen, ladet ihn zu sich ein und zeigt ihm seine Arbeit.

»Sie besitzen Talent – wo haben Sie Unterricht genommen?« fragte man ihn. »Nur . . . dieser Arm da ist zu lang . . . und der Rücken ist schief. . . die Zeichnung stimmt nicht!«

 

Sie luden ihn zu ihren kleinen Gesellschaften ein, und er war da ganz im künstlerischen Fahrwasser: sie sprachen von Kolorit, von Büsten, von Armen und Beinen, von der »Wahrheit« in der Kunst, von der Akademie – und in weiter Perspektive erschienen dann Düsseldorf, Paris und Rom. Sie berechneten in seiner Gegenwart, wieviel Zeit sie zu ihrer Ausbildung brauchen würden: von sieben, acht Jahren war die Rede, eine entsetzliche Spanne Zeit! Und dabei waren sie alle schon erwachsene Männer!

Sechs Monate lang blieb er dann gänzlich fort von der Akademie, und als er von neuem hinkam, sah er dieselben Genossen schweigend dasitzen und – nach Gipsköpfen zeichnen.

Er warf einen Blick in einen zweiten Saal: dort stand ein Modell, und schweigend zeichneten die Schüler ihren Akt. Einen Monat darauf kam Raiski wieder – und wiederum waren alle in das Anschauen des Modells und in ihre Zeichnung vertieft. Dasselbe Schweigen, dieselbe gespannte Aufmerksamkeit bei allen.

Er betrat das Atelier eines Professors und sah dort alles so, wie er es sich vorgestellt hatte: den Raum mit dem gedämpften Licht, und die Bilder, die Modellpuppe, die Masken, Arme, Beine . . . alles ganz genau so.

Nur der Künstler selbst trat ihm nicht im eleganten Samtkittel, sondern in einem schmutzigen Paletot, nicht mit wallenden Locken, sondern mit schlichtem, kurzgeschorenem Haar entgegen, und nicht in liebevolle Betrachtung seines Kunstwerks war er versunken, sondern in die Qual der inneren Arbeit und Unruhe, Ermüdung malte sich in seinem Gesichte. Sein gequälter Blick bohrte sich tief in das Gemälde ein, er ging jetzt darauf zu, trat dann wieder zurück, er sann und sann und schaute . . .

Und dann ist’s plötzlich, als ob er in sich versänke – er wird still und stumm, nur die Augen glänzen, und die Hand radiert und wischt fort, was vorher dagewesen, und sucht hastig einen neuen, eben unter qualvoller innerer Arbeit erfaßten Zug zu fixieren, als fürchtete sie, daß er wieder entschlüpfen könnte . . .

Verschüchtert begab sich Raiski nach Hause, spannte die Leinwand auf den Rahmen und begann eine Kreidezeichnung. Drei Tage lang zeichnete er, wischte fort, zeichnete von neuem, ließ dann alle Büsten und Zeichnungen sein und nahm den Pinsel zur Hand.

Dreimal wechselte er die Leinwand, und erst auf der vierten erschien der Kopf, der ihm vorschwebte – der Kopf Hektors und die Gesichter der Andromache und des Kindes. Die Arme ließ er noch fort: »Die kommen zuletzt!« dachte er. Die Gewänder fügte er aufs Geratewohl hinzu, nach den wenigen Angaben, die er bei Homer fand: andere Quellen hatte er nicht zur Hand, und wo hätte er sie in der Eile suchen sollen?

Ein halbes Jahr lang malte er an dem Bilde. Die Gesichter des Hektor und der Andromache nahmen seine ganze schöpferische Kraft in Anspruch, mit dem Zubehör gab er sich nicht weiter ab: »Das kommt gelegentlich einmal, später!«

Auch das Kind führte er nur ganz oberflächlich aus, einzig aus dem Grunde, weil sonst die Abschiedsszene nicht wahrscheinlich gewesen wäre.

Er wollte das Bild den Kameraden zeigen, aber sie malten ja selbst noch nicht in Farben, sondern kopierten, obschon sie längst alle bärtige Männer waren, immer noch ihre Büsten. Er entschloß sich schließlich, seine Arbeit einem Professor zu zeigen. Es war ein leutseliger Herr, dem der Hochmut fremd war, und der, so hoffte er, die Arbeit nach ihrem wahren Wert beurteilen würde. Mit pochendem Herzen brachte er sein Gemälde hin und stellte es zunächst im Korridor hin.

Der Professor ließ es ins Atelier bringen.

»Was ist denn das für ein Schinken?« fragte er mit einem flüchtigen Blick auf das Bild. Dann aber sah er es noch einmal an, nahm es plötzlich und stellte es auf die Staffelei. Er zog die Brauen zusammen und betrachtete mit prüfendem Blick alle Einzelheiten.

»Haben Sie das gemalt?« fragte er und zeigte auf Hektors Kopf.

»Ja.«

»Auch das hier?« Der Professor zeigte auf die Andromache.

»Auch das.«

»Und dies da?« fragte er weiter und wies auf das Kind.

»Auch dies.«

»Das kann nicht sein: das haben zwei verschiedene Leute gemalt!« rief der Professor schroff und kurz. Dann öffnete er die Tür zu einem zweiten Zimmer und rief: »Iwan Iwanowitsch!«

Iwan Iwanowitsch, ein Kollege des Professors, kam herein.

»Sieh dir das mal an!« sagte der Professor.

Er zeigte auf die Köpfe der beiden erwachsenen Gestalten und dann auf das Kind. Der andere prüfte das Bild aufmerksam und schweigend. Raiski zitterte.

»Was siehst du?« fragte der Professor.

»Was ich sehe?« erwiderte der andere. »Daß das keiner von den Unserigen gemalt hat . . . Wer hat denn den Kopf da zu der Schmiererei hinzugefügt? Dieser Kopf, ja . . . hm—m . . . Aber das Ohr sitzt nicht an der richtigen Stelle! Wer hat das gemalt?«

Der Professor fragte Raiski, bei wem er Unterricht gehabt habe, bestätigte ihm, daß er Talent besitze, und wusch ihm gehörig den Kopf. als er hörte, daß Raiski nur etwa zehnmal in der Akademie gewesen sei und keine Gipsköpfe zeichne.

Sehen Sie doch mal her: nicht ein Zug ist richtig! Dieses Bein da ist kürzer als das andere, und die Schulter der Andromache sitzt nicht an der richtigen Stelle; wenn Hektor sich aufrichtete, würde sie ihm nur bis an den Bauch reichen. Und diese Muskeln, sehen Sie doch . . .«

Er zeigte nach dem Schenkel und dem Arme Hektors. »Sie können nicht zeichnen,« sagte er. »Sie müssen sich drei Jahre lang hinsetzen, müssen nach Gips zeichnen und Anatomie hören . . . Aber der Kopf Hektors und die Augen . . . haben Sie das wirklich gemacht?«

»Ja,« sagte Raiski.

Der Professor zuckte die Achseln. Iwan Iwanowitsch aber meinte: »Hm! Sie haben Talent, das sieht man. Lernen Sie nur tüchtig; mit der Zeit . . .«

»Lernen Sie . . . mit der Zeit . . . das sagen sie alle!« dachte Raiski. Er aber wollte alles sogleich können, ohne erst zu lernen. In nachdenklicher Stimmung kam er zu Hause an und fand dort einige Briefe vor. Die Großtante schalt ihn darin aus, daß er seinen Abschied als Offizier genommen habe, und der Vormund riet ihm, beim Senat einzutreten. Er schickte ihm eine Anzahl von Empfehlungsschreiben.

Doch Raiski trat nicht beim Senat ein und zeichnete auch keine Gipsköpfe in der Akademie, sondern las sehr viel, schrieb fleißig Verse und Prosa, tanzte, bewegte sich in der großen Welt, besuchte die Theater und die »Armiden«, komponierte zwischendurch drei Walzer und zeichnete ein paar weibliche Porträts. Und nach einer tollen Karnevalswoche kam er dann plötzlich zur Vernunft, besann sich auf seine künstlerische Karriere und stürzte Hals über Kopf nach der Akademie: dort sah er die Schüler schweigend und ernst in dem einen Saal nach Gipsköpfen, in dem anderen nach dem lebenden Modell ihre Studien zeichnen . . .

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