Verdorbene Jugend

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Verdorbene Jugend
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Horst Riemenschneider

Verdorbene Jugend

Februar 1940 bis November 1949

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Herausgeber: Edeltraud Radochla, geb. Riemenschneider

radochla verlag ruben 2016

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-938555-44-6

Noch eine Geschichte, Vati

So begannen die Sonntagmorgen, als wir noch in Ronneburg wohnten, Mutti bereits aufgestanden war, um das Frühstück zu bereiten, das Feuer in der Stube und in der Küche anzuheizen, den Tisch zu decken und dann zu rufen: Aufstehen, es wird Zeit!

An eine Kindheit mit so vielen Geschichten erinnere ich mich, so vielen Sonntagmorgengeschichten. Es war der Tag, an dem Vati ausschlafen konnte, und es war der Tag der Geschichten für mich. Es muss um 1958/​1959 gewesen sein. Für mich mit meinen sechs oder sieben Jahren waren das Abenteuer aus einer fernen Zeit, die Geschichten von den langen Bahnfahrten und dem vielen Kohldampf, von der Arbeit im Schacht und vom Mausen. Doch was anderes sollte der Vater der Tochter aus seiner Jugend erzählen, die der Krieg verdorben hatte? Erst im Laufe der Jahre konnte ich manches richtig verstehen. Dann gab es anderes zu tun.

Später, viel später besann sich Vati darauf, seine Geschichte aufzuschreiben. In den 1990er Jahren, schon von einem Schlaganfall und von Krankheit gezeichnet, nahm er diese große Bürde auf sich. Eine elektronische Schreibmaschine hat er sich angeschafft, von der wir dann per Diskette die Texte übernehmen und bearbeiten konnten. Seine letzte Überarbeitung erfolgte 2001, ein Jahr später erlag er seinem Leiden.

Seit 2002 liegen die Manuskripte nun als Nachlass bei mir. Zeit, um Abstand zu gewinnen und Nachsicht, Verständnis, Begreifen für die eine oder andere Sichtweise. Es bleiben Fragen: Hat diese verdorbene Jugend nachgewirkt? Haben sich Wertungen und Lebenseinstellungen aus dieser Zeit verfestigt? Sind Alternativen vielleicht ebenso extrem gesucht worden? Was macht das aus einem Menschen, wenn er in seiner Erinnerung an die Jugend beständig schreibt: „Wir mussten … “? Auch die Frage, ob ich den Text veröffentlichen soll, musste ich mir beantworten. Doch ich denke, dass angesichts zunehmender Interpretation von Geschichte das Wort von Zeitzeugen immer wichtiger wird.

Ich habe versucht, vorsichtig stilistische Straffungen vorzunehmen, ohne in die Intensionen des Autors einzugreifen. Namen und Orte erscheinen so, wie in der Erinnerung des Autors.

Edeltraud Radochla

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Noch eine Geschichte, Vati

Vorwort

Teil 1 Lehrjahre

Aufnahmeprüfung

Ein neuer Lebensabschnitt

Der erste Arbeitstag

Wie es weiter ging

Der erste Fliegeralarm

Eine Fahrradtour

Ein lustiges Ereignis

Das Geld

Die Appelle und die Arbeitszeit

Die Berufsschule im ersten Lehrjahr

Die Hauptsache

Eine ungute Einlage

Direktor Lange

Das Schulungslager

Wieder im Betrieb und im Heim

Endlich Vaters Unterschrift

Zum Wintersport

Zurück in die Lehrwerkstatt

Der neue Ausbildungsleiter

Die Zeit nach Haider

Der Lehrjahreswechsel

Eine neue Wohnstätte

Neue Seiten

Die Freizeit in Dietzhausen

Ein neuer Freund

Doppelflinten

Werkstattwechsel

Forellenfang

Kontakt im Dorf

Wanderungen

Das letzte Lehrjahr

Die Facharbeiterprüfung

Als Friedensstifter

Wehrertüchtigungslager

Böse Buben

Freispruch und neues Wirkungsfeld

Der Krieg kommt näher

Die letzten Wochen in Dietzhausen

Ein erster Blick zurück

Teil 2 Reichsarbeitsdienst

Sammelfahrt ins Ungewisse

Im Sondertrupp

Lagerwechsel

Wachhabender

Mit der Waffe und dem Spaten

Vereidigung

Die Fahrt zum Einsatz

Der Einsatz bei Istres

Freizeiten in Südfrankreich

Zur Flugabwehr

Zum Lehrgang

Der neue Standort bei Rotterdam

Warten auf Ziele

Noch ein Lehrgang

Weiter warten auf Ziele

Die Invasion in der Normandie

Tiefflieger

Kultur

Eine neue Besatzung

Wahnsinn

Nicht erkennbar

Ablösung

An der 8,8-Zentimeter-Kanone

Die Fahrt nach Rogasen

 

Teil 3 Wehrmacht und sowjetische Kriegsgefangenschaft

Zum Militär

Als Pferdekutscher

An die Ostfront

Halt, stehen bleiben

Unglaublich, aber wahr

Der große Marsch

Eine faule Zeit beginnt

Eine Bahnfahrt unter Kohldampf

In Focşani

Die Fahrt nach nicht in die Sowjetunion

Kriegsgefangenenlager Mordwes

Der erste Kolchoseinsatz

Der Winter 1945/46

Eine unreife und gefährliche Idee

Wieder eine Reise ins Ungewisse

Karaganda, Lager 99/15

In der Werkzeugzeche

Lageralltag

Die letzten Monate in Zeche Drei

Die neue Arbeit

Das Ergebnis der Meckerei

Nochmal ein Kolchoseinsatz

Zur Arbeit in den Schacht

Beim Aufbau in Karaganda

Die Heimfahrt

Schlussbetrachtungen

Vorwort

Die Schilderung über meine „verdorbene Jugend“ umfasst drei Teile: Die Lehrzeit, die Zeit im Reichsarbeitsdienst und meine kurze Militärzeit mit der sich anschließenden langen Kriegsgefangenschaft.

Ich habe nur das aufgeschrieben, was ich noch wusste. Ich wollte außerdem nur schildern, wie es war. Nicht mehr – und ein Roman sollte es schon gar nicht sein. Die eine oder andere Sache hätte ich noch besser ausschmücken können, doch ich hatte Angst, dass ich es nicht mehr schaffe. Mit 75 Jahren muss man mit dem Lebensabschluss schon eher rechnen, als wenn man jünger ist. Vorher hatte ich aber keine Zeit und keine Lust zum schreiben. Außerdem waren mir die technischen Voraussetzungen nicht gegeben. Ich hatte jedoch einige schriftliche Aufzeichnungen und meine Berichtshefte aus der Lehrzeit, die mir bestimmte Zeiten dokumentierten. Zeiten, die ich nicht mehr dokumentarisch belegen kann, habe ich nach meiner Erinnerung niedergeschrieben.

Horst Riemenschneider


Bürgel auf einer alten Ansichtskarte, Familiennachlass

Teil 1 – Lehrjahre

Aufnahmeprüfung

Es war an einem Februar Vormittag im Jahr 1940. Ich saß in den hinteren Bankreihen in der 8. Klasse der Volksschule im thüringischen Bürgel. Der Fußboden des Klassenraumes war erst vor wenigen Tagen vom Schuldiener Herrn Wilhelm geölt worden. Es roch noch stark nach diesem Öl. Besser gesagt, es „miefte“.

Ich kann nicht mehr sagen, in welcher Stunde es war, als jemand an die Klassenzimmertür klopfte. Der Lehrer und Schulleiter Dr. Langheinrich ging zur Tür und öffnete diese. Meine Mutter drängelte sich herein, um für mich die sofortige Freistellung zu erlangen, weil ich nach Suhl zur Aufnahmeprüfung für eine Lehrstelle müsste. Da gab es erst einen Disput, in dem der Lehrer behauptete, dass ich ohnehin diese Prüfung nicht bestehen würde und doch lieber die von ihm vorgeschlagene Lehrstelle im Kupfer-Schiefer-Bergbau im Mansfeld annehmen solle. Es gab einen kleinen Streit darum. Schließlich durfte ich mit meiner Mutter mitgehen.

Daheim konnte ich dann das Schreiben lesen, das von den „Wilhelm-Gustloff-Werken, Waffenwerk Suhl“ stammte. Darin stand, dass ich dort am folgenden Tag um 9.00 Uhr zur Aufnahmeprüfung vorsprechen soll. Warum ich nun heute schon von der Schule geholt wurde, erfuhr ich von der Mutter nicht, denn ich sollte ja erst am nächsten Morgen mit dem ersten Bus losfahren. Meine Großmutter erklärte mir, wie ich mich in Jena verhalten sollte, um schnell vom „Volkshaus“ zum Bahnhof Jena-West zu kommen. Ich müsse mich beeilen. Nun ging es noch darum, was ich anziehen soll. Schließlich war ich ausgestattet mit einer Jungenunterhose, einem gewöhnlichen Hemd, was ich nur unter einem Pullover tragen konnte, den Knickerbockerhosen von Onkel Hans, einer Joppe, die ich von Kaufmanns Jahn geschenkt bekam und ein Paar Schuhen von Onkel Fritz, sowie ein Paar Stümpfen, die aber meine eigenen waren. Eine Mütze hatte ich nicht. Besonders auf die Joppe war ich stolz, entsprach sie doch meiner Größe und hatte zum Aufhängen eine kleine silberne Kette. Die Knickerbockers waren mir deutlich zu groß, Sie fielen mir fast bis an die Ränder der hohen Schnürschuhe, die auch zu groß waren, aber das sah man nicht so.

Am nächsten Morgen lag etwas Schnee. Als der Bus in Jena am „Volkshaus“ ankam, ging ich schnell los. Ich hastete die Straße zum Westbahnhof hoch. Das kam mir recht komisch vor und ich wollte eigentlich vorsichtshalber noch mal nach dem Weg fragen, aber, es gab niemand, den ich fragen konnte. Ich kam natürlich am Bahnhof an, erspähte den Fahrkartenschalter und löste eine Fahrkarte nach Suhl. In der Bahnhofshalle war kein Mensch zu sehen. Da entdeckte ich den Eisenbahner an der Sperre. Ich ging gemütlich dahin und fragte, ob der Zug nach Weimar-Erfurt schon da sei. „Da steht er“, war die Antwort. Nun wurde ich aufgeregt. Ich gab meine Karte zum knipsen und im gleichen Moment pfiff etwas. „Pfuff“ hörte ich und gewahrte, dass der Zug begann abzufahren. Ich riss dem Mann die Karte aus den Händen und stürmte auf den nun bereits fahrenden Zug zu. „Zurückbleiben!“, hörte ich, aber mich konnte in dem Moment kaum etwas aufhalten. Ich hangelte nach einem der Griffe, machte die nächste Tür auf und verschwand im Abteil. Eine etwa 40-jährige Frau drohte mir mit dem Finger und sagte: „Das ist verboten.“ Das wusste ich natürlich auch. Hatten wir sogar der Schule gelernt.

In Jena hatte ich nichts mehr vom Schnee bemerkt. Erst als der Zug in höheres Gebiet in Richtung Groß-Schwabhausen kam, wurde die Umgegend wieder weiß und der Schnee höher und höher. Bis Oberweimar fuhr der Zug normal. Zu meinem Glück muss er wohl bereits in Jena-West verspätet abgefahren sein. Ab Oberweimar gab es viele Stehzeiten und ich ahnte, dass ich meinen Anschlusszug auf Bahnsteig fünf in Erfurt nicht mehr erwischen werde. Einige Fahrgäste maulten: „Ein bisschen Schnee und schon geht bei der Bahn nichts mehr. Von wegen, die Deutsche Reichsbahn ist schnell und zuverlässig.“ Diesen Spruch sollte ich in meinem Leben noch oft hören. Meine Voraussicht wurde bestätigt: Der Zug in Erfurt war längst abgefahren. Unsere Verspätung war zu groß. Zum Glück stand schon der nächste Zug nach Meiningen bereit. Aber dessen Abfahrt lag schon nach der Zeit, zu der ich in Suhl und im Betrieb sein sollte.

Ich begab mich in ein Abteil, in dem schon ein älterer Herr und eine junge Frau saßen. So hoffte ich, jemand zu haben, den ich fragen konnte, wann es Zeit für mich zum Aussteigen sei. Vorsichtig tastete ich mich vor. Ich wollte ergründen, wo sie hinfahren. Beide wollten nur bis Arnstadt. So saßen wir eine Weile bibbernd vor Kälte in dem Zug, den man wohl nicht zu heizen gedachte, obwohl draußen auf den Bahnsteigen die Nebelschwaden von den Heizanschlüssen nur so vom Wind vorbei getrieben wurden.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Warm wurde er nicht und Verspätung hatte er auch. In Neudietendorf stiegen weitere Fahrgäste zu. Bis Arnstadt hielt der Zug noch zweimal und dort wechselte das ganze Abteil, außer mir. Neue Fahrgäste stiegen zu und als ich wieder fragte, wie viel Stationen es bis Suhl seien, erhielt ich unterschiedliche Auskünfte, sodass ich unsicher wurde. Von Arnstadt dauerte es noch ein ganzes Stück, bevor man mit dem Personenzug dort ankam.

Schließlich war Suhl erreicht. Meine Großmutter Luise hatte mir eingeschärft, vom Bahnhof aus nach links zu gehen. Wenn man in Suhl aus dem Bahnhofsgebäude kam, konnte man nur nach links gehen. Dass aber gemeint war, vorn an den Bahnschranken nach links zu gehen, habe ich dann erst nach einer halben Stunde mitbekommen, als ich zurück laufen musste. Ich ging also los und gelangte in die Innenstadt von Suhl und hinter dem Marktplatz wagte ich nun doch eine Mann anzusprechen. „Ha, da biste verkehrt, mei Jung,“ sagte der und meinte ich müsste genau in die andere Richtung gehen. Weiter sagte er etwas von einer Stunde Weg. Nun spurtete ich aber los, nachdem ich mich kurz bedankte.

Als ich ein Stück hinter den Bahnschienen war, sah ich ein großes Betriebsgebäude, an dem ich so ein „G“ erkannte, wie es im Briefkopf zu sehen war. Ich ging heran und fragte, ob ich zur Abteilung Berufsausbildung hier käme. Doch ich erhielt die Auskunft, dass es bis dahin noch ziemlich eine Stunde Weg sei. Im Eilschritt und zeitweise im Laufschritt versuchte ich bald an mein Ziel zu gelangen. Auf meinem Weg sah ich schon einen großen Schornstein und vermutete zwar richtig, dass der zu dem Betrieb gehört, zu dem ich wollte, doch der Schornstein stand am oberen Ende des Betriebes und die Abteilung Berufsausbildung war am unteren Ende, was ich damals noch nicht wissen konnte. Endlich kam ich an einen großen Betriebseingang und hastete dahin. Wieder war ich verkehrt. Ich erhielt die Auskunft, dass nun noch weitere zehn Minuten Weg nötig seien. Ich hastete weiter und gelangte schließlich an einen weiteren großen und nun endlich den richtigen Betriebseingang.

„Zur Abteilung Berufsausbildung“, bat ich, nach dem ich ein klägliches „Heil Hitler“ stotterte. Mir war ganz schön die Luft knapp geworden. Ich gab dabei meinen Brief durch das geöffnete Schalterfenster, hinter dem einige Männer in graublauen Uniformen saßen. Einer von ihnen kam heraus und forderte mich auf, mitzukommen. Er hatte kurze rötliche Haare, trug eine Stahlrahmenbrille, die wie Gold glänzte. Die Gläser der Brille waren etwas oval. Im Gesicht und am Hals hatte der Mann viele Sommersprossen. Der Wachmann ging mit mir durch den großen Torgang, der nach der damaligen Bauweise sehr modern war. Danach ging es zweimal nach rechts und durch eine Doppeltür. Dort kam ein Treppenaufgang. Es ging drei Etagen hoch und nach links in einen breiten Gang. In der Mitte des Ganges hielt der Wachmann inne und klopfte an eine Tür.

Auf das „Herein“ von drinnen öffnete der Wachmann die Tür und wir gingen in einen für mich eigenartigen Klassenraum, der mich ganz schön einschüchterte. Es war der Physiksaal, wie ich später erfuhr. Er hatte stufenweise aufsteigende Sitzreihen und vor den Sitzreihen eine breite große Tafel. In etwa der Hälfte der Bänke saßen ebensolche Kandidaten wie ich. Vor ihnen ein streng aussehender, gut gekleideter Mann, der mich aufforderte, meine Joppe draußen auf dem Flur anzuhängen. Dann musste ich mich in der vordersten Reihe auf die Bank neben dem Mittelgang setzen. Von da aus konnte ich nun kurze Zeit verfolgen, was den letzten vor mir für Fragen gestellt wurden. Keine davon hätte ich lösen können.

Nachdem ich die Fragen nach meiner Verspätung beantwortet hatte, rief mich Herr Janz, wie er sich vorstellte, an die Tafel. Als ich bei ihm auf dem Tafelpodest stand, fragte er mich, welchen Beruf mein Vater hätte. Mit etwas Stolz sagte ich, dass er Schornsteinfegermeister sei. Daraufhin wurde ich gefragt, ob ich mir einen Schornstein vorstellen könne. Nachdem ich das bestätigte, gab er mir Maße an, mit denen ich das Volumen eines Schornsteins bestimmen sollte.

 

Ich begann zu rechnen. Bald war ich fertig und meiner Sache recht sicher. Er schaute sich das kurz an und sagte, dass das falsch wäre. Ich suchte einen Fehler und fand keinen, worauf ich entgegnete, dass nichts falsch sei. Er behauptete wieder, dass das falsch sei. Ich prüfte noch einmal und behauptete wieder, dass die Rechnung richtig sei. Dann sagte Herr Janz: „Du kannst doch nicht sagen, es sei richtig, wenn ich sage es ist falsch!“ „Dann haben Sie falsch gerechnet“, entgegnete ich. „Nun gut“, fing er wieder an, „aber wenn die hier alle sagen, es ist falsch?“ „Dann haben alle falsch gerechnet“, bestand ich weiter auf der Richtigkeit meiner Rechnung.


Firmenlogo des künftigen Lehrbetriebes

Ich durfte mich setzen. Herr Janz hielt eine kurze Ansprache und sagte abschließend, dass wir alle die Prüfung bestanden hätten. Ob wir eingestellt würden entscheide sich aber erst, wenn das Abschlusszeugnis der Schule im Betrieb vorliege.

Ich war erst einmal froh, dass Langheinrichs Voraussage nicht eingetroffen war. Was er mir ins Zeugnis schreiben würde, war dennoch ungewiss. Im Grunde genommen war ich ein ziemlich fauler Hund. Es gab Tage oder Stunden, da hatte ich einen ganz guten Durchblick. In der Note Faulheit hätte ich mir aber eine Eins verdient.

Zunächst hatte ich nun vor, meinen Onkel Hans und dessen Frau aufzusuchen, die in einer Suhler Siedlung ein Einfamilienhaus bezogen hatten. Diese Siedlung von zahlreichen Neubau-Einfamilien-Häusern nannte man „Lautenberg-Siedlung“ und wurde wohl vom „Gustloff-Werk“ in die Wege geleitet. Die Gustloff-Werke nannten sich zusätzlich „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ und von so einem Betrieb erwartete man derartige Maßnahmen.

Ich ging zurück nach Suhl und fragte mich durch. Kurz vorm Dunkel werden fand ich das Haus. So hatte ich auch eine Unterkunft für die Nacht. Am nächsten Tag fuhr ich nach Bürgel zurück. Ich hab mit der bestandenen Prüfung nicht geprahlt, aber etwas stolz war ich doch.

Ein neuer Lebensabschnitt

Endlich war die ersehnte Schulentlassung da. Das Abschlusszeugnis war auf den 20. März 1940 datiert. Die Entlassungsfeier fand in Bürgel in der „Schärbelschänke“ statt. Die Rede vom Schulleiter war vorbei und es war gegen 19.00 Uhr. Der Wirt, Herr Heller, stellte das Radio lauter, weil Nachrichten kommen sollten. Die Zeugnisse hatten wir schon erhalten. Jedenfalls kamen nun die Nachrichten vom Radio und wir erlebten eine große Enttäuschung. Hatten wir doch gedacht, dass für uns nun viele Dinge erlaubt sind, so wurde an diesem Tag ein neues Jugendgesetz verkündet, was uns große Einschränkungen auferlegte. Zum Beispiel wurden Tanzveranstaltungen verboten. Das begründete man damit, dass man in der Heimat nicht sorglos tanzen könne, während die Soldaten „im Felde“ stehen. Laut diesem Jugendgesetz durften wir uns nicht mehr ohne Erziehungsberechtigte nach 21.00 Uhr auf der Straße oder in Gaststätten aufhalten. Rauchen war auch verboten. Erst ab 18 Jahren war alles, außer Tanzen, gestattet. Alkohol brauchte man nicht zu verbieten, den gab es sowieso nicht. Nur besonders dünnes Bier.

Mit einem Zeugnis der miesen Mittelmäßigkeit wurde ich eingestellt. Das Warten darauf war fast wie eine Folter. Alle meine Schulkameraden traten ihre Lehrstelle an oder wussten, wann sie beginnen sollten. Erst am 1. April 1940 kam die Mitteilung, dass ich eingestellt werde und am 8. April die Lehrzeit begänne. Wenn ich im Lehrlingsheim wohnen möchte, sollte ich am 7. April anreisen und mich in Suhl, in der Hohenfeldstraße 68 melden. Mein Lehrvertrag lautete auf „Technischer Zeichner“.

In der Mitteilung stand auch, wie ich mich auszurüsten hätte, wenn ich im Lehrlingsheim wohnen möchte. Dort war es billiger, also, kam für mich nur das Lehrlingsheim infrage. Meine Ausstattung wurde ganz schön teuer: Drei Braunhemden, zwei kurze schwarze Hosen, eine lange Winterhose mit Winteruniformbluse der Hitlerjugend, sechs Paar graue Kniestrümpfe, ein Paar braune Halbschuhe, ein Paar schwarze hohe Schuhe und noch viele andere Sachen. Wir hatten kein Geld und unser Vater war im Krieg. So wurde alles gepumpt. Mit Ach und Weh hatte ich am Sonnabend vor meiner Abreise alle Sachen beisammen. Nun fehlte noch die Bestätigung, dass ich in der Hitlerjugend sei. Bei der Übernahme von den Pimpfen zur Hitlerjugend hatte ich mich gedrückt. Mit etwas Schiss in den Hosen ging ijoch zu Neuschäfer in die Villa am Bürgeler Südgraben. Das ging alles glatt. Und nun war ich reisebereit.

Am Sonntag, dem 7. April 1940 gegen sieben Uhr, fuhr der Zug. Meine Mutter brachte mich zum Bahnhof in Bürgel. Auf der Straße vorm Bahnhof gab sie mir noch einen Schmatz auf die Wange, als der Zug von Eisenberg kommend zu hören war. Das war das einzige Mal, dass ich so etwas von meiner Mutter bekam, seit ich mich erinnern konnte.

Am Nachmittag kam ich in Suhl an und fragte mich durch, wie ich zum Lehrlingsheim der „Gustloff-Werke“ komme. Dabei erfuhr ich, dass der Betrieb auch „BSW“ genannt wurde. Als ich in die „Hohe Feldstraße“ wollte, wurde ich mehrmals berichtigt, dass da kein Lehrlingsheim sei. Man schickte mich zu einer grünen Villa, wo aber niemand zu hören und zu sehen war. So fragte ich nur noch nach der „Hohen Feldstraße“. Endlich bekam ich den richtigen Hinweis. Das Lehrlingsheim war nämlich umgezogen. Nun fand ich die Straße und lief von Nr. 1 bis zur 68. Dort befand sich ein großes Tor, was gleichzeitig die ganze Straße versperrte. Es stand aber die richtige Nummer daran. Eine Tür stand offen, durch die das Sonnenlicht strahlte. Von weitem hörte ich Musik, erzeugt mit einer Schrammel oder wohl richtig Waldzither genannt. Je näher ich dem Tor kam, um so lauter wurde die Musik. Als ich durch die offene Tür trat, war rechts ein kleines Häuschen mit einem großen geöffneten Fenster. Hinter diesem saß ein Mann an einem Tisch, der dort auf der Zither spielte. Auch er hatte wieder so eine graublaue Uniform an, wie ich sie schon bei den Betriebswachen gesehen hatte.


Deckblatt einer Werbebroschüre aus dem Jahr 1942

Als er mich gewahrte, unterbrach er sein Spiel und forderte mich auf, ein Stück weiter die große und breite Treppe hinaufzugehen, wo mich „der Ehrhard“, der Heimleiter, schon erwarten werde. Ich ging über eine geschotterte Straße auf die Treppe zu. Etwas geblendet von der Sonne stieg ich die Stufen hinauf und stolperte an einem kleinem Pfahl, der vor den Brettern steckten, welche die Stufen bildeten. Mein Persil-Karton, in dem ich statt einem Koffer meine Habseligkeiten untergebracht hatte, kullerte die Stufen wieder hinunter. Gleichzeitig kam der Heimleiter in Hitlerjugend-Uniform einen schrägen Weg herunter, der hinter einem Schotterplatz nach links unter einer Baracke entlang führte. Verschämt holte ich meinen Persil-Karton zurück.

Der Heimleiter kam heran und sagte: „Du hast ja das Knie aufgeschlagen. Du gehst gleich mal zur Susi – das ist meine Frau – und lässt dich verbinden. Ich bin der Heimleiter und Gefolgschaftsführer und heiße Ehrhard Haider.“ Er nahm mir gleich meinen Persil-Karton ab und führte mich den schrägen Weg hoch, von wo ein Weg zu der in der Mitte stehenden Baracke abging. Ich sollte an die Tür klopfen, doch im gleichen Moment erschien eine schlanke, nette und hübsche Frau mit großen, blauen Augen. Das sah ich erst genauer, als ich dann bei ihr ankam. Der Heimleiter rief ihr zu, sie möge mich verbinden. Zu mir sagte er, ich möge dann hoch kommen zur Stube Eins. Dabei deutete er mir den Weg an, der zu einer seitlich, fast am Zaun entlang führenden Treppe führte. Die Treppe war ebenfalls aus Brettern und davor eingeschlagenen Pflöcken hergestellt, der Tritt der Stufen war mit dunkler Schlacke geebnet.

Während der Heimleiter mit meinem Persil-Karton weiterging, bog ich ab zur Susi. Die lotste mich in den Vorraum der Baracke, in dem es erst an einer Brüstung entlang ging. In dem Vorraum stand in einer Ecke ein Schemel, auf den ich mich setzen sollte. Susi besah sich mein Knie und sagte dann, dass das halb so schlimm sei. Sie betupfte die Wunde mit Jod, wobei ich bald durch die Decke der Baracke gefahren wäre, denn so brannte das. Aber vor so einer schönen Frau biss ich die Zähne fest zusammen. Während Susi mich versorgte, ein Mullstück auf die Wunde legte und über kreuz zwei Pflasterstreifen, sagte sie: „Du bist nicht der erste, dem das passiert. Sind ja auch verrückte Stufen.“ Dann durfte ich gehen.

Als ich die schon erwähnte Treppe hochgegangen war, ging es an einer langen Baracke entlang, in deren Mitte ein Turm stand, der ebenfalls, wie die Baracken, aus Holz war. An der anderen Seite der Baracke waren nummerierte Türen. In die Nummer Eins sollte ich eintreten. Als ich durch die Tür trat, kam ich erst in einem kleinen Vorraum. Dann kam eine weitere Tür. In der nächsten Stube befanden sich der Heimleiter und ein anderer junger Mann, der eine Hitlerjugend-Uniform trug. Er hieß Robert Kleingünter und erwies sich als Stubenältester. Er war im zweiten Lehrjahr. In der Stube standen zwei große Tische mit Bänken und an den Stirnseiten je ein Schemel. In der Mitte des Raumes befand sich ein Stützbalken und neben diesem ein großer Kanonenofen, dessen Rohr durch das Dach ging. Vorn neben dem Eingang stand ein großer Schuhschrank. Der Heimleiter und der Stubenälteste zeigten mir mein Bett und wie es herzurichten sei. Während sie gerade demonstrierten, wie der Bezug über die Decke zu ziehen sei, kam ein weiterer Bewohner. Es war Waldemar Hüsing aus Göttingen. Er bekam das Bett unter mir und den Spind neben meinen, der gleich neben dem Bett stand. Hüsing sagte zu den beiden Bettenbauern, dass sie gleich mit seinem Bett weitermachen könnten. Das taten sie aber nicht. Waldemar Hüsing war schon 18 Jahre alt und kein regelrechter Lehrling. Er hatte das Abitur abgelegt und wollte studieren. Vorher sollte er ein Jahr als Volontär im Werk arbeiten. Was das war, wusste ich damals nicht. Er musste sich jedenfalls so verhalten wie wir Lehrlinge.

Die Stube hatte an jeder Seite zwei Fenster. Der vordere Tisch stand an der Türseite quer vor den beiden Fenstern, während der andere Tisch mit einer Stirnseite vor den anderen beiden Fenstern stand. So stand er auch an den Fußenden der Doppelbetten, man hatte aber noch genügend Platz zum Sitzen am Tisch. Die Baracken gehörten zum ehemaligen Arbeitsdienstlager von Suhl.

Der Heimleiter kam später mit weiteren Neuankömmlingen, von denen nur einer zu uns hereingeschickt wurde. Es war Hans Syndermann aus Lüneburg. Robert Kleingünter, der Stubenälteste wies ihn ein. Gegen 19.00 Uhr ertönte draußen ein langer Pfiff mit einer Trillerpfeife und der Pfeifer rief: „Raustreten zum Abendessen!“, was dann noch einige Male wiederholt wurde.

Robert Kleingünter führte uns herunter zum Speisesaal. Zu ihm gelangte man durch eine Mitteltür oder eine Tür neben der Küche, die praktisch über dem Wachhäuschen lag. Von der Küche her wurden die Tische, die mindestens für 16 Mann Platz boten, nach den Stubennummern besetzt, wodurch wir als erste an der Küche sitzen konnten. Der letzte und zwölfte Tisch befand sich in der Nähe einer kleinen Bühne.

Der Heimleiter stellte uns die Köchin vor. Sie war eine stramme, große Frau mit blonden Haaren, hatte ein ovales Gesicht, war freundlich, aber bestimmt. Sie ließ nichts durchgehen, wie wir später feststellten. Gundula war ihr Name. Ihr zur Seite stand eine etwas ältere Frau aus Dresden. Während Gundula noch keine vierzig war, hatte ihre Küchenhilfe die Fünfzig schon überschritten. Sie bedauerte uns immer, wenn wir schwere Stunden zu überstehen hatten. Dafür hatte uns Gundula fest im Griff. Das Geschirr war derb und nicht so leicht zerbrechlich. Vor allem die Tassen waren recht stabil. Die ganze Küchenausrüstung entsprach der vom Reichsarbeitsdienst, wie auch alles andere im Heim vom Reichsarbeitsdienst stammte. Gundulas Kakao schmeckte uns und das Essen ebenso. Ich war zufrieden.

Nachdem wir abgeräumt hatten – es wurde auch gleich ein Tischdienst für jeden Tisch bis zur nächsten Woche eingeteilt –, erklärte uns der Heimleiter wie der weitere Ablauf unseres Wohnens im Heim vonstatten gehen sollte. Um 21.00 Uhr war Zapfenstreich. Jeder hat dann im Bett zu liegen. Der Stubenälteste hat dem „Führer vom Dienst“ bei dessen Erscheinen in der Stube eine Meldung zu machen, in der besondere Probleme wie Krankheiten oder das Fehlen einer Person, auch Schäden in der Stube, in die Meldung einzubeziehen waren. Die Meldung habe in Ausführung des „Deutschen Grußes“ zu erfolgen. Am Morgen würde gegen 4.30 Uhr geweckt. Daran anschließend erfolge in Turnhemd und Turnhose Frühsport. Nach dem Frühsport sei Waschen, Bettenbau und Stubendienst dran. Gegen 5.30 Uhr sei Frühstück, wozu jeder seine Brotbüchse für drei Doppelstullen mitbringen und füllen müsse. Fragen würden die Stubenältesten sicher beantworten können. Der Heimleiter wünschte uns eine gute Nacht und entließ uns auf die Stuben.

Kurz vor 21.00 Uhr ging Robert Kleingünter als Stubenältester an seinen Spind und holte ein Horn heraus, mit dem er zum Zapfenstreich blasen wollte. Wir betrachteten der Reihe nach das Horn und dann ging Robert los. Kurz darauf hörten wir ihn blasen. Er blies die Melodie vier mal hintereinander. In jede Himmelsrichtung ein mal. Bald darauf kam Robert wieder und scheuchte uns ins Bett. Für viele von uns war das neu, so hoch in einem Bett zu liegen und man fragte sich, ob man da nicht heraus und herunterfallen könne. Oben schliefen auf unserer Stube Hans Syndermann und ich. Unter mir lag Hüsing und unter Syndermann lag Franke. Die beiden voll belegten Betten standen an der Fensterwand, von wo man durch die Fenster noch besser als im Speisesaal ins Tal oder nach Suhl schauen konnte. Nun aber nicht mehr, denn die Fensterläden waren zugeklappt, weil verdunkelt werden musste. Das war der Schutz vor feindlichen Flugzeugen, die in der Nacht kommen könnten.