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Die Schlucht

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»C’est assez cousin!« fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Nehmen Sie mein Geld und verteilen Sie es unter jene dort . . .« Sie zeigte nach der Straße.

»Sie müssen selbst zu geben lernen, Cousine; Sie müssen diese Sorgen und Unruhen des Lebens verstehen und an sie glauben lernen, dann werden Sie auch lernen, Ihr Geld zu verteilen.«

Sie schwiegen beide.

»Das also sind Ihre principes . . . Und was weiter?« fragte sie.

»Und weiter . . . müssen Sie lieben . . . und geliebt werden . . .«

»Und dann?«

»Dann . . . müssen Sie . . . ›sich ausbreiten und vermehren und die Erde bevölkern‹. Dieses heilige Gebot lassen Sie unerfüllt . . .«

Sie errötete und mußte lächeln, so sehr sie auch bemüht war, sich Zwang anzutun. Auch Raiski lächelte, offenbar zufrieden damit, daß ihm diese Definition vom Wesen der Liebe so leicht geworden war.

»Und wenn ich nun doch schon geliebt hätte?« bemerkte sie.

»Sie?« fragte er und ließ seinen Blick über ihr leidenschaftsloses Gesicht gleiten. »Sie hätten geliebt und . . . gelitten?«

»Ich war glücklich. Muß man denn immer leiden?«

»Daher kommt es auch, daß Sie das Leben nicht kennen und fremde Leiden nicht begreifen, weil Sie selbst nicht geliebt haben, verstehen Sie nicht, was die anderen drückt, empfinden Sie nichts für diesen Bauer, der sich im Schweiße seines Angesichts plagt, diese Bäuerinnen, die in glühender Sonnenhitze das Korn schneiden. Es gibt keine Liebe ohne Leiden – nein!« rief er lebhaft. »Und wenn Ihre Zunge auch lügen wollte, Ihre Augen können es nicht, und wenigstens für einen Moment müßte Ihr Gesicht die Farbe wechseln. Ihre Augen aber sagen es deutlich und klar: Sie sind, als wären Sie gestern geboren . . .«

»Sie sind ein Dichter, ein Künstler, Cousin, Sie brauchen Dramen, Wunden, Seufzer und was sonst alles! Sie haben kein Verständnis für ein ruhiges, glückliches Leben, wie ich kein Verständnis für das Ihrige habe . . .«

»Das seh’ ich, Cousine! Ob Sie je dieses Verständnis gewinnen werden – das ist’s, was ich wissen möchte! Sie haben geliebt, sagen Sie – und sind doch nie aus Ihrer olympischen Ruhe herausgetreten?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Wie haben Sie das angefangen? Erzählen Sie! Haben Sie ebenso ruhig dagesessen und in die Welt hineingeschaut, ebenso langsam Toilette gemacht und ebenso gleichmütig den Wagen erwartet, der Sie dahin bringen sollte, wohin Ihr Herz sich sehnte? Sind Sie nicht ein einziges Mal außer sich geraten, haben Sie sich nicht tausendmal im stillen gefragt, ob er wohl da sein, ob er Sie erwarten und an Sie denken wird? Und sind Sie nie verzehrt gewesen von Ungeduld, nie errötet vor Freude, wenn Sie ihn endlich erblickten? Und ist nicht alle Farbe von Ihrem Antlitz gewichen, hat nicht Schreck und Bestürzung sich darauf gemalt, wenn Sie ihn nicht sahen?«

Wiederum schüttelte sie den Kopf.

»Stürzten Sie ihm nicht freudig, der Worte unfähig, entgegen, wenn er endlich ins Zimmer trat . . .?«

»Nein,« sagte sie, immer mit demselben Lächeln.

»Und wenn Sie sich zur Ruhe legten . . .« – eine leichte Unruhe machte sich in ihren Zügen bemerkbar – ». . . trat er Ihnen da nicht vor Augen? . . .« fuhr er fort.

»Was reden Sie da, Cousin!« rief sie fast entsetzt.

»Neigte er sich da nicht – wenigstens in Ihrer Vorstellung – über Sie? . . .«

»Nein, nein . . .« wehrte sie kopfschüttelnd ab.

»Nahm er nicht Ihre Hand, um einen Kuß darauf zu drücken? . . .«

Helle Röte bedeckte ihre Wangen.

»Sie wissen, daß ich verheiratet war, Cousin . . . Assez, assez de grace . . .«

»Wenn Sie wirklich geliebt haben, Cousine,« fuhr er fort, ohne auf ihre Einwände zu achten, »dann müssen Sie sich doch erinnern, wie köstlich das Erwachen nach solch einer Nacht war, wie freudig das Bewußtsein, daß Sie in dieser Welt lebten, daß es Menschen gibt auf dieser Welt, und darunter auch ihn . . .«

Sie senkte die langen Wimpern und hörte, ungeduldig die Schuhspitzen bewegend, seine Worte zu Ende.

»Wenn alles das nicht war – wie haben Sie denn geliebt, Cousine?« schloß er mit einer Frage.

»Anders.«

»Erzählen Sie – oder gibt es bei dieser erhabeneren Art zu lieben irgend etwas zu verheimlichen? . . .«

»Durchaus nicht! Es gab da nichts Geheimnisvolles und nichts Erhabenes, es war eben wie bei allen . . .«

»Wie bei allen? Ach nein, nein, das glaube ich nicht! Sie haben noch nicht geliebt! Und wenn Sie noch einmal lieben sollten – was wird dann mit Ihnen werden, wie wird es dann aussehen hier in diesem jetzt so langweilig vornehmen Zimmer? Die Blumen da in den Vasen werden dann nicht mehr so symmetrisch geordnet sein, alles wird hier von Liebe reden . . .«

»Genug, genug!« rief sie mit einem matten Lächeln, offenbar erschöpft durch die aufregende Unterhaltung. »Ich kann mir vorstellen, was für Augen die Tanten machen würden,« fuhr sie lächelnd fort, »wenn sie hier so alles durcheinander sähen, die Bücher, die Blumen, und wenn die ganze Straße ungehindert durchs Fenster hineinschauen könnte! . . .«

»Schon wieder die Tanten!« rief er in vorwurfsvollem Tone. »Kein Schritt ohne sie! Und das wird so bleiben, solange sie leben?«

»Allerdings!« erwiderte sie nachdenklich. »Wie sollte es anders sein?«

»Und Sie selbst, sind Sie gar keines freien Aufschwunges mehr fähig, keines eigenen Schrittes, keiner Laune, keiner Tollheit, ja nicht einmal einer kleinen Torheit? . . .«

Sie dachte ein Weilchen nach und lächelte dann plötzlich unter leichtem Erröten.

»Ah, Sie erröten, Cousine! Die Tanten sind also doch nicht immer dabeigewesen, haben doch nicht alles gesehen und gehört! Sagen Sie, was ist’s?« bat er sie.

»Mir ist da wirklich eine Torheit eingefallen, ich werde sie Ihnen gelegentlich erzählen. Ich war damals noch ein junges Mädchen. Sie werden sehen, daß es auch bei mir einmal Tränen und Zittern und banges Erröten gab . . . et tout ce que vous aimez tant! Aber ich stelle die Bedingung, daß Sie dann nicht wieder von Liebe und Leidenschaften, von Seufzern und Klagerufen reden. Und nun wollen wir zu den Tanten gehen!«

Er begab sich in den Salon, während sie an ein Schränkchen trat und ein Fläschchen mit Eau de Cologne herausnahm. Sie goß ein paar Tropfen auf die Hand, zerrieb sie und zog nachdenklich den Duft ein; dann glättete sie vor dem Spiegel ihr Haar und ging gleichfalls in den Salon.

Sie nahm neben den Tanten Platz und folgte aufmerksam dem Spiele, während Raiski hinter ihr stand. Sie war ruhig und frisch. In seiner Seele aber herrschte Unruhe und der heiße Wunsch, zu erfahren, was jetzt in ihr vorging. Gern hätte er in ihren Augen gelesen, um zu sehen, ob seine Worte in ihr weiterwirkten, doch blickte sie nicht ein einziges Mal auf. Und als sie dann nach Beendigung des Spiels ihn ansah und mit ihm sprach, war ihr Gesicht ganz dasselbe, wie gestern und vorgestern und vor einem halben Jahre.

»Was geht eigentlich in ihr vor, welchen Inhalt hat ihr Leben? Wenn nichts ihre Seele beunruhigt, wenn sie weder die Hoffnung kennt, noch die Sorgen, wenn sie wirklich erhaben ist über die Welt und ihre Leidenschaften – wie kommt es dann, daß sie keine Langeweile, keinen Überdruß am Leben empfindet . . . wie ich sie doch empfinde? Das möchte ich ergründen!«

Fünftes Kapitel

»Nun, wie hast du abgeschnitten?« fragte Raiski seinen Freund Ajanow, als sie auf der Straße nebeneinander hergingen.

»Fünfundvierzig Rubel habe ich gewonnen. Und was hast du erreicht?«

Raiski zuckte die Achseln und erzählte ihm den Inhalt seines Gesprächs mit Sophie.

»Auch eine Art, die Zeit totzuschlagen. Macht dir das wirklich Spaß?«

»Spaß machen – was für ein albernes Wort! Nur die Kinder und die Franzosen fragen danach, ob ihnen etwas Spaß macht: o’amuser . . .«

»Wie soll man das bezeichnen, was du treibst? Und welchen Zweck hat es?«

»Ich sagte dir schon, welchen Zweck es hat,« versetzte Raiski gereizt. »Ihre Schönheit begeistert mich und zieht mich an – die Langeweile schwindet – es gewährt mir einen Genuß – verstehst du? Eben kommt mir der Gedanke, sie zu porträtieren: das wird einen Monat dauern, ich werde Gelegenheit haben, sie genau zu studieren . . .«

»Verlieb’ dich nur nicht in sie,« bemerkte Ajanow. »Heiraten willst du sie nicht, wie du sagst – und nur so mit den Leidenschaften spielen, das hat auch seine Gefahr. Du kannst dich dabei leicht verbrennen . . .«

»Wem sagst du das?« unterbrach ihn Raiski. »Als ob ich das nicht wüßte! Ich träume doch Tag und Nacht nur davon, mich einmal gehörig zu verbrennen. Sollte ich wirklich einmal so heftig Feuer fangen, daß der Brand nicht zu löschen ist – dann würde ich schließlich auch heiraten . . . Doch nein . . . die Leidenschaften erlöschen bei mir wieder – oder, wenn sie nicht erlöschen, enden sie doch nie mit einer Heirat. Dieser friedliche Hafen existiert für mich nicht: ich muß entweder Feuer und Flamme sein, oder – schlafen und mich langweilen.«

»Was hast du denn deiner Cousine heut wieder alles erzählt? Sie verglich dich mit Tschazki: mir kamst du halb wie ein Don Juan und halb wie ein Don Quixote vor. Seltsam genug benimmst du dich, das muß man sagen! Ich würde mich nicht wundern, wenn du eines schönen Tages die Kutte anziehst und plötzlich zu predigen anfängst . . .«

»Auch ich würde mich darüber nicht wundern,« sagte Raiski. »Aber ich brauche nicht die Kutte anzuziehen, wenn ich predigen will – und das will ich aufrichtig und ehrlich, überall, wo ich der Lüge, der Heuchelei und der Niedertracht begegne, mit einem Wort, wo ich die Schönheit vermisse, wenn ich auch selbst mancherlei Häßliches tue . . . Mein Temperament reagiert auf alles – sowie nur die Nerven angeregt werden, gleich meldet es sich! . . . Weißt du was, Ajanow: ich trage mich seit langem mit einem ernsten Plane: ich will einen Roman schreiben. Ich will diesem Plane meine ganze nächste Zeit widmen.«

 

Ajanow lachte auf.

»Einen ernsten Plan nennst du das!« sagte er. »Wie kann man einen Roman nur als etwas Ernsthaftes ansehen! Aber tu’s nur – schreib, du hast ja sonst nichts weiter zu tun, also schreib Romane! . . .«

»Lach’ nicht darüber, die Sache verdient keinen Spott! Ein Roman ist nicht wie ein Trauerspiel oder wie eine Komödie. In einem Roman findet alles Platz, er ist wie ein Ozean, er hat keine Ufer, man sieht sie wenigstens nicht; man ist nicht beengt und kann alles darin unterbringen. Weißt du, wer mich auf den Gedanken gebracht hat, ihn zu schreiben? Unsere gemeinsame Bekannte Anna Petrowna – du erinnerst dich ihrer? . . .«

»Die Schauspielerin?«

»Ja, die Sache ist sehr spaßig. Sie ist eine nette, kluge Person und weiß sich im Leben sehr gut zurechtzufinden, wie die meisten Frauen, solange sie in ihrer Sphäre bleiben und nicht aus dem Strome ans Ufer wollen . . .«

»Nun, also was ist mit ihr?«

»Na, die erzählte mir also, wie sie einmal um ein Stück verlegen war, als ihr Benefizabend herankam. Es gibt bei uns so wenig Dramatiker, alle neuen Arbeiten waren fest vergeben, und eine Übersetzung wollte sie nicht nehmen. Da hatte sie den Einfall, selbst ein Stück zu schreiben . . .«

»Selbst ist die Frau, wird sie wohl gedacht haben,« witzelte Ajanow.

»Wohl möglich. In ihrer liebenswürdigen Naivität weihte sie mich in ihren Plan ein und setzte mir ihn auseinander. In ›Wissen bringt Schmerz‹ zum Beispiel, sagte sie, sind die handelnden Personen ganz gewöhnliche Menschen und sprechen über die einfachsten Dinge, und auch das Thema ist durchaus einfach: Tschazki hat sich verliebt, doch verweigert man ihm die Hand der Auserwählten, die einem anderen zugedacht ist, und wie er davon erfährt, wird er wütend und reist ab. Der Vater ist seinerseits über beide wütend und sie wiederum über Moltschalin – das ist alles! . . . Bei Moliére, sagt sie, ist der Geizhals eben geizig, und Tartuffe ein gemeiner Heuchler. Es lohnt wirklich nicht, meinte sie, sich eine knifflichere, interessantere Intrige zurechtzulegen. Eine Komödie zu schreiben schien ihr, mit einem Wort, eine ebenso unernste Sache, wie dir das Romanschreiben. An eine Tragödie wagte sie sich nicht heran; hier schien sie doch ihre Unzulänglichkeit einzusehen. Mit der Komödie machte sie jedoch Ernst und schrieb innerhalb einer Woche zehn Bogen voll. Ich bat sie, mir zu zeigen, was sie geschrieben hätte – nein, um keinen Preis! ›Nun, sind Sie fertig?‹ fragte ich sie nach einiger Zeit. – ›So sehr ich mich auch quäle; ich kann das Ende nicht herausarbeiten,‹ antwortete sie, ›die Personen reden und reden ohne Aufhören, und da hab’ ich’s schließlich sein lassen.‹ Die Ärmste! Schade, daß sie sich an eine Komödie gemacht hat, die einen Anfang und ein Ende haben muß, in der der Knoten zu schürzen und zu lösen ist. Hätte sie einen Roman geschrieben, dann wäre sicher etwas dabei herausgekommen, und die Sache wäre nicht so in endlosen Redereien verlaufen. Ich will einen Roman schreiben, Ajanow! Im Roman läßt sich das Leben so schildern, wie es ist, im Ganzen wie in seinen Teilen.«

»Welches Leben? Dein eigenes – oder fremdes?« fragte Ajanow. »Du willst uns wohl alle darin abkonterfeien? . . .«

»Hab’ keine Angst; was vielleicht der Pinsel des Malers fertig bekommt, das läßt sich in den anderen Künsten schwer ausführen. Es kommt alles auf eine lebendige, farbenreiche Darstellung und klare Vorstellungen an; man muß eine lebhafte Phantasie, eine originelle Auffassungsgabe, etwas Humor, etwas Gemüt, etwas Poesie und vor allem viel Aufrichtigkeit und Ausdauer besitzen . . .«

Er schwieg und ging in Nachdenken versunken neben dem anderen her.

»Immer schreib drauflos,« bemerkte Ajanow, »was dir gerade in den Kopf kommt; irgendwas wird schon dabei heraussehen.«

Raiski stieß einen Seufzer aus.

»Nein,« sagte er, »eins habe ich bei meiner Aufzählung vergessen: das Talent!«

»Allerdings – wer nicht schreiben und lesen kann, der wird auch keinen Roman schreiben können . . .«

»Du kannst schreiben und lesen – warum schreibst du ihn also nicht?« fiel ihm Raiski ins Wort.

»Warum? Weil ich etwas anderes zu tun habe. Ich arbeite an einem großen Werke . . .«

»Du prahlst wieder mit deinem Werke! Laß die Hand von deiner Schreiberei – das ist, mein’ ich, das beste Werk, das du vollbringen kannst.«

»Und du glaubst, ein Roman wird mir Ersatz schaffen für meine fünftausend Rubel Gehalt nebst freier Wohnung und Feuerung und dem entsprechenden Range?«

»Schämst du dich nicht, so zu reden? Wann werden wir endlich Menschen sein?«

»Ich bin bereits ein ›Mensch‹ – und zwar seit dem Tage, da mein Gehalt auf zweitausend Rubel gestiegen war. Seit jenem Tage weiß ich auch, daß die Humanisierung der menschlichen Verhältnisse aufs engste mit den wirtschaftlichen Fragen zusammenhängt . . .«

»Ich weiß, ich weiß – aber warum bringst du deinen zynischen Egoismus so offen zum Ausdruck?«

Ajanow wollte ihm eben mit einer spöttischen Antwort dienen, da fuhr eine Equipage ganz dicht vor ihnen in einen Torweg ein, der Kutscher schrie sie an, und der Faden ihrer Unterhaltung ward jäh zerrissen.

»Mit der Malerei ist es also wieder einmal nichts?« nahm Ajanow nach einer Weile das Gespräch wieder auf.

»Warum denn nicht? Ich will doch Sophies Porträt malen! . . . In den nächsten Tagen schon fange ich an. Ich bin in letzter Zeit nicht nach der Akademie gegangen und habe auch sonst wenig mit Künstlern verkehrt. Morgen geh’ ich jedoch zu Kirilow – du kennst ihn ja?«

»Ich weiß nicht . . . Ich glaube ihn einmal gesehen zu haben, so einer mit ungekämmtem Haar . . .«

»Ja, aber ein tiefer, echter Künstler, wie es heute sonst keine mehr gibt: der letzte Mohikan! . . . Ich male nur noch Sophies Porträt und zeige es ihm – und dann will ich meine Kraft an dem Roman versuchen. Ich habe auch früher schon einige Sachen geschrieben, freilich sind es Fragmente geblieben, aber nun gehe ich ernstlich an die Arbeit. Die Sache ist für mich neu; ob’s gelingen wird?«

»Hör’ mal, Raiski – soweit ich die Sache beurteilen kann, solltest du vor allem Sophie aufgeben und nicht die Malerei – solltest, wenn du Romane schreiben willst, nicht auch darauf aus sein, sie zu erleben . . . Ich würde dir raten, den Morgen zum Schreiben zu verwenden und am Abend ein Spielchen zu machen, mit kleinem Einsatz, das regt nicht weiter auf. . .«

»Und gerade die Aufregung ist notwendig, wenn man einen Roman schreiben will. Wenn ich mich aufs Kartenspiel einlasse, dann verspiele ich alles, selbst dein Paletot müßte daran glauben. Auch da gähnt ein jäher Abgrund, ich habe, Gott sei Dank, nie in ihn hineingeschaut, und wenn ich es täte, würde nicht ein Roman, sondern eine Tragödie dabei herauskommen. Im übrigen hat es Hand und Fuß, was du sagtest: man kann nicht zwei Herren zu gleicher Zeit dienen! Laß mich nur erst diese Geschichte mit Sophie irgendwie zu Ende führen und ihr Bild vollenden, dann will ich, unter dem frischen Eindruck ihrer Schönheit, munter drauflos schreiben . . . Diesen Stern dort . . . wie heißt er, weißt du es nicht? – auch ich weiß seinen Namen nicht, und er tut ja auch nichts zur Sache – jedenfalls rufe ich ihn zum Zeugen dafür an, daß ich eins unbedingt durchführen will, entweder meine Malerei oder den Roman! Ja, den Roman! Sein eigenes Leben so mit dem Leben der anderen zu verschmelzen, und all die Beobachtungen, Gedanken, Erfahrungen, Gefühle und Bilder von Menschen und Dingen in ein Ganzes zu vereinigen – welch eine Aufgabe . . . une mer á boire!«

Sie gingen schweigend weiter. Ajanow pfiff leise vor sich hin, und Raiski schritt mit geneigtem Kopfe daher und dachte bald an Sophie, bald an seinen Roman. An der Straßenkreuzung, wo ihre Wege sich trennten, fragte Raiski plötzlich:

»Wann gehen wir wieder hin?«

»Wohin denn?«

»Nun, zu Sophie.«

»Du denkst schon wieder an sie? Ich dachte, du arbeitest bereits an deinem Roman, und wollte dich nicht stören!«

»Ich sagte dir ja: das Leben – ist ein Roman, und ein Roman – ist ein Leben.«

»Wessen Leben?«

»Aller Menschen Leben, das deinige nicht ausgenommen!«

»Für den Mittwoch haben mich die Tanten wieder zum Spiel eingeladen.«

»Erst am Mittwoch? Nun, was soll man machen – also bis zum Mittwoch!«

Sechstes Kapitel

Raiski lebte bereits seit zehn Jahren in Petersburg, das heißt er hatte dort von einer Deutschen eine Wohnung von drei anständig möblierten Zimmern gemietet, in der er jedoch, seit er den Dienst quittiert hatte, nur selten einmal längere Zeit – etwa ein halbes Jahr hintereinander – verweilte. Seine übrige Zeit pflegte er außerhalb Petersburgs zu verbringen.

Den Staatsdienst hatte er wenige Jahre nach seinem Eintritt wieder aufgegeben. Er hatte sich die Sache eine Zeitlang angesehen und war zu dem merkwürdigen Schlusse gelangt, daß der Dienst an sich kein Ziel, keine Lebensaufgabe sei, sondern lediglich eine Veranstaltung, die es ermöglichte, eine Anzahl von Menschen unterzubringen, deren Existenz sonst völlig zweck- und nutzlos gewesen wäre. Hätten diese Menschen nicht existiert, dann wäre auch der Dienst, den sie taten, völlig überflüssig gewesen.

Auf Veranlassung seines Vormunds war er zuerst in die militärische und dann später in die zivildienstliche Laufbahn eingetreten. Der Vormund, ein entfernter Onkel Raiskis, wollte vor allem nicht, daß man ihm den Vorwurf machte, er kümmere sich nicht genug um seinen Neffen; andererseits wälzte er so am einfachsten alle Verantwortung von sich ab. Raiski ging nach Petersburg aus dem gleichen Grunde, aus dem alle jungen Leute dahin geschickt werden: sie sollen nicht unnütz zu Hause herumsitzen, sich nicht verweichlichen, nicht Faulenzer werden – alles sozusagen negative Zwecke des Petersburger Aufenthalts.

In Petersburg werden die jungen Leute zugestutzt, sie stehen da unter Aufsicht und finden auch etwas, das man Arbeit nennt; in Petersburg können sie es zum Staatsanwalt und mit der Zeit auch zum Gouverneur bringen; und das ist dann der positive Zweck der Sache. Nachdem Raiski eine Zeitlang in Petersburg gelebt hatte, kam er zu dem Schlusse, daß in dieser Stadt die erwachsenen Menschen, im übrigen Rußland jedoch die unreifen Muttersöhnchen wohnen.

Er selbst zählte freilich schon über dreißig Jahre, und er hatte noch nichts gesät und geerntet, noch keine der Karrieren eingeschlagen, die sonst alle aus dem Innern Rußlands ankommenden Jünglinge einzuschlagen pflegen.

Er ist weder Offizier noch Beamter, bahnt sich nirgends durch Arbeit oder durch gute Verbindungen seinen Weg und ist wie absichtlich und den anderen zum Trotz der einzige »Nichterwachsene« in Petersburg geblieben. Auf der Polizei ist er als verabschiedeter Kollegiensekretär gemeldet.

Einem Physiognomiker wäre es nicht leicht gefallen, seine Eigenschaften und Neigungen und seinen Charakter aus den Gesichtszügen herauszulesen, da der Ausdruck seines Gesichts überaus veränderlich war.

Bisweilen erschien er so glücklich, und seine Augen hatten einen solchen Glanz, daß der Beobachter ohne weiteres geneigt gewesen wäre, in ihm einen offenen, mitteilsamen, ja sogar ein wenig geschwätzigen Menschen zu sehen. Doch schon eine oder zwei Stunden später mußte ihn die Blässe seines Gesichts betroffen machen, die auf ein unheilbares inneres Leiden schließen ließ und den Eindruck machte, als habe er seit seiner Geburt nie gelächelt.

Er erschien in solchen Augenblicken geradezu häßlich; seine Züge hatten etwas Disharmonisches, und ein krankhafter Farbenton trat an Stelle des frischen Kolorits seiner Stirn und seiner Wangen.

Wenn dagegen die Wogen seines Lebens ruhig gingen, oder wenn er einfach guter Laune war, spiegelte sich in seinem Gesicht ein Reichtum von Willenskraft, von innerer Harmonie und Selbstbeherrschung, zuweilen auch ein ihm vortrefflich stehender Freimut und eine ungewöhnliche Phantasiefülle, die namentlich von den dunklen Augensternen und den leicht vibrierenden Lippen auszustrahlen schienen. Noch schwieriger war es, seine moralische Physiognomie festzustellen: Er hatte Perioden, in denen er, wie er selbst sich ausdrückte, am liebsten »die ganze Welt hätte umarmen können«, in denen er mit bezaubernder Sanftmut jedem den Zutritt zu seinem Herzen freihielt und alle, die ihm in solchen Momenten nähertraten, ihn unbedingt für den liebenswürdigsten und besten Menschen erklärten.

Dann aber hatte er wieder Zeiten, in denen fahle Flecke auf seinem Gesicht erschienen, in denen seine Lippen sich in nervösem Zucken verzerrten und er für alle Beweise der Freundschaft und Sympathie nur einen stumpfen, kalten Blick und rauhe Worte hatte. Wer ihn in diesem Zustande kennenlernte, schied von ihm, vielleicht für immer, in Erbitterung und Feindschaft.

 

»Ein böser, kalter, hochmütiger Egoist!« meinten diejenigen, die ihn in seiner schlimmen Stunde gesehen.

»Aber ich bitte Sie – er ist bezaubernd! Er hat uns alle hingerissen, alle sind entzückt von ihm!« sagten die anderen.

»Ein Schauspieler!« behaupteten einige.

»Ein grundfalscher Mensch!« ergänzten wieder andere.

»Wenn er etwas erreichen will, dann findet er die schönsten Worte; beobachten Sie nur, wie seine Mienen spielen!«

»Aber was fällt Ihnen ein, das ist das edelste Herz, das sich denken läßt, eine vornehme Natur, wenn auch nervös und leidenschaftlich, allzu feurig und reizbar!« ließen zwei, drei Freundesstimmen sich zu seiner Verteidigung vernehmen.

So waren selbst seine nächsten Bekannten sich nie recht klar darüber, was sie aus ihm zu machen hatten. Schon in früher Kindheit, als er bei seiner Großtante erzogen wurde, und später auf der Schule waren die gleichen rätselhaften Züge, dieselbe Ungleichmäßigkeit und Unbestimmtheit der Neigungen bei ihm zutage getreten. Als der Vormund ihn auf die Schule brachte und er zum erstenmal im Klassenzimmer saß, hätte er, wie man annehmen sollte, als Neuling zu allererst den Fragen des Lehrers und den Antworten der Schüler seine Aufmerksamkeit zuwenden müssen.

Statt dessen ließ er sich ganz von der äußeren Erscheinung des Lehrers fesseln; er musterte seine Gestalt, beobachtete, wie er sprach, wie er Tabak schnupfte, was er für Augenbrauen, was er für einen Bart hatte; dann studierte er das Petschaft aus Karneol, das an der Uhrkette auf dem Bauch des Lehrers herabbaumelte, und bemerkte schließlich, daß der Zeigefinger seiner rechten Hand in der Mitte gespalten war, so daß er wie eine Doppelnuß aussah.

Hierauf musterte er jeden einzelnen Schüler und merkte sich die Sonderheiten eines jeden: bei dem einen waren Stirn und Schläfe nach innen gebogen, bei dem anderen traten die großen Kiefer weit hervor, dort stand bei zweien – bei dem einen auf der rechten, bei dem anderen auf der linken Kopfseite – das Haar in wirbelartigen Buscheln vom Schädel ab, und so weiter. Alle beobachtete und studierte er, insbesondere auch die Art, wie sie ihre Augen gebrauchten.

Der eine sah vertrauensvoll auf den Lehrer, schien mit den Augen zu bitten, daß er ihn fragen möchte, und kratzte sich vor Ungeduld bald das Knie, bald den Kopf. Ein anderer blickte unsicher und wurde abwechselnd rot und blaß – er schien zu zweifeln und zu schwanken. Ein dritter hielt die Augen zu Boden geschlagen und hatte offenbar Angst davor, daß er gefragt würde. Ein vierter bohrte in seiner Nase und sah und hörte überhaupt nichts. Dieser dort schien ein Riese von ungewöhnlicher Kraft zu sein, und der Schwarze neben ihm war offenbar ein Schelm. Auch die Wandtafel, auf der die Exempel gerechnet wurden, ja selbst der Wischlappen und die Kreide entgingen seiner Beobachtung nicht. Gelegentlich machte er auch sich selbst zum Gegenstand seines Studiums, suchte sich vorzustellen, wie er dasitze, wie sein Gesicht wohl aussehe, was die anderen sich denken, wenn sie ihn ansehen, und welches Bild sie sich überhaupt von ihm machen.

»Wovon sprach ich eben?« fragte ihn plötzlich der Lehrer, der bemerkt hatte, wie er seine Augen zerstreut durch den Klassenraum schweifen ließ.

Zu seiner Verwunderung konnte ihm Raiski alles, was er vorgetragen hatte, Wort für Wort wiederholen.

»Wie ist das zu verstehen?« fragte der Lehrer weiter. Das wußte nun Raiski nicht; seine Art zu hören war so mechanisch wie sein Schauen – er fing die Worte nur eben mit dem Ohr aus.

Der Lehrer wiederholte seine Erklärung. Boris hörte zu, wie die Worte erklangen; die einen stieß der Lehrer kurz und knapp, wie abgerissen, hervor, die anderen trug er langgezogen, gleichsam singend vor, und dann schleuderte er wieder ein ganzes Dutzend wie eine Handvoll Nüsse aus dem Munde.

»Nun?« fragte der Lehrer.

Raiski wurde rot, ein leichter Angstschweiß trat ihm sogar auf die Stirn – er wußte nichts zu sagen und schwieg. Es war der Mathematiklehrer, der gerade Unterricht erteilte. Er ging an die Tafel, schrieb eine Ausgabe an und begann sie zu erklären. Raiski sah nur, wie flink und sicher er die Ziffern hinschrieb, wie er dann kehrt machte und auf ihn zukam, wie zuerst der Bauch des Lehrers mit dem Karneol und dann die Brust mit dem tabakbestreuten Vorhemd vor ihm auftauchte. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit – einzig nur der Sinn, die Bedeutung der Aufgabe.

Mit Ach und Krach begriff er die Bruchrechnung, quälte sich auch noch durch die Geheimnisse der Algebra hindurch, als er jedoch an die Gleichungen kam, versagte sein Kopf gänzlich, und warum und wie man Quadratwurzeln zog, blieb ihm vollkommen gleichgültig.

Der Lehrer quälte sich so manchesmal mit ihm ab und schloß fast jedesmal mit einem Seufzer.

»Geh, setz’ dich auf deinen Platz, du bist eben ein Hohlkopf!« Wenn aber der Lehrer selbst seinen guten Augenblick hatte, wenn er die Aufgaben nicht aus dem Buche, sondern mehr in spielender Art aus dem Kopfe gab und ohne Wandtafel und Hefte, ohne Regeln und Rippenstöße arbeiten ließ, dann hatte Raiski, dank einer Fähigkeit, den Sinn der Dinge intuitiv zu erraten, das Resultat immer zuerst heraus.

Er hatte in seinem Kopfe ein eigenes Ziffernsystem in Bildern; sie waren dort wie die Soldaten in Reih und Glied ausgerichtet. Er hatte sich gewisse Zeichen und Merkmale ausgedacht, die es ihm ermöglichten, die Zahlen momentan zu ordnen, zu addieren, zu multiplizieren und zu teilen; es waren zumeist die Gesichter von Bekannten, oder auch Tiergestalten, die er für diese Operationen verwandte.

»Du scheinst mir doch kein Hohlkopf,« bemerkte der Lehrer. »Wenn er die Rechenregeln anwenden soll, die doch angeblich die Sache erleichtern, dann kann er nicht bis drei zählen – und so, ohne Regeln, rechnet er wie der Blitz! Die Regelmacher scheinen wirklich nicht viel schlauer gewesen zu sein, als wir beide!«

Im sprachlichen Unterricht kam Raiski rasch vorwärts. Mit Leidenschaft las er geschichtliche Darstellungen, Epopöen, Romane und Märchen, borgte sich Bücher, wo er nur konnte, doch immer nur solche, in denen eine Handlung vorkam und die Phantasie mitarbeiten konnte, während alles Spekulative, trocken Lehrhafte ihn gleichgültig ließ. In der Geographie wußte er, wenn der Stoff in der Reihenfolge des Buches abgefragt wurde und die Länder, Völker, Flüsse und so weiter aufgezählt werden sollten, so gut wie gar nicht Bescheid. Rief der Lehrer zum Beispiel: »Zähl’ die Gebirge Europas auf!« – oder: »Nenne mir die Hafenstädte am Mittelmeer!« – so gab Raiski ganz gewiß keine Antwort.

Begann er hingegen außerhalb der Klasse von fremden Meeren, Ländern und Städten oder vom Ozean zu erzählen – o, wie ihm da alles zufloß! Nicht vom Lehrer hatte er das gehört, und oft auch nicht in Büchern gelesen – und doch malte er alles so deutlich in großen, packenden Bildern, als wäre er selbst dort gewesen und hätte es mit eigenen Augen gesehen.

»Du schwindelst ja!« sagte bisweilen irgendein Skeptiker unter seinen Zuhörern. »Davon hat uns doch Wassili Nikititsch nichts gesagt!«

Der Direktor hörte ihn einmal von den Wilden erzählen, wie sie die Menschen fangen und fressen, wie sie im Urwald hausen, was für Waffen sie haben, wie sie von den Bäumen herab die wilden Tiere erlegen – selbst ihre Art, in Kehllauten zu sprechen, machte er nach.

»Dummes Zeug schwatzen kannst du,« sagte der Direktor zu ihm, »und beim Examen neulich hast du nicht einmal die russischen Flüsse aufzählen können! Nächstens setzt es Prügel, wart’ nur, mein Söhnchen! Für nichts Ernsthaftes hat er Sinn, ein richtiger Dummkopf!« Und er zog ihn kräftig am Ohre.

Raiski musterte den Direktor, wie er dastand und auf ihn einsprach, wie seine bösen, kalten Augen zu ihm niederschauten, suchte sich klar zu werden, warum es ihn kalt überlief, als der Direktor ihn am Ohr faßte. Dann stellte er sich vor, wie man ihn abführen würde, um ihn zu prügeln, wie sein Mitschüler Sewastjanow vor Schreck plötzlich ganz mager werden und eine weiße Nase bekommen würde, wie Borowikow vor Aufregung zittern, hüpfen und kichern und der gutmütige Masljanikow ihn weinend umarmen und von ihm Abschied nehmen würde, als sollte er aufs Schafott abgeführt werden. Weiter malte er sich aus, wie man ihn entkleidete, wie zuerst sein Herz, dann seine Arme und Beine erstarrten, und wie ihn dann Sidorytsch, der Pedell, ganz sacht auf die Prügelbank legte, da er selbst nicht imstande war, sich zu bewegen . . . Er hörte in Gedanken sein eigenes Wimmern, sah seine Beine zappeln, und es überlief ihn kalt . . .

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