Verdorbene Jugend

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Der erste Arbeitstag

Wir bemerkten, wie Robert Kleingünter kurz vor halb fünf geweckt wurde. Nun ging der Ernst des Lebens los. Er tutete vier mal und kam dann zurück. Wir waren schon eifrig dabei, unsere Betten zu machen. Kurz nach Robert kam der „Führer vom Dienst“, der Heimleiter. Robert machte Meldung: „Stube eins alles auf und gesund. Keine besonderen Vorkommnisse.“ – „Danke“, entgegnete der Heimleiter und wünschte uns einen guten Morgen, was wir gemeinsam erwiderten. Kurze Zeit darauf ertönte ein Trillerpfiff und es wurde zum Frühsport herausgerufen. Trapp, trapp ging es los. Danach ging es zurück in die Stube und zum Waschraum. Viel Ruß wurde nicht gemacht. Im Laufschritt ging es zurück in die Stube.

Ich hatte gleich am ersten Tag und in der ersten Woche Stubendienst und musste mich ganz schön sputen, um bis zum Frühstück angezogen und fertig zu sein. Ich schaffte es, weil Hüsing mir zur Hand ging. Ich stellte den Besen gerade in die Ecke, da hieß es: „Raus treten!“ Wir strömten nach draußen und es ging in schnellen Schritten zum Speisesaal. Am Vorabend hatten wir die Order bekommen, die Hitlerjugend-Winteruniform anzuziehen. Dazu hatte ich nun sogar ein Mütze, eine Skimütze, wie sie zur Uniform getragen wurde.

Zum Frühstück gab es „Lorke“, das heißt Malzkaffee, und Marmeladenbrot. Nach dem Essen traten wir am Essenschalter an und nahmen die Frühstücksration in Empfang. Dann mussten wir die Treppen bis ins Tal überwinden. Im Tal angekommen, hatten wir in Marschkolonne anzutreten und los ging es. Kurz nach dem Abmarsch hieß es: „Ein Lied!“ – und vorn wurde angestimmt. Ich weiß nicht mehr, was wir damals sangen, aber ich weiß noch, dass ich mich ärgerte, weil für mich zu tief gesungen wurde.

Der Marsch führte Richtung Heinrichs und die große Esse des Betriebes kam uns näher und näher. Links von uns sahen wir den Sprungturm eines Sommerbades und ich freute mich schon auf das Baden gehen im Sommer. Bald darauf kamen wir auf die Hauptstraße. Einige meckerten wegen des weiten Weges. Auf beiden Seiten der Straße liefen Frauen und Männer in die gleiche Richtung wie wir. Die Mehrzahl bog aber dann zum Haupttor ab. Unser Marsch ging an einem weiteren Tor vorbei, wo man aber nur wenig Leute sah. Alle, die dort hinein wollten, führten ein Fahrrad mit. Später erfuhren wir, dass man dort nur mit einem Fahrrad durchgehen konnte, wofür auf dem Betriebsausweis eine zusätzliche Marke aufgeklebt sein musste. Links von uns bemerkten wir, wie von der Eisenbahn die Züge fuhren. Es musste gerade ein Zug gehalten haben, oder auch zwei, denn es kamen uns große Menschentrauben entgegen. Auch Omnibusse hatten uns überholt und bogen zum Betrieb ab. Wir marschierten bis zum Tor der Berufsausbildung. Der Bahnhof Heinrichs lag in der Nähe des Berufsausbildungseinganges. Ein Stück vor dem Eingang führten zwei Eisenbahnschienen über die Straße vom Betrieb zum Bahnhof, wo man einen recht steilen Anstieg ausmachen konnte. Wir bogen aber nun von der Straße ab und marschierten durch das Tor.

Hinter dem Tor hieß es dann: „Vorne kurz treten! – Reihe rechts!“. Wir marschierten die mir schon bekannte Treppe hinauf. Oben ging es durch eine Tür nach rechts in einen riesigen Saal. Wir wurden auf unsere Plätze eingewiesen. Hinter uns saßen schon auf voll besetzten Stühle Hitlerjungen, die nicht alle die Winteruniform trugen, sondern das Braunhemd und kurze Hosen.

In gedämpfter Unterhaltung warteten wir. Der Saal füllte sich mehr und mehr. Die Stühle für uns Neulinge standen längs in Richtung der Bühne auf der rechten Seite des Saales. Teilweise waren hinter uns noch Faltwände aufgezogen. Auf der Bühne war ein riesengroßes Hitlerbild. Vor der Bühne stand ein Rednerpult. Auf der Bühne links und rechts je eine Fahnengruppe und dann noch junge Männer in blauen Arbeitsanzügen, von denen einige einen neuen Vorschlaghammer bei sich führten. Die Hammerträger nahmen verschiedene Positionen ein. Einmal trugen sie den Hammer auf der Schulter oder er stand mit dem Stiel nach oben vor den leicht gespreizten Beinen.

Die Gustloff-Werke hatte sich für eine Einstellungs- und Freisprechungsfeier gerüstet. Wir wurden also in den Betrieb feierlich aufgenommen und die, die ihre Facharbeiterprüfung bestanden hatten, wurden feierlich frei gesprochen, also vom Ausbildungsvertrag gelöst. Sie wurden Gesellen, zunächst aber Jungfacharbeiter genannt. Dazu gab es nun mehrere kernige Nazireden, Gedichte und gesungen wurde auch, zum Schluss das Deutschlandlied und „Die Fahne hoch!“ Die Stimmung im Raum war sehr feierlich. Schon die ausgewählte Musik brachte das hervor. Ein Streichquartett spielte „Deutschland heiliges Wort“ und je nach Ablauf einige andere Stücke. Die Jungfacharbeiter, die uns Neuen direkt gegenüber saßen, wurden der Reihe nach aufgerufen und erhielten in Gruppen ihren Facharbeiterbrief. Einer von ihnen hielt eine Dankesrede. Ich war sehr beeindruckt.


Lehreinführung 1940, Horst Riemenschneider in der 2. Reihe rechts

Später standen wir in einer großen Werkstatt, wo man uns in Gruppen zu je 20 Lehrlingen einteilte. Ich kam in die Gruppe eins zum Lehrausbilder Huckert oder so ähnlich. Seinen Namen konnte ich mir schon damals nicht merken. Ihm war noch ein Geselle untergeordnet. Beide waren so um die 40 Jahre. Der Meister hieß Dietz und organisierte alles. Er hatte sein „Käfterle“, wie wir sagten, gleich gegenüber der Eingangstür. Hinter ihm war die Werkzeugausgabe, ein etwa gleich großer Bereich. Beide Bereiche lagen hinter einer etwa 1,20 Meter hohen Holzbarriere, auf die starke, durchsichtige Glasscheiben gesetzt waren, über die man nicht hinüberreichen konnte. Das ganze machte einen modernen Eindruck. Wenn man durch die stählerne Doppeltür in die Werkstatt eintrat, war links eine Wand und man musste sich vor dem Meistersitz nach rechts wenden in einen breiten Gang, an dessen Ende sich vor einem Fenster für die Lehrausbilder der Gruppe eins ein ähnliches „Käfterle“ befand, wie das des Meisters. Es war aber um eine Stufe höher gesetzt. Zwischen dem Gang, in dem wir 120 Lehrlinge „in Linie“ antreten konnten, und den Werkbankreihen befanden sich vier starke Säulen, an denen verschiedene Maschinen standen. Das waren Schleifböcke und Bohrmaschinen. Auf der in dieser Blickrichtung liegenden linken Seite waren nur Werkbänke. Auf der rechten Seite, die durch den Treppenaufgang kürzer war, stand gleich um die Ecke ein Glühofen. Dieser wurde mit Gas betrieben. Auch ein Ambos stand dort und in der Ecke ein Bunsenbrenner. Zwischen Ambos und Bunsenbrenner befand sich ein Wasserbottich. Dann kamen weiter Werkbänke und ein freier Platz. Hinter dem freien Platz stand an der Wand, gleich neben dem „Käffterle“ der Lehrausbilder, eine Drehmaschine. Damals sagte man noch Drehbank dazu.

Meine Gruppe arbeitete an den Werkbänken hinten links. Ich erhielt meinen Platz in der zweiten Reihe. Er lag an einem Gang. Bei der Verteilung der Plätze ging es danach, wie der betreffende Schraubstock zur Körpergröße passte. Der Schraubstock sollte so hoch sein, dass bei den auf die Schraubstockbacken aufgestützten Ellenbogen die zur Faust geballte Hand des Armes noch bequem unter das Kinn passte. Für jene, für die kein Schraubstock gefunden wurde, richtete man die Höhe ein. Dazu wurden entweder ein oder mehrere passende Klötze unter den Schraubstock gebaut oder entfernt. Kleinere Kerle, die trotz der Entfernung der Unterlagen noch nicht hinreichten, bekamen unter die Füße einen dreieckigen Untersatz aus Holz, der für die geforderte Fußstellung ausreichte. Solche Fälle gab es mehrere, denn wir waren ja meistens erst vierzehn Jahre alt und noch im Wachsen.

Es bekam jeder einen Platz an einem Schraubstock, egal, welchen Beruf man erlernen wollte. So auch zwei Mädchen, die eine kaufmännische Ausbildung anstrebten. Ich konnte mir auch noch immer nichts unter dem Beruf des „Technischen Zeichners“ vorstellen. Das verriet ich aber niemandem. Ich musste, wie die anderen, erst einmal das Feilen lernen.

Nachdem die Plätze eingeteilt waren, ging es in den Keller zu den Umkleide- und Waschräumen. Jeder bekam einen Spind zugewiesen, in dem man seine Tasche ablegen konnte. Die für uns bestellten Arbeitsanzüge waren noch nicht eingetroffen. Wieder oben angekommen, erhielt jeder in einem Rollschrank neben der letzten Werkbank ein Fach, in dem er die Brotbüchse aufbewahren konnte. Danach wurde der Schrank abgeschlossen. Unsere Brotbüchsen waren aber meistens schon leer. Wir wurden weiter eingewiesen, dass vor dem Frühstück und vor dem Mittagessen ein Waschraum aufgesucht wird, wo die Hände zu waschen sind. In dem Waschraum, der eine Treppe tiefer lag, waren viele Waschbecken, ich schätze so um die dreißig. Neben dem Ausgang des Waschraumes, waren etwa 20 Handtücher aufgehängt, mit denen wir uns die Hände abtrocknen konnten. An den Waschbecken befanden sich Behälter mit Waschpaste. Vor dem oben liegenden Speiseraum stand der „Lehrausbilder vom Dienst“ und kontrollierte, ob die Hände sauber waren.

Als erstes erklärte uns der Lehrausbilder die Grundbegriffe des Feilens und zeigte, wie es gemacht wird. Für jeden lag ein U-Stahlstück bereit. Das wurde mit den Schenkelenden nach oben quer in den Schraubstock gespannt. Die Feile sollte gleichmäßig über die beiden Schenkelenden mit dem entsprechenden Druck geführt werden. Ein allgemeines Fietschen begann und wurde fast unerträglich, bis die Lehrausbilder uns erklärten, dass die U-Stahlstücke tiefer gespannt werden müssten. Laufend wurden unsere Übungen von den Ausbildern überprüft und korrigiert. Bald war es Mittag geworden und unser Weg führte über den Waschraum zum Speisesaal.

Schon im Anschreiben für die Anreise war uns mitgeteilt worden, wie viel Geld für welche Zwecke wir mitbringen sollten. Das waren Gelder für die Arbeitsanzüge, die Schulbücher und letztlich auch für Essenmarken zum Mittagessen. Das Essen kostete 60 Reichspfennige, für uns Lehrlinge die Hälfte.

 

Frühstück und Mittagessen wurde in zwei Schichten eingenommen. Das erste Lehrjahr war immer in der zweiten Schicht. Im Speisesaal hatte jede Gruppe ihre festgelegten Plätze. Die Gruppen saßen in mehreren Längsreihen. Am Ausgang zur Betriebsberufsschule stand eine Tischreihe quer vor den Stirnseiten der anderen Tischreihen, an welcher der Betriebsleiter der Berufsausbildung, der noch nicht vorhandene und erwartete Abteilungsleiter, Meister Dietz und der Berufsschulleiter Dr. Wacker sowie einige Lehrer ihre Frühstücks- und Mittagspausen verbrachten. Unsere Plätze waren am seitlichen Gang an einer Faltwand. Die Lehrausbilder saßen bei ihren Gruppen an den Plätzen, die der Querreihe mit den höheren Herren am nächsten waren. Die Essenausgabe war gleich links, wenn man von der Lehrwerkstatt in den Speiseraum trat.

Die Mittagspause dauerte eine halbe Stunde und die Frühstückspause 15 Minuten. Fünf Minuten vor dem Ende jeder Pause ertönte ein Pipszeichen, wonach man sich umgehend an seinen Arbeitsplatz zu begeben hatte. Zum Händewaschen vor jeder Pause durften wir dafür etwa fünf Minuten früher gehen. Die Werkstattuhr hing an der Wand am Meistersitz. Diese Wand trennte die Lehrwerkstatt von dem großen Festsaal. Nach dem Mittagessen fietschten wir noch eine gute Stunde weiter. Auf einmal ertönte ein Pfiff mit einer Trillerpfeife. Der Lehrausbilder vom Dienst rief: „Werkstücke ausspannen, Werkzeuge einpacken und Werkbänke abkehren!“

Wir hatten jeder einen großen und vollen Werkzeugkasten unter der Werkbank, in den zwanzig Feilen der verschiedensten Längen und Profile auf dem Kastenboden einsortiert waren. In einem angeschraubten Winkeleisen war für jede Feile eine Aussparung, in welche die entsprechende Feile zwischen Heft und Angel hinein passte. Darüber waren zwei Schübe. Im oberen Schub waren die Messzeuge in grün ausgepolsterten Vertiefungen und im unteren Hammer, Meißel, Körner, Reißnadel und weitere Dinge. Zwischen dem Werkbankfuß und dem Werkzeugkasten war ein kleiner Ölbehälter angebracht. Hinter dem Schraubstock war an einem erhöhten Rand ein Gestell für die technischen Zeichnungen. Bei der Erklärung hörte ich das erste mal das Wort „Technische Zeichnung“. Hinter dem Werkbankfuß unter dem Schraubstock hing ein Handfeger. Im unterem Schub im Werkzeugkasten hatte jeder noch eine Gewindebürste. Damit wurden die Werkstücke abgebürstet. Er war untersagt, Späne oder andere Anhaftungen von den Werkstücken zu pusten.

Der Lehrausbilder vom Dienst mahnte: „Fertigwerden!“ und pfiff kurz darauf mit seiner Trillerpfeife. Wir mussten antreten. Die rechten Flügelmänner standen nach dem „Käffterle“ unserer Lehrausbilder. Wir blickten in Richtung Bahnhof Heinrichs.

Das ging dann so: „Stillgestanden! – Richt Euch! – Augen gerade aus! – Zur Meldung die Augen links!“ – und er postierte sich vorm Lehrmeister Dietz und meldete, dass wir angetreten waren. Wir Neulinge aus dem Lehrlingsheim marschierten durch Heinrichs und die Sonne schien auf die Rücken unserer Vordermänner. Dann mussten wir die lange Treppe hochsteigen. Bei diesem Rückmarsch waren nun auch die dabei, die direkt zum Betrieb angereist waren. So wurden dann noch drei weitere Lehrlinge in die Stube eins einquartiert. Sie stammten alle drei aus Frankenhain in der Rhön. Das brachte nun mehr Leben in unsere Bude. Sie kannten sich und brauchten nicht zu testen, wie der eine oder der andere wohl reagieren würde. So schwafelten sie munter darauf los und wir standen außen vor. Dazu benutzten sie ihren Dialekt, der dem Suhler ähnlich war. Außerdem kannten wir die Probleme in ihrem Dorf nicht.

Einer von ihnen, Rudi Dietzel, wurde von Robert Kleingünter eingewiesen. Er meckerter, weil er zum Schlafen nun hochsteigen müsse. Auch wenn er sich so mal hinlegen wolle, müsse er immer hochklettern. Die anderen zwei mussten das noch freie Doppelbett beziehen. Unter ihnen war noch ein Dietzel, mit Vornamen Heinz. Der dritte im Bunde hieß Ernst Abbe. Die drei Frankenhainer waren „Anlernlehrlinge“ und hatten nur zwei Jahre Lehrzeit. Solche Berufe waren Dreher, Fräser und Hobler, Schweißer und Härter wohl auch.

Wie es weiter ging

Der nächste Tag begann im Heim wie der erste Tag. Robert tutete vier mal und es ging raus aus den Betten. Beim Marschieren konnte ich mich wieder ärgern, weil die Lieder zu tief angestimmt wurden. Ich hatte noch keinen Stimmbruch.

Heute ging es gleich zu den im Keller liegenden Umkleide- und Waschräumen, wo wir unsere Tasche im zugeordneten Spind ablegen konnten. Wir gingen nur mit der Brotbüchse nach oben. Die musste ja in das Fach im Rollschrank, der kurz vor sieben Uhr verschlossen wurde. Im Keller kam man so ohne weiteres auch nicht an sein Spind. Dazu musste erst der Schlüsselkasten durch den Lehrausbilder vom Dienst geöffnet werden, der dann gleich wieder verschlossen wurde, wenn der letzte Schlüssel wieder im Kasten war. Für jede Gruppe gab es einen Schlüsselkasten. Die waren in der Nähe der betreffenden Spindreihen angebracht. Wer zu spät kam, hatte ein Spießrutenlaufen zu überstehen.

In der Werkstatt, genau Lehrwerkstatt I, abgekürzt LW I, warteten wir an unseren Plätzen der Dinge die da kommen sollten. Fünf vor sieben hupte es. Es war also der Piepston zu vernehmen, der von Lautsprechern ausgestrahlt wurde. Über diese Lautsprecher konnten auch Durchsagen erfolgen oder Rundfunksendungen übertragen werden. Es erfolgte wieder ein Trillerpfiff mit der Aufforderung, anzutreten. Das hatte im Marsch-Marsch-Tempo zu erfolgen. In einer knappen Minute standen wir. Nach der Meldung an den Meister gab der seine Anweisungen. So war das dann jeden Morgen. Noch vorm Signal zum Arbeitsbeginn wurde weggetreten und man stand um sieben vor seinem Schraubstock. Nun konnten wir uns weiter an unseren U-Stählen auslassen. Wir erlernten Ausdauer und dazu zu schweigen. Die Schruppfeilen, die wir benutzen sollten, waren am Blatt um die 400 Millimeter in der Länge. Scharf war keine von ihnen, aber darum ging es auch nicht am Anfang. Das Führen der Feile war wichtig.

Nebenbei wurden Wege erledigt. So kam ich an diesem Tag das erste Mal in das Büro. Es lag eine Treppe tiefer. Der Weg dort hin führte über den Speisesaal zur Werkberufsschule. In dem dortigen Gang die erste Tür links war das Büro. Gleich hinter der Tür befand sich eine Barriere, die nicht gestattete, weiter in diesen Raum zu treten. Der Raum war so groß wie ein Klassenraum der darüber liegenden Berufsschule. Als Büro galt nur ein kleiner Teil dieses Raumes. Der Rest war auf den dazugehörigen Schreibtischen mit Zeichengeräten voll gestellt. Dort arbeiteten die ersten Technischen Zeichner, die ich erblicken durfte. Ich wusste es nicht genau. Ich ahnte es nur.

Unsere Gruppe feilte bis Mittag. Nach dem Mittag gingen wir in die Schule. Wir erfuhren, in welchen Fächern wir unterrichtet werden. Darunter war auch Technisches Zeichnen. Ich hatte ab diesem Tag im ersten Lehrjahr jeden Dienstag Berufsschule. Der Marsch ins Heim begann an diesem Tag später, also erst nach der regulären Arbeitszeit für Lehrlinge unter 16 Jahren.

Die folgenden Tage wurden neben der Feilerei dazu benutzt, weitere Aufnahmebedingungen zu erledigen. So der Gang zu Betriebsarzt und zum Fotografen, von dem das Passbild für den Betriebsausweis aufgenommen wurde.

Ebenfalls wurden uns verschiedene Verhaltensregeln beigebracht. Wenn einer zur Toilette musste, die im Keller war, hatte er sich beim Lehrausbilder abzumelden. Dazu musste man sich in der Haltung „Stillgestanden“ in der Nähe des Lehrausbilders postieren und warten, bis er zum Ausdruck brachte, das er einem Anliegen Gehör schenken würde. Vor dem Sprechen hatte der Bittende einen ordentlichen „Deutschen Gruß“ zu leisten. Nach dem Gruß war zu sprechen. Der Lehrausbilder überprüfte dann, ob nicht andere der Gruppe schon unterwegs waren und gestattete dann oder nicht.

Wenn man nun unterwegs war, hatte man Vorgesetzte ordentlich zu grüßen. Im Treppenhaus mit Kopfwenden und außerhalb mit „Deutschem Gruß“. Beides ohne zu sprechen. Traf man unterwegs zwei Vorgesetzte an, die im Gespräch waren und dazu den gesamten Weg nutzten, hatte man Haltung anzunehmen und zu warten. Wenn die Vorgesetzten aufmerksam würden, sei zu fragen, ob man vorbeigehen dürfe. Man hatte so zu fragen: „Lehrling sowieso bittet vorbeigehen zu dürfen.“ Erst wenn das gestattet wurde, durfte man weitergehen. So ähnlich war es auch, wenn man zur Toilette wollte. In diesem Fall musste man dann sagen: „Lehrling sowieso bittet austreten gehen zu dürfen.“

Im Lehrlingsheim wie im Betrieb wurde militärische Disziplin gefordert. Beim Heimleiter Erhard Haider empfand man das nicht so. Er pflegte mehr einen „kumpelhaften“ Umgang mit uns, war hilfsbereit aber bestimmt. Er machte keine Ausnahmen. Ich glaube, wir alle hatten volles Vertrauen zu ihm. Man konnte sich mit jedem Problem an ihn wenden. Nach meinem heutigen Wissen würde ich ihm hohes pädagogisches Geschick nachreden.

Mit meinem Geschick sah es da nicht so gut aus. Das betrifft nicht die fachliche Ausbildung im Betrieb, sondern das Leben außerhalb desselben. Im Frühjahr eines jeden Jahres fanden im deutschen Reich die Sportwettkämpfe der Jugend statt. Zum Sportabzeichen wurden in der Regel die Disziplinen 100-Meterlauf, Weitsprung und Schlagballweitwurf gefordert. Wer 150 Punkte erreichte, bekam das Sportabzeichen. Ich weiß nicht mehr, wo wir das im Heim gemacht haben. Jedenfalls war ich unter den besten Zehn von den 80 Lehrlingen im Heim, die man als Hitlerjugendgefolgschaft zählte. Diese zehn Besten mussten zum Ausscheid in der nächst höheren Klasse. Ich glaube, die nannte sich „Gebiet“. Dieser Wettkampf fand auf dem Suhler Sportplatz statt, wo ich nicht nur das erste mal eine Aschenbahn sah, sondern sie auch noch benutzen durfte.

Der dazu vorgesehene Tag war kalt und regnerisch. Vom Warmmachen oder Warmlaufen hatte ich keine Ahnung und verhielt mich vor dem 100-Meterlauf recht ruhig, um Kräfte zu sparen. Das war die erste Disziplin, die ich absolvieren sollte. Ich ging an den Start und bibberte vor Aufregung und Kälte. Neben mir hockten recht kräftige Kerle, die mindestens ein Jahr älter waren als ich. Die sah ich dann auch von hinten und ich strengte mich an, sie aufzuholen. Doch als ich glaubte heranzukommen, spürte ich in meinem linken Oberschenkel einen stechenden Schmerz und musste noch vor dem Ziel aufgeben. Ich humpelte danach zum Weitsprung. Dort hockte ich mich zur Seite und wartete, bis ich aufgerufen wurde. Ich lief an und der stechende Schmerz kam bald wieder. Ich verwechselte dazu noch mein Sprungbein und sprang links ab. Ich sackte aber nur noch in den Sand der Sprunggrube und da war erst einmal Schluss.

Erhard Haider war aber gleich da und man trug mich zu einem Auto, in dem er mit mir zum Docktor Schirmer in Suhl gefahren wurde. Der wollte einen Muskelriss festgestellt haben. Nun war für mich das Stehen am Schraubstock erst einmal zu Ende. Vier Wochen hatte ich Ausfall.

Im Heim angekommen, erwartete mich eine andere Überraschung. Mit der hätte ich aber rechnen können. Vor einiger Zeit hatte ich während des Schlafens einen Pubs gelassen, bei dem ein Teelöffel voll Nasses dabei war. Als ich es an dem betreffenden Morgen bemerkte, war die Sache schon relativ trocken. Um es zu verstecken, legte ich eine dünne Wolldecke darüber, die als Reserve immer am Fußende des Bettes auf der Decke lag. Während ich beim missglückten Sportwettkampf war, wurde von den im Heim Gebliebenen ein Wäschewechsel durchgeführt. Die hatten dann ihren Spaß und ich das Schämen. Sie meinten, und das war wohl Hüsings Idee, ich hätte einen Pfennig im Bett versteckt gehabt.

Haider kam dazu und meinte, dass das jedem einmal passieren kann, aber ich hätte mich doch gleich um ein frisches Laken bemühen sollen.

Es dauerte nicht lange, und ich musste erneut in das Krankenzimmer. Da war ein Lehrling aus dem Thüringer Wald, der wollte mir unbedingt „die Freß vollhaue“. Warum, das könnte nur er sagen. Er gehörte nicht in meine Gruppe im Betrieb, also auch nicht in meine Schulklasse. Er wohnte im Heim in einer der letzten Stuben der Neulinge und saß deshalb auch nicht in der Nähe meines Tisches beim Essen. Er war sogar einer von denen, die am Schraubstock eine Unterlage benötigten. Ich ging ihm so gut es ging aus dem Weg. Doch an einem Nachmittag, nach der Arbeit, gelang es ihm, mit mir eine Keilerei anzufangen. Als er mich nicht bezwingen konnte, begann er zu schlagen. Ich wehrte mich so gut ich es vermochte. Beim Abdrehen von meinem Gegner verpasste ich ihm einen Schlag, der ihm wohl reichte, doch mir am rechten Handballen, auf der kleinen Fingerseite, einen Bluterguss einbrachte. – Im Ergebnis musste ich meine rechte Hand einige Zeit in Lehm einpacken.

 

Im Betrieb ging der Grundlehrgang Metall weiter. Ich hatte die Fehlzeit so recht und schlecht aufgeholt. Nachdem wir die Schenkelenden des ersten U-Stahlstückes fast abgefeilt hatten, gab es ein neues U-Stück mit den gleichen Abmaßen wie das vorher bearbeitete. Wir hatten schon beim ersten U-Stück gelernt nach Anriss zu feilen, wobei der erste Anriss noch vom Lehrausbilder vorgenommen wurde. Die anderen Anrisse besorgten wir selbst. Beim Bearbeiten mit der Feile ging es nun darum, dass beide Anrisse an den Schenkeln des U-Stahles gleichmäßig noch zu sehen waren. Beim zweiten U-Stahl wurden in der Regel nur zweimal angerissen. Dann ging es an die Stegfläche. An dieser Fläche übten wir das „eben feilen“.

Zur Überprüfung der Ebenheit dieser Fläche benutzten wir ein Haarlineal. Bei diesen Arbeiten, dem eben und winklig feilen habe ich aufgeholt. Komplizierter wurde dann das Feilen der Stirnseiten, doch das gelang mir ebenfalls ganz gut. Beim winklig feilen wurde zum Überprüfen ein rechter Winkel benutzt. Die dafür verwendeten Winkel waren sehr genau und wurden, wie auch das Haarlineal sehr pfleglich behandelt. Wenn wir diese Messzeuge benutzten, wurde auf der linken Seite hinter dem Schraubstock ein dicker Lappen ausgelegt, auf dem diese Messzeuge abgelegt werden konnten. Nach der Nutzung oder zum Feierabend wurden die Messzeuge mit einem Lappen abgewischt und hauchdünn mit Vaseline eingerieben. So kamen sie dann in ihr Fach.

Nachdem das U-Stück fertig war, wurde ein Flachstahlstück bearbeitet. Das musste eben, winklig und maßhaltig gefeilt werden. Zum Messen benutzten wir eine Schieblehre, mit der man bis 0,1 Millimeter genau messen konnte. Die Sache wurde immer komplizierter, aber ich fand Gefallen daran und überlegte, ob ich nicht meinen Beruf wechseln könne. Nach den Informationen, die wir erhielten, war das im ersten Lehrjahr möglich, wenn es sich um einen Beruf handelt, der im Betrieb ausgebildet wird. Dazu müsste man die Unterschrift des Vaters erhalten. Meiner war aber zu diesem Zeitpunkt nicht greifbar. Er war zur Wehrmacht eingezogen und beteiligte sich gerade an der Besetzung Polens. Ich hatte also kaum Gelegenheit, meinem alten Herren meinen Wunsch beizubringen und dazu noch seine Unterschrift einzuholen. Die Feldpost war viel zu lange unterwegs.

Die Metallbearbeitung war nicht das einzige, was mich reizte, den Beruf zu wechseln. Vielmehr war es die Möglichkeit, Büchsenmacher zu werden. Dafür interessierte ich mich nun mehr, je länger ich in der Lehre war. Ich begann also recht bald, meine Berufswunschänderung zu verbreiten, sagte dazu gleich, dass es mit der Unterschrift des Vaters Probleme geben könnte. Zunächst wurde ich aber als Technischer Zeichner weitergeführt.

Unsere Tätigkeiten im Betrieb mussten wir in einem Merkheft niederschreiben, in dem der Lehrausbilder wöchentlich seinen Kontrollvermerk darunter setzte. Diese Tätigkeiten mit den dazu passenden Zeichnungen wurden dann in ein „Werkstattheft“ übernommen. Die Werkstatthefte wären aber noch nicht geliefert und das müsste alles nachgeholt werden.

Weiter erfuhren wir, das wir noch ein mehrwöchiges Ausbildungslager absolvieren sollten. Da es zur Zeit noch nicht möglich wäre, das Ausbildungslager durchzuführen, seien während der Arbeitszeit Ordnungsdienste geplant. Zu diesem Ordnungsdienst wurde jeweils ein Ausmarsch angesetzt. So ein Ausmarsch ging in der Regel zum Betriebstor hinaus hinter den Bahnhof Heinrichs. Da ging links am Bahnhof vorbei eine Unterführung zu einem Tal, durch das ein Feldweg führte. Auf diesem Feldweg übten wir die Grundstellung und das Wenden. Auch das Grüßen wurde geübt. Auf der sich nach links in den Grund anschließenden Wiese übten wir das Antreten.

Gleichzeitig war das eine Möglichkeit uns zu triezen. „Zwo mal links schwenk! – marsch, marsch!“ und so weiter, wo es auch einmal andersherum ging, wo das Hinlegen und das „Sprung auf, marsch marsch“ nicht fehlte. Wir hatten ja nun unsere Arbeitsanzüge und da durfte man uns eben so richtig scheuchen.