Verdorbene Jugend

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Forellenfang

Es dauerte nicht lange und ich erhielt die Einladung von Hartmann, dass ich am Sonnabend nach dem Mittag in Dietzhausen im Tal hinter dem Arbeitsdienstlager sein soll. Gleich nach der Ankunft meines Zuges in Dietzhausen ging ich los. Ich sah aber erst einmal niemand in der Nähe des Arbeitsdienstlagers. Dort wohnten zu der Zeit 300 Frauen, die man in der Ukraine eingefangen und nach Deutschland verschleppt hatte. Darüber machten wir uns damals wenig oder überhaupt keine Gedanken.

Ich ging im Tal auf der Straße entlang, die gut ausgebaut war. Da ich sehr schnell ging, holte ich Hartmann mit seiner Frau bald ein. Harald Tyrri, ein Kollege war auch dabei. Frau Hartmann und er zogen einen Handwagen, auf dem zwei Fässer standen. Wir gingen bis zu dem Teich, der am Ende des Baches lag, der sich das Tal entlang schlängelte. Unterhalb der Teiches wurden die Fässer mit Wasser gefüllt, weshalb der Handwagen vorher auf die Wiese neben dem Bach gezogen wurde. Ich dachte, dass da nun bestimmte Geräte und Vorrichtungen benötigt würden, doch nein, gefischt wurde mit den Händen. Nur ein Spaten war nötig. Damit baute Hartmann in bestimmten Abschnitten Dämme. Das Wasser, das aus dem Teich kam, wurde auf die Wiese geleitet. Dort verteilte es sich und floss dann neben dem Bach taleinwärts.

Dadurch wurde das Wasser unterhalb eines Dammes im Bachbett geringer und man konnte die Forellen besser unter den ausgespülten Uferstellen erwischen. Hatte man eine gefangen, wurde sie aus dem Bach geworfen zu der Seite, auf der Frau Hartmann mit dem Handwagen stand. Sie sammelte die herausgeworfenen Forellen auf und brachte sie in die Fässer auf dem Handwagen. Der Wagen musste sehr vorsichtig bewegt werden, weshalb einer von uns aus dem Bach sprang und Frau Hartmann unterstützte.

Tyrri und ich hatten Turnhosen an, da konnte der Hintern schon einmal nass werden, wenn eine Kuhle im Bach war. Hartmann trug Gummistiefel bis zur Hüfte. Das Wetter war schön, Tyrri und ich konnten es in dem kalten Wasser gerade so aushalten. Manchmal sprangen wir beide aus dem Bach, um Frau Hartmann zu helfen, den die Wiese war wärmer als der Bach. Nach etwa zwei Stunden gab es etwas zu Essen. Jeder bekam ein Stückchen Brot und eine dicke Scheibe Schinkenspeck. Das war nun etwas neues für mich. Noch nie hatte ich bis dahin so ein Stück Schinkenspeck in der Hand und durfte es essen. Schinken war in unserer Familie etwas Unerreichbares.

So gegen 18.00 Uhr wurde abgebrochen und Hartmanns zogen mit ihren Fässern in Richtung Suhl. Das waren rund acht Kilometer. Tyrri half ihnen bis Mäbendorf. Dort wohnte er, auch in Logis wie ich. Die Fässer wurden vorher mit frischem Wasser aufgefüllt. Am nächsten Tag gegen acht Uhr sollten wir wieder im Grund sein. Sonntag ging es also weiter. Am Nachmittag zogen Hartmanns wieder los. Ich bekam vorher drei Forellen, die ich mir dann von Frau Bart braten ließ. Noch nie hatte ich Forellen gegessen. Zum Abend wanderte ich noch nach Schmeheim zu meinem Freund Rolf Triebel.

Nun wusste ich, wie man Forellen fischt. Man kann sich dabei in den Bach stellen, oder sich am Ufer auf den Bauch legen und so unter die ausgespülten Uferstreifen fassen, wo sich die Forellen aufhalten. Dabei machte man erst die Arme breit und führte die Hände dann zusammen. Wenn man eine Forelle bemerkte, musste man schnell zupacken und das Tier herauswerfen. Manche Forellen hatten das wohl mehrmals schon überstanden und waren sehr flink wieder aus den Händen entwischt. Das waren auch die größten. Kleinere Forellen ließen wir wieder in den Bach. Hartmann hatte uns gezeigt, wie groß sie mindestens sein mussten.

Das war das ein schönes und erlebnisreiches Wochenende.

Kontakt im Dorf

Es muss noch im Mai 1942 gewesen sein, als Wilhelm Höfert vom Arbeitsdienst zurück kam. Zu den Sportleistungswettkämpfen waren wir beide auf dem Dietzhäuser Sportplatz. Willi als Zuschauer und ich als Wettkämpfer. Er konnte nicht am Lauf teilnehmen, nicht am Weitsprung und auch nicht werfen. Er war zu bedauern. Ein hübscher Kerl und Gelenke wie ein Greis. Bei diesen Wettkämpfen in Dietzhausen hatte man mich zum ersten Mal richtig zur Kenntnis genommen.

Nun gingen wir beide wieder öfter ins Dorf. Unsere Freizeit verlief ohne Besonderheiten und war recht langweilig. Wir standen herum und konnten uns Unsinn ausdenken. Wir durften uns abends nach 21.00 Uhr nicht mehr auf der Straße und schon gar nicht in einer Gaststätte aufhalten. Das sahen wir aber nicht ein und passten auf, ob der Gendarm auftauchte. Ertappte er uns, konnte man schon mal eine Reichsmark loswerden. Im Wiederholungsfall wurden es dann schon drei. Wir standen aber nicht bloß herum. Wir sangen auch Lieder. Da war das Küchenlied vom Wildieb das beliebteste. Aber das Lied vom Räuber, wo ein Mädchen, die so schön war wie Milch und Blut, an einem Wasserfall steht, sangen wir auch. Natürlich war es uns recht, wenn Mädchen sich zu uns gesellten. Wilhelm Höfert hatte es da auf eine abgesehen, mit der ich auch gern angebändelt hätte. Ich traute mich nicht und Höfert blitzte ab. Später erfuhr ich von einem anderen Mädchen, dass keine von ihnen sich mit Höfert eingelassen hätte, weil er katholisch sei.

Ich weiß nicht mehr genau, wann Höfert den Betrieb und Dietzhausen verlassen hat. Er lernte, als er vom Arbeitsdienst zurück war, Technischer Zeichner. Diese Tätigkeit konnte er noch ausüben. Als Maschinenbauer konnte er nicht mehr weitermachen.

Von den Jugendlichen im Dorf war ich vor allem mit Walter Debertshäuser zusammen, der zu meinem Freund wurde. Sein Spitzname war „Hutzel“. Ich hatte den Spitznamen „Schuster“, was man von meinem Familiennamen abgeleitet hatte. So sagte man erst Riemenschuster und dann nur noch Schuster, das war dann nicht so lang.

Manchmal machten wir uns den Spaß, die Mädchen zu erschrecken. Wenn wir, Jungen und Mädchen, aus Richtung Wichtshausen kamen, versteckten sich zwei Mann, die möglichst weiße Hemden trugen, auf oder am Friedhof. Der Friedhof lag am Ortsausgang rechts oben an der Straße. Wenn da bei Mondschein – den brauchte man schon – auf einmal wimmernde weiße Gestalten auf der Friedhofsmauer herumsprangen, bekamen die Mädchen Angst. Man musste das auch so machen, dass die Mädchen schon mehr auf der Dorfseite waren, sonst flüchteten sie in Richtung Wichtshausen. Um schaurige Gestalten zu erhalten, wurden die Hemden über den Kopf gezogen, sodass die Ärmel dann schlackerten. Das sah gespenstisch aus.

Wanderungen

Es war noch im Frühjahr 1942, als für unsere Klasse eine Wanderung nach Schmiedefeld am Rennsteig angesetzt wurde. Es ging durch Schmiedefeld zu einem flach gehaltenen Betriebsgebäude. Dort erblickten wir viele Maschinen, mit denen man verschiedene Arbeitsgänge zur Gewehrlaufherstellung ausführte. Die Theorie dazu hatten wir schon bei Meldke im Unterricht. Nun sahen wir die Wirklichkeit. Der Betriebsteil war neu errichtet worden, weil es in Schmiedefeld ausreichend Arbeitskräfte gab. In diesem Betrieb arbeiteten um die hundert Leute, von denen nur zehn Facharbeiter waren. Die anderen waren Angelernte, meist ehemalige Glasbläser.

Der Rückweg führte uns nach Vesser und von dort zu den ehemaligen Bergwerken in Richtung Suhl, wo wir aber nur zu den Stolleneingängen hineinsehen durften. Auf dem Rückweg kam mir der Gedanke, eine ähnliche, aber längere Wanderung von Suhl nach Ronneburg durchzuführen und zwar wenn der Jahresurlaub beginnt. Meine Eltern waren inzwischen von Bürgel dorthin umgezogen. Ich erzählte von meiner Idee bei einer Rast und konnte Walter Rosenhahn aus Zeitz dafür begeistern. Wir beide, Rosenhahn und ich, sahen das als eine gute „Stählung“ an, damit wir einmal gute Soldaten würden. Unsere Soldaten mussten ja auch viel marschieren und da konnte ein bisschen Übung uns nichts schaden. Es würde ja nur noch ein Jahr dauern, bis es für uns auch soweit wäre. Dann würden wir siegreich mit marschieren.

So trafen wir dann auch unsere Vorbereitungen. Wir hatten beide einen Tornister, und, damit der auch schwer genug sein möge – Soldaten hatten ja auch zu tragen – sollte jeder von uns einen Ziegelstein in seinem Tornister unterbringen. Mit meinem Tornister war schon Onkel Hans bei der SA in Bürgel marschiert.

Die Zeit kam heran. Vor Urlaubsantritt hatte man im Betrieb ein Sportfest für die Lehrlinge angesetzt. Das ging bis zum Mittag und dann, nach der Mittagssuppe in der Betriebsküche, sollte es mit uns beiden losgehen. Es kam aber anders.

Beim 100-Meterlauf hatte ich das Gefühl, dass sich das Zielband, was man damals noch benutzte, mir um die Beine wickelte. Ich kam ins Straucheln und stürzte auf die Aschenbahn. Es war ja eigentlich Schlacke, mit der man die Laufbahnen herrichtete, aber sie war auf alle Fälle scharf wie ein Reibeisen. Mein linker Oberarm, vom Ellenbogen bis zur Schulter und meine linke Rückenhälfte waren aufgeschrammt. Und nun wollte ich einen Tornister schleppen … Zunächst musste ich aber zum Betriebsarzt. Der wies die Krankenschwester an, mir die aufgeschrammten Teile mit Jod einzupinseln. Wenn die Schwester nicht so hübsch gewesen wäre, hätte ich bestimmt laut aufgeschrien. So biss ich die Zähne zusammen. Ich dachte aber, ich würde zur Barackendecke oben hinaus fahren. Die ganze Rückenhälfte bis zur Hüfte war kaputt. Ein paar Kratzer hatte die andere Rückenhälfte auch abbekommen. Das merkte ich nicht nur beim Einpinseln, sondern auch beim Tornisterschleppen.

Nach dem Mittagessen zogen wir von der Abteilung Berufsausbildung los. Erst ging es nach Suhl zum Lehrlingsheim, wo Rosenhahn seine Sachen holen wollte. Ich blieb unten am Bach und wartete und wartete. Ich konnte bald annehmen, Rosenhahn wollte aussteigen. Als er endlich kam, erklärte er mir, dass er vergessen hatte, sich seine Lebensmittelkarten herausgeben zu lassen. Nun konnten wir endlich losziehen. Wir kamen an dem Haus vorbei, in dem Tante Lotte inzwischen wohnte. Ihre Mutter, Frau Erdmann aus Bad Klosterlausnitz, war gerade am Fenster und sah uns. Sie fragte, wohin wir wollten. Ich erzählte es ihr. Das wollte sie erst nicht glauben. Doch dann sagte sie, wenn wir so etwas vor hätten, müssten wir erst eine Tasse Kaffee bei ihr trinken.

 

Dann ging es aber wirklich los. Gegen fünfzehn Uhr sind wir in Suhl auf der Straße nach Schmiedefeld am Rennsteig abmarschiert. Als wir die erste Abkürzung nahmen, hatte uns auch das erste Gewitter eingeholt. Rosenhahn besaß eine Zeltbahn, die er um den Tornister geschnallt hatte. Diese Zeltbahn lösten wir ab und gingen darunter nebeneinander weiter. Dadurch wurde auch die Decke geschützt, die ich auf meinen Tornister geschnallt hatte. Mit einer Zeltbahn und einer Decke, so dachten wir, kommen wir aus.

Bevor wir Schmiedefeld erreichten, bekamen wir das zweite Gewitter ab. Wir gingen weiter. In Schmiedefeld wurde es besser, doch am Ortsausgang mussten wir die Zeltbahn wieder übernehmen. Bei Allzunah ging es über die Bahnschienen der Strecke nach Frauenwald. In der Nähe wir fanden wir eine Gaststätte, in die wir einkehrten, weil es inzwischen recht kalt geworden war. In den nun schon feuchten Klamotten wollten wir uns nicht dem aufgekommenen Wind aussetzen. Wir kauften uns einen Muckefuck und wanderten nach unserer Stärkung weiter. Das Ziel war nun der Rennsteig, den wir bald erreichten. Ich hatte inzwischen schon genug vom Wandern und war froh, dass wir in dem Gasthof „Dreiherrenstein“ einkehren konnten. Darin war es angenehm warm und ich taxierte schon die mit dunklem Lederüberzug gepolsterten Sitzbänke als Schlafgelegenheit. Doch Rosenhahn wollte weiter. Unser Hauptziel an diesem Tag war Neustadt am Rennsteig. Nachdem wir ausgetrunken hatten, verließen wir das Gebäude und spürten wieder die Kälte, die wir immer heftiger an unseren freien Knien wahrnahmen, denn wir trugen kurze Hosen und Kniestrümpfe.

Der Rennsteig hatte für uns bald seinen Namen verdient. Wir rannten tatsächlich fast dort entlang. Der eine Grund war, weil es so kalt war und der andere, weil wir noch bei Tageslicht in Neustadt unseren Kumpel suchen wollten, bei dem unsere Übernachtung geplant war. Doch erst erlebten wir ein interessantes Schauspiel. Während wir den Rennsteig entlang hasteten, huschten tieffliegende Wolken vor uns, um uns und hinter uns über die Höhe des Rennsteiges, vom Südwesten kommend quer zu unserer Marschrichtung. Als wir den Wald vor Neustadt verließen, schien die Sonne. Das Straßenschild nach Großbreitenbach brachte uns zu der Überlegung, dass ja in Großbreitenbach unser Kollege Voigt wohnt. Der wusste ja auch, dass wir kommen. Neustadt kam uns zu groß vor. Wir hatten jedenfalls noch keine Lust zum Suchen und wanderten deshalb weiter. Es sollten ja nur noch vier Kilometer werden. So stand es am Wegweiser.

Die asphaltierte Straße wurde etwas abschüssig, da kam ein Auto von hinten und hielt neben uns an. Der Fahrer fragte, wo wir hin wollten. Wir sagten, nach Großbreitenbach. Er würde uns ein Stück mitnehmen. Nach Großbreitenbach direkt fahre er aber nicht. Ich drang darauf, dass wir einstiegen. Die Fahrt war sehr kurz. Vielleicht zwei Kilometer, da waren wir am Bahnhof Gillersdorf. Dort mussten wir nun wieder laufen. Großbreitenbach konnten wir aber schon sehen. Eine große Kurve ließ uns den Weg sehr lang werden. In Großbreitenbach kamen uns die Häuser eng und klein vor. Wir gingen weiter, als die Häuserreihen zu Ende waren. Großbreitenbach war aber viel größer als Neustadt und wir wollten uns nicht durchfragen. So dachten wir, in der nächstbesten Feldscheune zu übernachten. Mit dieser Idee verließen wir Großbreitenbach.

Der nächste Ort, den wir erreichten, war Böhlen. Rosenhahn meinte, dass es bei Leipzig auch ein Böhlen gäbe. Er kam ja aus dieser Gegend. Eine Feldscheune hatten wir bis dahin nicht ausgemacht. Ein Straßenschild, das zum Schwarzatal wies, hat uns zum Weitergehen veranlasst. Es dunkelte bereits. So stolperten wir den Weg taleinwärts. Lange dauerte es, bis wir eine Ortschaft ausmachen konnten und standen plötzlich vor einem Hotel. In welchem Ort wir waren, wussten wir nicht. In das Hotel ging es durch einen Torbogen, durch den man in eine Vorhalle kam, in der Licht brannte. Rosenhahn, dessen Windjacke durch das Wetter sehr zerknittert war, wollte nicht hineingehen und fragen, ob wir hier übernachten dürfen. Ich hatte noch ein gut aussehendes Sakko an, dem man die Wetterstrapazen nicht ansehen würde. Meine Lederhosen war zwar speckig, doch die sollten ja so sein. Je speckiger, je besser. Ich ging in den Gastraum des Hotels, der auch als Anmeldung diente. Die Frau am Tresen sah mich von oben bis unten an und fragte, was ich wolle. Als ich meinen Wunsch vorbrachte, schüttelte sie mit dem Kopf und meinte, dass sie voll seien, sie hätten so viele Sommergäste. Wer hatte jetzt im Krieg Sommergäste, wo alle für den Sieg kämpfen sollten?, dachte ich und drehte mich enttäuscht zur Tür ab.

Ich hatte gerade einen Schritt getan, da hörte ich, wie jemand „Sst!“ machte. Für mich kann das nicht gelten, dachte ich. Wer kennt mich hier schon. Doch dann hörte ich das Geräusch wieder und noch etwas eindringlicher. Ich versuchte nun durch den Tabakqualm zu erkennen, wer da nach mir rief. Es war ein ehemaliger Lehrling, der nun Jungfacharbeiter war. Wir waren ja inzwischen die Dreijährigen. Ich ging zögernd an seinen Tisch. Er fragte mich, wo ich herkäme. „Na, aus Suhl“, antwortete ich. Ob ich mit dem Fahrrad sei. Ich schüttelte mit dem Kopf und sagte, dass ich zu Fuß gekommen sei. Er hielt mich für verrückt. Ob ich wüsste, wie viel Kilometer das wären. Ich zuckte mit den Schultern. Er meinte, dass das 54 Kilometer wären. Ich sagte ihm, dass Rosenhahn auch dabei sei und wir eine Unterkunft für die Nacht suchten. Er erklärte, dass bei ihm zu Hause auch kein Platz mehr sei, höchstens auf dem Heuboden.

Ich war einverstanden und er kam gleich mit mir mit. Unterwegs erzählte er uns, dass bei ihnen zu Hause auch Sommergäste wären und seine Eltern würden schon in der Küche schlafen. Im Haus angekommen, wies er uns zum Heuboden. Er schlug außerdem vor, dass wir besser am Morgen mit dem Zug nach Schwarzburg oder Saalfeld fahren sollten. Für das Wecken würde er sorgen. Wir wühlten uns ins Heu und schliefen bald fest. Das Wecken klappte. Seine Eltern waren auch wach. Wir durften in der Küche Kaffee trinken und bekamen sogar ein Stück Kuchen dazu.

Zum Zug mussten wir uns beeilen. Die Haltestelle war nicht weit. Wir hatten ausgemacht, dass wir abwechselnd bezahlen. Rosenhahn wäre an der Reihe gewesen, die Fahrkarten zu kaufen. Er stellte fest, dass sein Portemonnaie fehlt. Er vermutete, dass es im Heu geblieben sei und rannte aufgeregt zurück. Den Fahrkartenkauf übernahm ich inzwischen. Der Zug bimmelte schon von Katzhütte kommend das Tal herein. Rosenhahn war nicht zu sehen. Der Zug fuhr ein und Rosenhahn war noch nicht da. Ich sah ihn aber inzwischen kommen und stieg auf die hintere Plattform des letzten Wagens. Der Zug begann zu rollen, da schwang sich Rosenhahn auf die Plattform. Er hatte sein Portemonnaie nicht gefunden.

Ich hatte bis Schwarzburg gelöst. Wir mussten nun aufpassen, dass wir nicht in den Schlaf fielen, denn wir hatten letzte Nacht höchstens viereinhalb Stunden geschlafen. Gegen Mitternacht waren wir zuvor in Meuselbach/​Schwarzmühle eingetroffen und der Zug fuhr hier schon gegen fünf Uhr ab. Es war wohl die vierte Station, an der wir aussteigen mussten.

Es war schwer, wieder in Gang zu kommen. Als wir auf der Straße waren, die unter dem Bahnhof Schwarzburg in Richtung Bad Blankenburg entlang führte, nahm ich meine Mundharmonika hervor und spielte ein Wanderlied. Das half uns, wieder in Tritt zu kommen. Während der Fahrt von Schwarzmühle bis Schwarzburg haben wir noch einmal alles durchgesehen, ob das Portemonnaie irgendwo dazwischen gerutscht wäre, es war aber nichts zu finden. So rechneten wir nun unterwegs nach Bad Blankenburg, wie viel Geld wir noch besaßen. Es würde uns reichen, wenn wir keine besonderen Ausgaben tätigten. Feste Größen waren die Bahnfahrten Bad Blankenburg – Saalfeld, Saalfeld – Kahla und Krossen – Zeitz oder Ronneburg.

So wanderten wir nun mutig weiter. Rosenhahn hatte mit dem Geld aber auch seine Lebensmittelkarten verloren. Nun musste er sehen, wie er die nächsten Tage über die Runden kam. Unterwegs konnte ich ja etwas abzweigen. Bei der Diskussion über diese Dinge bemerkten wir nicht, wie schnell wir vorangekommen sind. Während wir in Bad Blankenburg die Bahnschienen beim Bahnhof überquerten, wurden die Schranken gerade geschlossen. Wir hatten Glück. Die Zeit reichte, um die Fahrkarten zu kaufen und gleich ging es weiter.

In Saalfeld gaben wir unsere Tornister bei der Gepäckaufbewahrung ab, um einen Abstecher in die Feengrotten zu machen. Wir nahmen an einer Führung teil und gingen dann gleich wieder zum Bahnhof. Wir hatten geplant, von Saalfeld nach Kahla zu fahren. „Jena-Paradies“, hörten wir und schraken auf. Wir waren kurz nach der Abfahrt des Zuges in Saalfeld eingeschlafen. Nun ging es darum, schnell auszusteigen und ungehindert die Bahnhofssperre zu passieren. Doch das klappte nicht so ohne weiteres. Bei uns beiden hatten sich die Tornisterriemen in den Gepäcknetzen verheddert. Wir hörten schon das „Fertig–werden“ draußen und Rosenhahn konnte gerade noch die Tür abfangen, die zugeschlagen werden sollte. Ich hatte meinen Tornister auch endlich frei und beide stiebten wir auf die Sperre zu, dass man annahm, wir hätten es sehr eilig. Auch an der Sperre gaben wir Eile vor, damit der Kontrolleur die Fahrkarten nicht zu genau ansehen konnte. Die waren ja nur bis Kahla gültig.

Zunächst entfernten wir uns möglichst weit vom Bahnhof Jena-Paradies. Dann überlegten wir, was mit der unvorhergesehenen Situation anzufangen wäre. Zum Wandern hatten wir keine Lust mehr. Inzwischen hatte der Wind stark zugenommen. Doch wir kamen auf die Idee, auf der Saale, oberhalb des Stauwehres, einen Ruderkahn zu mieten. Aber das versagte man uns wegen des Windes, der immer turbulenter wurde. Obwohl ich früher schon in Jena war, kannte ich mich nicht besonders gut aus. Wir erkundigten uns, wann vom Saalbahnhof ein Zug in Richtung Bürgel abfahre. Ein bisschen Zeit zum Bummeln blieb, bis der Zug kam. Das Wetter hätte man zu dieser Zeit eher in den April eingeordnet und wir fröstelten wieder. Wahrend wir auf dem Bahnsteig herumtrampelten, kam ein Soldat auf uns zu und wollte wissen, was wir für Kerle wären und warum wir einen Tornister herumschleppen würden. Wir antworteten, dass wir uns auf die Militärzeit vorbereiten würden. Er schüttelte den Kopf und meinte, dass uns der „Barras“ noch zeitig genug erreichen würde.

Nach Bürgel waren es mit dem Zug noch siebzehn Kilometer. Auf der Landstraße wären es nur vierzehn gewesen. Unser Mut zum Wandern war ziemlich klein geworden. Wir wollten ja von Kahla über die Leuchtenburg nach Stadtroda und von dort nach Bürgel. Ich kannte auf dieser Strecke einige Feldscheunen und da hätten wir übernachten können. Doch weil wir es verpennt hatten, wurde nichts mehr daraus. So zuckelten wir mit dem Bummelzug über Porstendorf und Graitschen nach Bürgel.

Ich hatte uns bei meiner Großmutter angemeldet. Wir waren froh, dass endlich ein Bett auf uns wartete. Vorher haben wir uns die Füße gebadet und die Blasen beklebt. Die waren zahlreich. Doch mutig wollten wir am folgenden Tag auf unsere geplante Strecke Bürgel – Teufelstalbrücke–Mühltal – Krossen gehen. Mit dieser Zielstellung schliefen wir ein. Wir mussten uns zusammen ein Bett teilen. Da wir ziemlich müde waren, nahm ich den Köpergeruch von Rosenhahn nicht mehr so sehr wahr.

Als Großmutter meinen Namen rief, wurde ich munter. Sie meinte, wir sollten einmal aus dem Fenster sehen, es gäbe Landregen. Unser Plan war also über Nacht ins Wasser gefallen. Bei diesem Regen hätten wir die Wanderetappe nicht geschafft. Großmutter sagte, wenn wir einen Zug nach Krossen erreichen wollten, müssten wir gleich aufstehen. Wir erreichten den Zug und kamen zeitig in Krossen an der Elster an.

Unser Geld reichte neben den Fahrkarten nach Zeitz und Ronneburg gerade noch, einige Ansichtskarten zu kaufen, die wir unfrankiert abschickten. Zu Hause hieß es: „Ihr müsst unterwegs recht arm geworden sein.“ Recht hatten sie.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?