Verdorbene Jugend

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Die Freizeit in Dietzhausen

Wenn man umzog, musste man sich auch in der Hitlerjugend ummelden. Da hatte ich nun meine eigenen Vorstellungen. Ich meldete mich in Dillstädt in der Flieger-Hitlerjugend an. Wie ich auf diese Idee kam, weiß ich nicht mehr. In Dillstedt gab es eine Familie Mönch, die einmal einige Jahre in Bürgel gewohnt hatte. Sie hatten fünf Kinder. Von uns Kindern war ja keiner fett. Aber der kleine Mönch, wir gaben ihm den Spitznamen „Glatze“, war besonders drahtig. Er konnte wie ein Äffchen die Bäume hoch klettern. „Glatze“ deshalb, weil Mönch und Glatze bei uns eine Einheit bildeten. Durch Zufall habe ich „Glatze“ in Suhl getroffen. Ich hatte daraufhin Mönchs in Dillstett besucht und wurde freundlich aufgenommen.

Bei ihnen entdeckte ich einen „Volks-Brockhaus“, der mir so gut gefiel, dass ich mir selbst so ein Buch beschaffen wollte. Ich konnte mir aber nur einen Sprach-Brockhaus zulegen, weil es den Volks-Brockhaus damals nicht mehr gab. Das Buch bekamen meine kleineren Geschwister später wohl als Spielzeug und zerflederten es erheblich in der Zeit als ich nicht zu Hause, sondern für Kriegsdienste und deren Folgen mein Leben woanders verbringen musste.

Damals jedenfalls interessierte ich mich sehr für das Segelfliegen. So eine Gruppe gab es in Bürgel auch. Uns jüngere hatte man in Bürgel zum Flugzeugmodellbau angesprochen, wobei ich halbherzig mitmachte. In der Werkstatt bauten die Großen richtige Segelflieger, mit denen sie dann flogen. In der Nähe der Wilhelmshöhe bei Bürgel konnten wir zusehen wie die Großen ihre ersten Hoppser machten. Auf der östlichen Seite ließen wir einmal die Flugmodelle fliegen. Ein schon größerer Junge hatte ein Modell gebaut, das man „Strolch“ nannte. Eigentlich wollte der Erbauer es nicht fliegen lassen. Das Modell war recht groß und hatte eine Spannweite von etwa 1,80 Meter. Der „Strolch“ flog aber gut und entschwand unseren Blicken. Hinter dem Dorf Droschka hat man ihn wiedergefunden.

Mit der Anbindung an die Flieger-Hitlerjugend hoffte ich auf ähnliche Erlebnisse. Wir bereiteten uns theoretisch auf das Fliegen vor. Das wurde allmählich langweilig, weil es nicht vorwärts ging. Wir sollten auf Tauglichkeit untersucht werden und danach hofften wir auf den ersten Hopser am Großen Dollmar bei Meiningen. Die Sache zerstob dann, als unser Gefolgschaftsführer eingezogen wurde. So meldete ich mich in Dietzhausen an, wo aber nicht viel passierte. Zu den Eintopfsonntagen, die jeden Monat einmal angesagt waren, mussten wir für das WHW, das Winterhilfswerk, sammeln. Da war man aber nicht jedes Mal an der Reihe.

Wie ich schon berichtete, waren Höfert und ich zu Hausarbeit verpflichtet. Das hieß bei unserem Kleinbauern Otto Bart, dass es auch Arbeiten auf Feld und Wiese gab. Die machten wir mit nicht viel Elan. Die erste größere Arbeit war Gras mähen. Ich hatte davon nur soviel Ahnung, dass man dazu eine Sense benötigt. Höfert hatte das zu Hause schon machen müssen. So konnte er mit Herrn Bart mithalten, was mir nicht gelang, obwohl ich eine kleinere Sense hatte. Ich habe dabei das Mähen so halbwegs gelernt. Beim Roggen mähen, wozu man auch Hauen sagt, durfte nur Höfert die Sense schwingen.

Wir waren einmal allein mit Frau Bart auf dem Feld. Das Jahr war sehr kompliziert, weil es oft regnete und das Getreide auf den Puppen nicht trocknete. Daher ging Frau Bart bei schönem Wetter morgens aufs Feld und breitete die Garben nach dem Öffnen des Bandes auf dem Feld aus. Zum Abend gingen wir hinaus und rafften die Garben wieder zusammen, banden sie und stellten wieder Puppen auf, um vielleicht am nächsten Abend einfahren zu können. Das konnte man aber wieder nicht, weil der nächste Regen das verhinderte. Dieses Wetter hatte zur Folge, dass es im Jahr 1941 eine schlechte Ernte gab und insgesamt das Essen knapper wurde. Das merkte man vor allem am Betriebsessen.

Die Wiese, auf der ich das Mähen lernen sollte, befand sich in Dietzhausen. Barts hatten aber noch eine Wiese, die zwischen Wichtshausen und Dillstädt lag. Das war ein Erbteil von Frau Bart. Die Wiese wurde von Frau Barts Vater mit einem Pferdemähwerk gemäht. Wir hatten dort meist nur beim Einfahren zu helfen. Dazu borgte sich Herr Bart in Dietzhausen eine Kuh, die er zu seiner eigenen Kuh vor den Wagen spannte.

Barts’ Kuh war ein unruhiges Tier. Ich hatte zum Aufladen der Fuder die Kühe in Schach zu halten. Das war schlimmer, als den ganzen Nachmittag das Heu hoch zu gabeln. Höfert durfte gabeln oder auf dem Wagen bauen. Das Kühehüten war unter seiner Würde. Höfert hatte starkes Rheuma und war dadurch in seinen Bewegungen eingeengt. Aber Kühe halten – nee. „Nit“ hätte er als Schwabe gesagt.

Das Rheuma hatte er sich wahrscheinlich als zehnjähriger Junge geholt, als er mit einem weiteren Jungen im Winter an einer Kiesgrube spielend vom Rand in die Grube rutschte und dabei durch das dünne Eis brach. Völlig durchnässt musste er eine größere Strecke nach Hause laufen, was in der Winterluft zu starker Unterkühlung führte. Trotz dieser Krankheit, die man ja nicht sah, hatte man ihn dann zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, wo sich das Rheuma wesentlich verschlimmerte. Er verbrachte dann längere Zeit in Krankenstuben und aus dem regulären halben Jahr, nach dem es meist zum Militär ging, wurde ein dreiviertel Jahr. Höfert wurde schließlich als wehrdienstunfähig entlassen.

Ich war während dieser Zeit allein bei Barts. Doch bevor Höfert zum Arbeitsdienst musste, haben wir uns ab und zu gekabbelt, was dann meist in einen unentschiedenen Ringkampf endete. Der Grund dazu war oft die Religion. Höfert war katholisch und ich glaubte eigentlich an nichts. Der Wettstreit ging schon los, wenn wir Mundharmonika spielten. Hatte ich eine Mundharmonika-Melodie in D-Dur mir der Bezeichnung „Wanderlust“, hieß Höfert seine „Klosterglocken“ und hatte einen Klang in Moll. Das passte nicht zusammen. Es gab noch andere Kabbeleien. Im Heim hatten wir gelernt, unser Päckchen zu bauen, wenn es ins Bett ging. Als ich dann mit Höfert im gleichen Zimmer wohnte, hielt sich dieser nicht mehr daran. Er stieg aus den Hosen und ließ diese einfach vor dem Bett stehen. Ich baute auf meinen Stuhl mein Päckchen, wie gewohnt. Höfert begründete sein Verhalten damit, dass der andere, der vor mir mit Höfert im Zimmer geschlafen hatte, es ebenso getan hätte. Doch spätestens beim Frühstück waren alle Kabbeleien vergessen.

Alle drei Wochen kam ein Friseur ins Haus. Es war für uns nicht nur bequem, sondern auch billiger, als bei einem stationären Friseur. Meist wurde im Sommer ein Stuhl auf den Hof gestellt und los ging es. Ich glaube, das der Haarschnitt nur 30 Pfennige kostete. Im Geschäft kostete er 40 Pfennige, also einen Groschen mehr.

Es gab viele Arbeiten, die wir mit Herrn Bart zusammen erledigten. Am Anfang sind wir mit dem Kuhgespann durch die Bahnunterführung in Richtung Schmeheim in den Wald gefahren, wo wir Fichtenäste aufluden und auf den Hof transportierten. Die Fichtenäste wurden, während wir auf Arbeit waren, von Frau Bart mit einem scharfen Bajonett und einem Hackstock von den Reisern getrennt. Der starke Ast wurde zu Feuerholz weiter verarbeitet und die Reiser wurden zu Einstreu für die Kuh. Das machte man dort so, weil das geringwüchsige Stroh nicht ausreichte und lieber gehäckselt und verfüttert wurde. Herr Bart erklärte uns, dass der Dung aus Fichtenreisern kaum Unkraut auf die Felder brächte, wogegen das mit Strohdung eher möglich sei.

Mit der Kuh gab es manche kritische Situation. Als wir von der großen Wiese hinter Wichtshausen einfuhren, saßen Höfert und ich auf dem Fuder, denn wir mussten mit abladen, während Frau Bart auf der Wiese weiter Heu zusammenraffte. Kurz vor Wichtshausen zog die Kuh den Wagen mit samt der anderen Kuh durch den Straßengraben auf die Wiese und da standen wir nun. Sie ging dann keinen Schritt mehr, sodass sich Herr Bart in Wichtshausen eine andere Kuh leihen musste. Die eigene Kuh wurde hinten an den Wagen gebunden.

Später, als Wilhelm Höfert schon ausgezogen war, wollte Herr Bart mit mir zu der großen Wiese fahren. Frau Bart war mit dem Fahrrad vorausgefahren, um inzwischen das Heu zusammenzuraffen. Die Kuh war schon an den Wagen gespannt und stand auf Straße. Herr Bart hatte etwas vergessen und beauftragte mich, die Kuh zu beaufsichtigen. Ich stand einen Moment neben der Kuh und bemerkte wie sie mit dem linken hinteren Fuß in den Zugstrang trat. Ich wollte das richten und hielt mit meiner linken Hand die Leine, die am Kopf der Kuh befestigt war. Ich kommandierte „Fuß“ und wollte den Strang aus den Klauen ziehen. Doch im gleichen Moment stürmte die Kuh los. – Während ich noch am Kopf der Kuh stand, marschierte ein Pferdegespann ohne Wagen an mir vorbei in Richtung Hauptstraße. Dieses Gespann war nun vor uns und die Kuh zog los. Ich sah schon, wie die Wagendeichsel unseres Wagens in den Hintern des linksgehenden Pferdes gebohrt wurde und zog in meiner Angst die Kuh nach links, von den Pferden weg. Es gab aber kein weiteres Ausweichen. Der Gespannführer hatte bemerkt, was los war und versuchte, seine Tiere soweit wie möglich zur Seite zu treiben. Doch bevor ihm das gelang, war ich schon mit Kuh und Wagen an seiner Seite. Ganz knapp raste die Kuh dort vorbei.

Mich drückte die Kuh mit ihrem Leib gegen den nun erreichten Gartenzaun. Da wir das Pferdegespann überholt hatten, versuchte ich, den Druck nach rechts auszuüben. Ich konnte erst nicht an der Kuh vorbei, weil mich der Zaun hinderte. Der Zaun war zu Ende und ich spurtete vor zum Kopf der Kuh. So konnte ich sie nun mehr nach rechts treiben, denn es kam ein weiterer Gartenzaun. Vor dem Haus standen gerade drei Frauen, die vom Heu wenden kamen, jede trug einen Rechen. Als sie mich mit der galoppierenden Kuh sahen, hielten sie die Rechen quer zum Weg, um die Kuh aufzuhalten. Doch das war nutzlos. Sie schrieen auf, als die Kuh und ich samt Wagen an ihnen vorbei rasten. Obwohl ich nun am Kopf der Kuh angelangt war und mit dem Knüppel auf die Vorderpartie des Kopfes eindrosch, näherten wir uns im Galopp der Hauptstraße. Ich hatte mich schon bis zum Zaum vorgearbeitet und versuchte zu bremsen. Meine größten Bedenken waren, dass auf der Straße ein anderes Gespann oder ein Auto gefahren kommen könnte. Wenn die Fuhre aber geradeaus weiter ging, würde die Kuh samt Wagen auf eine Hauswand prallen.

 

So versuchte ich, das Gespann auf die Hauptstraße zu lenken. Das gelang mir und ich brachte gleichzeitig die Kuh zum stehen. Ich war vielleicht froh. – Vor allem, dass kein Fahrzeug gekommen war. Zu dieser Zeit kam ja sowieso kaum ein Auto, aber wenn irgend etwas gekommen wäre, hätte das sehr böse ausgehen können. Ich selbst hätte aber auch zwischen die Kuh oder den Wagen und die Zäune geraten können.

Herr Bart, den ich gerade noch mit seinen extremen O-Beinen die Sandgasse herunterlaufen sah, war sehr froh, das der Kuh und mir nichts weiter passiert war. Er meinte, dass es trotzdem ein Glück war, dass das mir passiert sei und nicht seiner Frau. Die hätte nicht neben der Kuh her rennen können. So hätte ich aber das Schlimmste verhütet. Die Kuh kam in den Stall und Herr Bart borgte sich wieder eine andere.

Höfert kam also stark rheumakrank vom Arbeitsdienst zurück. Er quälte sich sehr. Wie das beim „Barras“ so war – den Reichsarbeitsdienst kann man da ohne Gewissensbisse dazuzählen – ging es früh nach dem Wecken zum Frühsport. Meist mit freien Oberkörper. Das vor allem hat Höferts Rheuma verstärkt und seine Bewegungen waren noch mehr eingeengt. Er lernte ursprünglich Maschinenbauer. Das hatte man dann auf Technischen Zeichner geändert, doch das raue Klima in Suhl und Umgebung wurden für Höfert unerträglich. Ich hab ihn dann ab und zu mit Salbe eingerieben und massiert.

Einmal haben wir das auf die Spitze getrieben. Von unserem Stubenfenster aus war es kein Problem in den Garten zu kommen. Wir zogen uns bis auf die Turnhose aus und stiegen im tiefsten Winter in den Schnee. Ich wollte das allein machen, doch Höfert stieg mir nach. Eigentlich hatte ich nur vor, vorbeigehende Leute mit meinen barfüßigen Spuren im Schnee zu schocken. Wir erklommen aber bald wieder unser Fenster, trockneten uns ab und krochen unter die Bettdecke. Dort wurde es schnell warm. Höfert hatte danach einige Tage lang weniger Beschwerden. Weil Höfert nachweisen konnte, das er beim Reichsarbeitsdienst eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes erlitt, wurde ihm gestattet, seine Lehre in Freiburg im Breisgau fortzusetzen. Dort sollte das Klima günstiger für ihn sein.

Da war ich dann wieder allein bei Barts. Auch mit der Arbeit. Doch Höfert hatte mich etwas aufgehetzt. Es ging dabei um das Obst im Garten von Barts. Wir waren bei vielen Arbeiten im Garten dabei und wir sahen die Beeren wachsen. Doch während unseres Urlaubs waren die Beeren alle abgenommen. Ich hatte ja verzichten gelernt, aber Höfert wohl nicht. So moserte er nach dem Urlaub deswegen herum. Was wir damals aber nicht gesehen hatten, war, dass wir jeden Morgen unseren Gelee zum Frühstück bekamen.

Ein neuer Freund

Ich kann nicht mehr genau sagen, wann und wie ich den Lehrling Rolf Triebel getroffen habe. Rolf stammte aus Schmeheim und wollte den Beruf eines Graveurs erlernen. Ich hatte inzwischen von einem ehemaligen Stubennachbarn erfahren, dass man dazu ein Künstler sein müsse. Rolf war einer.

Schmeheim lag fast vier Kilometer von Dietzhausen entfernt. Diese Strecke musste Rolf zwei mal am Tag zurücklegen. Zu Fuß gab es eine Abkürzung, so wurden es nur drei Kilometer. Die Abkürzung führte den Weg entlang, den wir mit dem Kuhgespann zum Reisig holen gefahren sind. Die Straße nach Schmeheim bog unter der Bahnunterführung in Dietzhausen nach links ab und verlief ansteigend ein Stück parallel zur Bahnlinie. In einer Kurve ging der Abkürzungsweg ab, der dann gleich recht steil den Berg hinauf führte. Er mündete oben wieder in die Straße nach Schmeheim.

Diesen Weg bin ich häufig gegangen, weil Rolf und ich uns oft in Schmeheim trafen. Als ich allein bei Barts war, machte ich von diesem Weg aus auch viele Wanderungen, die ich immer weiter und weiter ausdehnte. Ich hatte mir eine Landkarte gekauft und lief dann viele Täler und Höhen ab. So lernte ich die Gegend bis hinter Heinrichs, wo die „Lange-Bahn-Ruine“ zu finden ist, gut kennen. Als Orientierung diente mir oft der Große Dollmar, der ab und zu über die Baumwipfel hinaus ragte. Das war eine schöne Zeit für mich.

Mit Rolf Triebel ging ich dann oft gemeinsam. Er hatte das Interesse, Wild aufzuspüren, um es zu skizzieren. Er wollte das Wild in der Natur sehen, um dann bessere Bilder zu zeichnen und letztendlich auf die Jagdgewehre zu gravieren. Rolf ging in Suhl auf eine Kunstschule. Ab und zu zeigte er mir, welche Hausaufgaben er bekommen hatte. Das waren gleichmäßig über ein DIN A4-Blatt gezeichnete Kringel oder Kreise und noch andere Dinge. Ich habe gestaunt, wie er das konnte. Wenn er zeichnete, ließ ich ihn allein, um nicht zu stören. Wenn er fertig war, übten wir Judo und Jiu Jitsu. Um die Fallübungen zu absolvieren, gingen wir in die Scheune von Triebels, und nutzten das Stroh als Unterlage. Die meisten der geforderten Leibesübungen machten wir allein. Ich am liebsten vor dem Schlafengehen und dann zwischen den zwei Betten.

Außer den mit Rolf Triebel verbrachten schönen Stunden, war ich mehr Einzelgänger. Ich hatte zunächst noch keine Verbindung zur Jugend in Dietzhausen. Zur Winterzeit lud mich Rolf Triebel ein, mit den anderen Schmeheimer Jungen an den Wochenenden abends zu den Mädchen in die „Lichtstuben“ zu gehen, wenn diese das zuließen. Das ist uns auch ab und zu gelungen. Wenn wir dort uns aber nicht so verhielten, wie die Mädchen das wollten, mussten wir das Feld räumen. Das ist uns einige Mal passiert. So richtete sich meine Aufmerksamkeit mehr auf Schmeheim. Es gab aber auch viele Stunden, da standen wir nur auf der Straße herum und machten manchmal auch Unsinn, wie zum Beispiel, mit Schneebällen die Straßenlaternen zu treffen. Da ließ ich aber lieber die Schmeheimer werfen.

Rolf und ich haben in der Freizeit, solange man noch sehen konnte, Jiu Jitsu geübt. Wir richteten uns nach einem Buch, was „Die unsichtbare Waffe“ hieß. Erst hatte nur ich es. Damit Rolf auch eine Unterlage hatte, kaufte er ebenfalls eins. Wir kamen nach meiner Ansicht damit gut zurecht, und legten uns gegenseitig mit den einzelnen Griffen und Würfen aufs Kreuz. Bei der guten Strohpolsterung in Triebels Scheune ging das.

Der Krieg gegen die Sowjetunion – wir sagten Russland– ließ Rolf und mich aufjubeln. Jetzt ist die Zeit auch für uns bald gekommen, wo wir die tapferen deutschen Soldaten selbst sein können. Es gab noch kein Stalingrad. Nur vor Moskau hat es gestoppt. Nun ja, die deutschen Soldaten hatten nichts Warmes anzuziehen und der russische Winter war ja auch hart.

Am 1. Oktober 1941 hatte es geschneit und ich machte im Dunkeln einen Skilaufversuch. Es ging schlecht, denn der Schnee klebte. Bald war der Schnee wieder verschwunden. Während der Schnee bei uns verschwand, kam er in Russland um so mehr. Es kam schließlich so weit, dass man die Bevölkerung bat, ihre Skier für die Soldaten in Russland abzugeben. Was sollte ich machen. Ich war ja ein guter Hitlerjunge und Herr Bart ein Parteigenosse. Ich schrieb an Onkel Fritz, der noch an der Schweizer Grenze im Einsatz war. Er schrieb zurück, dass ich die Skier abgeben sollte. Es war ja lächerlich, wie ich mit diesen Brettern dann auf dem Gemeindeamt ankam. Die Kanten waren abgerundet und die Bindung zum Wegwerfen.

Doppelflinten

Damit wir uns die Arbeitsgänge an den Gewehren besser einprägen sollten, wurden für jeden zwei Rohlinge zur Verfügung gestellt. Das ging los mit: Patronenzieher einpassen, Kasten aufpassen, Vorderschaft anpassen und dann Kasten aufklappen. Wir brauchten für die zwei ersten Gewehre etwa acht Wochen. Bei den nächsten ging es auch noch nicht schneller. Zur Facharbeiterprüfung sollten wir ein Gewehr in einer Woche schaffen. Für jedes Gewehr bekamen wir den Lauf und einen kleinen Pappkarton, indem sich die restlichen Teile ohne den Schaft und dessen Beschläge befanden. Unter Lauf verstand man die bereits zusammengelöteten Läufe. Bei Doppelflinten waren das eben zwei, beim Drilling drei und beim seltenen Vierling vier.

Die Werkstatt war ein schmaler Raum, in dem links und rechts Platz für die Schraubstöcke war. In der Mitte befanden sich Gestelle, in denen die Läufe und die Pappkartons abgestellt werden konnten. Dort wurde zum Feierabend alles deponiert, auch wenn die Gewehre fertig waren. Wir sagten „Gewehre“, doch war das nur der Lauf mit dem Kasten. Der Kasten war ein gefrästes Teil, was in seiner Form grob einen Winkel darstellte. Dieses Teil war so gefertigt, dass es sich nach dem An- und Aufpassen an den Lauf anschmiegte. Wenn der Vorderschaft angebracht war, konnte man den Kasten vom Lauf abkippen. Daher nennt man diese Gewehre auch Kipplaufgewehre.

Das Kippen wurde durch das Einsetzen eines Scharnierstiftes möglich, der an der Vorderseite des Hakens eingriff. An der Vorderseite des Kastens wurde nach dem Anpassen der Sitz für den Scharnierstift aufgerieben und der Stift eingetrieben. Er musste fest und genau mittig im Kasten sitzen, sonst hätte der Stift die Spannhebel behindert. Der Haken ist ein unter den Läufen liegendes Flachstück, was an die Auflageflächen für die Läufe angearbeitet ist. In der Mitte besitzt der Haken einen bogenförmigen Durchbruch, sodass zwei Halteflächen für den Verschlusskeil genutzt werden können. Für den Vorderschaft gab es ein Gegenlager, genannt Haft, was etwa 90 Millimeter vor dem Haken unter den Läufen angelötet war. Der Vorderschaft musste dann leicht in die Spannung zwischen Kasten und Haft mit einem Schraubendreherheft eingetrieben werden. War der Scharnierstift eingezogen und der Vorderschaft passte, konnte man den Kasten abkippen. Jetzt musste der Kasten gasdicht angepasst werden. Dazu wurde der Kasten leicht angekippt und mit einem leichten Schlag auf die Kastenschiene wurde die Kastenfläche auf die Laufenden aufgeschlagen. Beim Anlegen der Kastenfläche schaute man durch den möglichen Ritz der Kastenfläche. Da durfte nichts zu sehen sein und auf der Kastenfläche musste sich das gleichmäßig abzeichnen. Das dauerte schon eine geraume Zeit.

Die Zeit, eine komplette Doppelflinte zu „systemieren“, war auf den beiliegenden Karten in den Pappkästchen zu finden. Sie betrug 510 Minuten. Eine für uns damals unvorstellbare Zeit. Man konnte sie nur erreichen, wenn die einzelnen Tätigkeiten in Gruppen getrennt wurden und es für jede Gruppe eingearbeitete Leute gab.

In der Werkstatt waren für uns ausreichend Schraubstöcke vorhanden. Das waren aber keine Parallelschraubstöcke wie in der Lehrwerkstatt I, sondern Zangen- oder Flaschenschraubstöcke. In dieser Werkstatt gab es nur einen Parallelschraubstock. Er diente vor allem dazu, einen Kasten leicht zusammenzudrücken, wenn die einzupassenden Teile zu viel Spiel hatten. Dazu waren zusätzlich zwei Schutzbacken vorhanden, die mit Vulkanfiber belegt waren, damit keine anderen Beschädigungen erfolgen konnten.

Neben dem Parallelschraubstock war an der Wand ein Bunsenbrenner installiert, der mit Stadtgas betrieben wurde. Die Flamme brannte ständig, sodass man zum Gebrauch nur etwas mehr aufdrehen brauchte. Wir benutzten den Brenner zum Härten und zum Schmieden. Dörner und Schraubenzieher mussten ab und zu nachgearbeitet werden. Das Schmieden dieser kleinen Teile erfolgte gleich auf dem Amboss des Parallelschraubstocks. Von den Gewehrteilen härteten wir den Hahn, die Stange, den Greener Ring, den Spannhebel und den Verschlusskeil.

Das Härten dieser Teile war eine Übung für später, wenn man einmal irgendwo in einer Büchsenmacherwerkstatt arbeiten würde. In der Serienherstellung machte das der „Reparierer“. Der überprüfte und erledigte dann die Feinheiten. Auch bei unseren Gewehren. Er hatte vor allem das Abzugsgewicht anzupassen. Die Abzüge liegen bei Doppel- oder Mehrlaufgewehren hintereinander. Da hat der vordere Abzug einen etwas leichteren Druck als der hintere. Gemessen wurde das mit einer Federwaage.

Es gab für uns viele Möglichkeiten, von und in dieser Werkstatt, Unsinn und Schabernack zu betreiben. Das Reißnadelverschießen war zwar nicht mehr möglich, dafür hatten wir erkannt, dass man die vorgebohrten Läufe als Blasrohr verwenden konnte. Es gab eine Stelle, von der man sich Lehm beschaffen konnte, aus dem man passende Kugeln rollte. Diese Kugeln verschossen wir. Erst haben wir uns gegenseitig beschossen, wenn der Meister Sturm nicht in der Werkstatt war. Der musste ja auch ab und zu zur Toilette gehen. Beim Meister Baumgarten, den wir lieber hatten als Sturm, war das nicht so schlimm. Er drückte bei Unsinn schon mal ein Auge zu. Wurde es ihm zu bunt oder eine andere Frechheit tauchte auf, dann sagte er zu dem betreffenden, der als schuldig ausgemacht war: „Ich spring dich gleich mit de bärbesche Orsch ins Gesiicht!“ Wenn er das sagte, war es bald soweit, das er dem Betreffenden ein Ohr lang zog.

 

Das gegenseitige Beschießen mit Lehmkugeln reichte einigen noch nicht. Am Nachmittag, zehn Minuten vor vier, war Vesper. Auf der anderen Seite unserer Werkstatt war eine Werksstraße und gegenüber lag die Elektroabteilung. Neben dem Eingang zu dieser Abteilung gab es eine kleine Verkaufsstelle, in der man Zigaretten, Bier und Limonade kaufen konnte. Von uns zweijährigen Lehrlingen musste jeden Tag nach 15 Uhr einer zum Einkaufen gehen. Dazu nahm man vorher die entsprechenden Bestellungen auf. Sollte man Zigaretten mitbringen, musste man Zigarettenmarken mitnehmen. Wir hatten noch keine Zigarettenmarken. Die gab es erst ab achtzehn. Rauchen durften wir ohnehin nicht im Betrieb und in der Werkstatt schon gar nicht. Die Facharbeiter rauchten schnell bei geöffneten Fenster zwei bis drei Züge. Bekam das Meister Gerbig mit, gab es großes Theater.

Bei schönem Wetter saßen zum Frühstück und zum Vesper neben dem Eingang zum Verkaufsstand oft Arbeiter, die dort ihre Brote verzehrten, Zeitung lasen oder rauchten. Da wir zum Frühstück nicht in den Speisesaal gingen, konnten wir die Leute sehen, wenn wir uns die Hälse verrenkten oder auf die linke Werkbank kletterten. War Meister Sturm nicht im Raum, wurde schnell einmal eine Lehmkugel an eine Zeitung geschossen, was dort verwundert zur Kenntnis genommen wurde. Aber nicht immer wurde nur eine Zeitung getroffen. Man konnte uns kaum ausmachen von unserem Platz aus. Ich habe nicht geschossen. Gemeckert habe ich aber auch nicht, obwohl ich das Beschießen der Leute für gemein hielt.

In Ermanglung von Lehm haben wir uns aus Schaftholz kleine Bolzen gefeilt. Solche Bolzen benötigten wir, um zu überprüfen, ob das Schlagbolzenloch genau genug in der Laufmitte sitzt. So einen Bolzen mit der kurzen Reißnadelspitze zu verschießen war nicht ungefährlich, konnte man den Beschossenen doch erheblich verletzen. Die Reißnadelspitze ragte etwa zwei bis drei Millimeter auf der einen Seite des Bolzens heraus.

Zum Mittagessen gingen wir in den großen Betriebsspeisesaal. Der Weg dorthin war weiter, als von der Lehrwerkstatt I und II. Wir Lehrlinge hatten einen Tisch für uns. Das Essen wurde nach der schlechten Ernte von 1941 bedeutend karger. Es gab oft Krautsuppe aus Sauerkraut. Einmal, wir hatten gerade begonnen mit dem Essen, da sprang auf der anderen Seite des Saales eine ganze Gruppe auf und verließ den Speisesaal. Erst später erfuhren wir, dass einer an diesem Tisch einen Damenstrumpfhalter in der Suppe gefunden hatte.