Buch lesen: «Alles für Allah», Seite 2

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Ein Brief an den IS

Unabhängig von ihrer Einstellung zu Gewalt und Terror eint alle islamistischen Organisationen der Wunsch, Staat und Gesellschaft nach islamischen Regeln umzugestalten und eine ideale islamische Weltgemeinschaft zu errichten. Im sunnitischen Islam ist diese Utopie eng mit jener der Wiedererrichtung des Kalifats als Führung der islamischen Gemeinschaft verbunden. Die schiitisch-iranischen Islamisten hingegen glauben an die Wiederkehr des seit über 1000 Jahren in der Verborgenheit lebenden 12. legitimen Imams, Muhammad ibn al-Hasan al-Mahdī, der schon jetzt offizielles Staatsoberhaupt im Iran ist. Die Mullahs begreifen sich als seine Stellvertreter, bis zu dem Tag, an dem er wiederkehrt und die Weltherrschaft antritt.

Seit Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1924 im Zuge der Konstituierung der Türkei als moderner Nationalstaat das Kalifat abschaffte, ist dessen Wiedererrichtung das Ziel sunnitischer islamistischer Bewegungen jeglicher Couleur. Schon der Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā, hatte eben dieses Ziel vor Augen, als er vier Jahre nach der Abschaffung des Kalifats die Bewegung gründete. Auf die Schriften al-Bannās beziehen sich sunnitische Islamisten weltweit. Darin wird nichts Geringeres behauptet als eine im Koran festgeschriebene Vorherrschaft und Souveränität der Muslime über die ganze Welt. Diese postulierte Weltherrschaft wird zur edlen Vormundschaft idealisiert. Pflicht jedes einzelnen Muslims sei es, für den Islam in den Dschihad zu ziehen.10

Dass diese Haltung weitgehend Konsens unter islamischen Gelehrten ist, zeigt nicht zuletzt der berühmte offene Brief, mit dem sich 2014 über 120 der führenden sunnitischen Gelehrten an den Anführer des IS und selbst ernannten Kalifen, Abu Bakr al-Baghdadi, gewandt hatten. Die der IS-Ideologie zugrundeliegende theologische Position zum Dschihad wird darin nicht grundsätzlich zurückgewiesen, der kriegerische Dschihad nicht infrage gestellt. So heißt es zunächst: „Tatsächlich ist es so, dass du und deine Kämpfer furchtlos seid und ihr bereit seid, euch mit der Absicht des Dschihad zu opfern. Keine aufrichtige Person, welche die Geschehen beobachtet – ob Freund oder Feind –, kann dies ablehnen.“ Der Dschihad sei allerdings nur berechtigt, wenn „die rechten Gründe, die rechten Ziele“ und „das rechte Benehmen“ dafür gegeben seien und er sich nicht gegen Muslime richte. 11 Der IS wird abgelehnt, weil diese Voraussetzungen nicht vorlägen und es sich daher nicht um Dschihad, sondern lediglich um „Kriegstreiberei und Kriminalität“ handele. In der Auseinandersetzung geht es also nur darum, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt das Vorgehen richtig wäre.

Der Brief dieser Gelehrten wurde von Vertretern europäischer Islamverbände als wichtiges innerislamisches Zeichen gegen den Terror gepriesen. Auf der Website der „Islamischen Gemeinschaft in Deutschland“ (jetzt DMG) etwa war zu lesen: „Gelehrte der ganzen Welt haben inzwischen in aller Deutlichkeit die Machenschaften von ISIS verurteilt und mit Belegen aus der Lehre des Islam untermauert. Selten gab es so eine einhellige Meinung.“12 Ein Redakteur der ZEIT, Yassin Musharbash, lobte in einem Artikel die „islamischen Argumente gegen den Islamischen Staat“.13 Der Brief ist jedoch vor allem ein eindrucksvoller Beleg für die Übereinstimmung von legalistischen und dschihadistischen islamischen Gruppen und Gelehrten in Bezug auf die Grundlagen des Glaubens und die grundsätzliche Verbindung von Islam und Politik.

Der Brief befasst sich aus aktueller islamischer Perspektive mit zahlreichen weiteren Details. Zur Veranschaulichung mögen noch zwei Beispiele dienen: Körperstrafen werden nicht abgelehnt, sie seien vielmehr „gemäß islamischem Recht zweifellose Pflichten“, die allerdings an ein „klares Prozedere“ gebunden seien. Dem IS wird vorgeworfen, sich nicht daran zu halten. Die Gelehrten kritisieren ihn dafür, dass er grundlos Muslime zu Nichtmuslimen und damit zu Abtrünnigen erkläre und daraus für sich das Recht ableite, sie zu töten. Man könne Muslime nur zu Nichtmuslimen erklären, wenn diese „offenkundig den Unglauben kundgetan haben“. Das bedeutet letztendlich, dass ein Muslim, der beschließt, dem Islam den Rücken zu kehren, zu konvertieren oder nicht mehr an Gott zu glauben und das öffentlich kundtut, auch nach Meinung dieser 120 Gelehrten verfolgt und hingerichtet werden kann. In den Ländern, in denen Scharia-Recht gilt, ist genau das auch der Fall. Wir haben hier also einen innerislamischen Streit um den Weg, nicht aber um das Ziel vor uns.

Der aufgeschlossene frühere kuwaitische Kommunikationsminister Saad bin Tafla al Ajami schrieb 2014 in einem kritischen Artikel mit dem Titel „Wir alle sind ISIS“, der IS sei das Produkt eines fundamentalistischen Diskurses, der die islamische Welt seit Jahrzehnten dominiere und Intoleranz bis hin zum Hass gegenüber allem predige, was anders sei. „Die Wahrheit, die wir nicht leugnen können“, schreibt er, „lautet, dass ISIS in unseren Schulen gelernt, in unseren Moscheen gebetet, unsere Medien und religiösen Plattformen gehört, unsere Bücher und Texte gelesen hat. Sie folgen den Fatwas, die wir produziert haben.“ Der IS steigere lediglich die Ideologie des politischen Islam ins Extreme, während sich die Welt und die meisten Muslime an die „sanftere“ Variante des politischen Islam bereits gewöhnt hätten.14 Dieser „sanfteren“ Variante des Islamismus gilt das Hauptaugenmerk des vorliegenden Buches, ohne die gewalttätige aus dem Auge zu verlieren, denn die Auswirkungen von Gewalt und Terror verändern unsere Gesellschaft in nicht unerheblichem Maße und werden von legalistischen Islamisten durchaus bewusst als Faustpfand und latente Drohung eingesetzt.

› Gewaltfreier und gewalttätiger Islamismus weisen nicht nur ideologische Gemeinsamkeiten auf, sondern auch vielfältige personelle und organisatorische Verbindungen.

So dehnt sich etwa das Netzwerk der Muslimbruderschaft in beide Richtungen aus. Auf der einen Seite existiert eine mittlerweile schwer überschaubare Anzahl an Organisationen der Bruderschaft, die in Europa im Rahmen der demokratischen Möglichkeiten in verschiedensten Bereichen operieren. Die Devise lautet hier: Zerstörung der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie – ein bislang viel zu wenig erforschtes Feld, auf dem die Islamismusexpertin Sigrid Herrmann-Marschall Pionierarbeit leistet.15 Auf der anderen Seite gab und gibt es militante Zweige der Muslimbruderschaft, wie etwa die Hamas, der palästinensische Zweig der Bruderschaft. Für Letztere wiederum werden in Europa von legal arbeitenden Organisationen des Netzwerks Spenden gesammelt. So etwa in Deutschland von der von Millî-Görüş-Mitgliedern gegründeten „Internationalen Humanitären Hilfsorganisation“ (IHH), weshalb diese im Jahr 2010 verboten wurde. Die Israelitische Kultusgemeinde in Österreich forderte die Regierung auf, mit der österreichischen Zweigstelle ebenso zu verfahren, während der Wiener SPÖ-Gemeinderat Omar Al-Rawi die türkische Dachorganisation der IHH als „Friedensaktivisten“ verteidigte.16

Im Laufe der Geschichte war immer wieder zu beobachten, dass islamistische Organisationen je nach aktuellen politischen Gegebenheiten ihre Strategie von gewaltfrei zu gewalttätig oder vice versa änderten. Auch hierfür ist die Muslimbruderschaft ein gutes Beispiel. Die ägyptische Mutterorganisation etwa durchlief während ihrer wechselvollen Geschichte Phasen der Legalität und solche der Illegalität. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit bestand und besteht aus sozialem Engagement. Man kann dieses Vorgehen durchaus als eine Art Graswurzel-Strategie bezeichnen. Für ihre Ziele greifen Teile der Muslimbruderschaft aber auch immer wieder zu Gewalt und Terror. Die Trennlinie zwischen gewaltbereiten und gewaltfreien oder gewalt-ablehnenden Islamisten ist also nicht immer eindeutig zu ziehen und oft nur eine Frage der Taktik. Auch wer den IS ablehnt und ihn theologisch und politisch bekämpft, ist nicht automatisch ein Demokrat.

WAS IST POLITISCHER ISLAM?

Im Kern ist der Islamismus antiwestlich und verspricht ein Gegenmodell zur aktuellen Weltordnung, zu Säkularismus und Demokratie. Die Kritik an der vom Westen dominierten Weltordnung vereinfacht es legalistisch operierenden islamistischen Organisationen, mit Teilen der antiwestlich ausgerichteten Linken zusammenzuarbeiten. Die Ideologie des Islamismus baut, vereinfacht gesagt, auf folgenden Prämissen auf:

• Einteilung der Welt in „Gläubige“ und „Ungläubige“ — in Muslime und Nicht-Muslime,

• Imagination einer idealisierten weltweiten islamischen Gemeinschaft (Umma),

•Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen Religionen/Weltanschauungen und Gesellschaftsvorstellungen,

• Ablehnung von liberaler Demokratie, allgemeinen Menschenrechten sowie der Trennung von Religion und Staat,

• Gleichwertigkeit von Männern und Frauen vor Gott, aber unterschiedliche Rechte und Pflichten im Diesseits,

• Opferrolle der Muslime als weltweit angegriffener Gemeinschaft.

Die Prämissen der Ideologie werden von den unterschiedlichsten islamistischen Gruppen in verschiedener Gewichtung geteilt und sind mit einer antimodernen und antiaufklärerischen Grundeinstellung verbunden, zu der auch Verschwörungstheorien gehören.

Der Islamismus kann als islamischer Puritanismus17 beschrieben werden. Er sieht in der islamischen Überlieferung von Koran, Sunna (Sammlung der Mohammed zugeschriebenen Aussprüche und Handlungen) und Prophetenbiografie (Sira) die verbindliche Grundlage für soziale Normen, die allesamt als gleichermaßen wichtig und notwendig betrachtet werden. Um in diesem Sinne ein guter Muslim, eine gute Muslimin zu sein, reicht es nicht, die traditionellen fünf Säulen des Islam zu beachten (Glaubensbekenntnis, Pflichtgebete, Almosengabe, Fasten, Pilgerfahrt), vielmehr sind alle Regeln des allgemeinen und alltäglichen Verhaltens zu befolgen. Dazu zählen etwa das Alkoholverbot, Speisevorschriften, Kleidervorschriften, Regeln für den Umgang mit Andersgläubigen, Regeln für den Umgang der Geschlechter und diverse sexuelle Restriktionen.

Diese Sichtweise will das Leben des einzelnen Menschen bis in Details hinein von religiösen, also sakralisierten Vorschriften bestimmt wissen. Diesen Vorschriften kommt dabei der gleiche Rang zu wie rituellen Vorschriften und Regeln.18 Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat hierfür – wie auch für puritanische Bewegungen anderer Religionen – den Begriff „totale Religion“ eingeführt.19 Der französische Staatsrat Thierry Tuot hat das Phänomen Islamismus auf den Punkt gebracht: Islamismus sei das „öffentliche Einfordern von sozialen Verhaltensweisen, die als göttliche Gebote präsentiert werden und in den öffentlichen und politischen Raum eindringen“.20 Für viele Muslime scheint es das klar strukturierte Korsett sozialer Normen, klarer Regeln des Erlaubten und Verbotenen21 zu sein, das die Attraktivität des Puritanismus ausmacht. Er ersetzt jegliche individuelle Verantwortung sowie eigenständige Auseinandersetzung mit dem Islam. Das gute und richtige Leben, das gleichzeitig das Heil im Jenseits garantiert, besteht dann einzig in der Einhaltung eines Regelwerks.

Islamische Unduldsamkeit

Die Befolgung dieses Regelwerks wird zu einer im täglichen Leben sichtbaren Grenze zwischen Muslimen und dem Rest der Gesellschaft. Daher sind die Gebote und Verbote, die Kategorien halal und haram unverzichtbare Bestandteile des islamistischen Diskurses. Mit ihnen soll sowohl eine Grenze nach außen gezogen als auch die Gemeinschaft nach innen zusammengehalten werden. Diese Regeln erlauben es ambitionierten Muslimen, sich unter Verweis auf einige Versatzstücke aus Koran und Sunna zum Wächter über die islamische Gemeinschaft aufzuschwingen.

Besonders bekannt ist etwa der Koranvers 3:114, in dem es heißt, die rechtschaffenen Muslime „gebieten das Rechte und verbieten das Unrechte“, oft ergänzt durch ein dazupassendes Hadith: „Wer von euch etwas Schlechtes sieht, soll es durch seine Hand verbessern. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, soll er es durch seine Zunge verbessern. Wenn er auch nicht dazu in der Lage ist, soll er versuchen, es durch sein Herz zu verbessern; und dies ist der schwächste Grad des Glaubens.“22 Das ist der Nährboden, auf dem Intoleranz, Unduldsamkeit und Bevormundung gedeihen. Sein gewaltbegünstigendes Potenzial liegt auf der Hand.

Unter diesem Einfluss verwandeln sich Heranwachsende in Glaubenshüter und Sittenwächter, die sich dazu berufen fühlen, muslimische Mitschüler und Mitschülerinnen im Ramadan zum Fasten anzuhalten, Mädchen aus muslimischen Familien, die kein Kopftuch tragen, als Schlampen zu bezeichnen, die sich wie Deutsche, Österreicherinnen etc. verhielten, und den Umgang der eigenen Schwestern und Cousinen mit dem anderen Geschlecht zu überwachen. Um eine solche Haltung an den Tag zu legen, müssen sie weder im Koran noch in anderen religiösen Schriften bewandert sein: Es geht um Prägung, um Beeinflussung durch das, was als Vorstellung vom Islam, als Geisteshaltung und Essenz in der Familie, der Nachbarschaft, in diversen Moscheen und im Herkunftsland, an dem sich viele Familien nach wie vor stark orientieren, tradiert wird.

› Die islamistische Bewegung setzt ihre Ideologie global als Mainstream immer deutlicher durch und hat die Gesellschaften in mehrheitlich islamischen Ländern zunehmend im Griff.

Das färbt selbstverständlich auch auf muslimische Gemeinden außerhalb ab. Eine „Kultur des Extremismus in muslimischen Gemeinschaften“ bringe weltweit abweichende Stimmen zum Schweigen, bemerkt die Politikwissenschaftlerin Elham Manea.23

ISLAMISMUS – GESCHICHTE UND GEGENWART

„Und wenn sie Euch sagen: ‚Da ist Politik‘, dann sagt ihnen, dass das der Islam ist und wir die Trennung in Religion und Politik nicht kennen.“

Hasan al-Bannā, Gründer der Muslimbruderschaft

Die Idee, sich auf die Vorväter, auf einen als „wahr“ und „unverfälscht“ imaginierten Islam der Anfangszeit zu beziehen, existiert spätestens seit dem 9. Jahrhundert. In der Geschichte der islamischen Welt gab es immer wieder Denker, Prediger und Herrscher, die zu einer Rückbesinnung aufriefen, um die Herrschaft des Islam zu neuer Größe zu führen. Der Islamismus im eigentlichen Sinne kann als spezifisch islamische Reaktion auf die Moderne verstanden werden, wenngleich er sich auf mittelalterliche puritanische Denker24 beruft.

Die westliche Moderne zeichnet sich, beginnend mit der Aufklärung, in erster Linie durch Individualisierung der Gesellschaft aus, das heißt durch die Herauslösung des Einzelnen aus seinen traditionellen Bindungen an Familie, Clan und Stand. Erst durch diesen Schritt wurde der Gedanke der individuellen, voraussetzungslosen Menschenrechte möglich: Rechte, die dem Einzelnen aufgrund seines Menschseins zustehen und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, einer bestimmten Religion oder seines Geschlechts. Mit der Befreiung des Individuums wurden in Gestalt politischer Ideologien aber auch jene Kräfte geboren, die das Individuum wieder in den Schoß der Kollektive zurückdrängen wollen. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Bestrebungen ist Teil der europäischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte: vom jakobinischen Terror bis zu den Verbrechen der großen ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Europa.

Am Ende des 18. Jahrhunderts brach diese Moderne jäh in die islamische Welt ein. Nach der Landung Napoleons in Ägypten (1798) eroberten die Franzosen binnen weniger Wochen das ganze Land. Drei Jahre später waren es nicht etwa der ägyptische Widerstand oder die osmanische Armee, die die napoleonischen Truppen zum Rückzug zwangen, sondern die Briten.25 Zwar gehörte Ägypten fortan wieder zum Osmanischen Reich, der Einfluss des Sultans schrumpfte jedoch zusehends. Diese drei Jahre hatten der islamischen Welt endgültig vor Augen geführt, dass sie nach eintausend Jahren erfolgreicher kriegerischer Eroberung und dem Aufbau zweier Imperien nicht mehr im Zentrum der Weltpolitik stand, sondern von aufsteigenden europäischen Mächten abgelöst und zu deren Spielball degradiert worden war.

Napoleons Siegeszug war jedoch nur das offensichtlichste Symptom des wirtschaftlichen und militärischen Niedergangs eines Imperiums, das das östliche und südliche Mittelmeer, das Gebiet vom Balkan bis nach Persien und zeitweise um das Schwarze Meer herum jahrhundertelang beherrscht hatte. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erhoben sich zunächst die Griechen, später auch die Serben und Bulgaren. Binnen weniger Jahrzehnte hatte das osmanische Reich den größten Teil seiner europäischen Gebiete verloren. Gleichzeitig entledigten sich erste arabische Gebiete der osmanischen Hoheit. Die Schwäche der Osmanen nutzten Frankreich, England und Russland aus, um sich Teile der bislang osmanisch regierten arabischen Welt beziehungsweise weite Teile Zentralasiens und des Kaukasus einzuverleiben.

Während christlich bewohnte Gebiete des Reiches diese Entwicklung begrüßten, gerieten erstmals Millionen Muslime unter nicht islamische Herrschaft. Man kann hier aus islamischer Perspektive von einer historisch neuen Situation sprechen, die im theologisch-politischen Konzept des Islam nicht vorgesehen war. Nie zuvor mussten muslimische Gesellschaften unter nicht islamischer Herrschaft leben. Es ist leicht nachvollziehbar, dass der Verlust der Weltmachtstellung in der islamischen Welt zu einem tiefen Trauma führte.

› Diese gravierenden Veränderungen weckten den Ruf nach einer Rückbesinnung auf die als glorreich überlieferte Frühzeit des Islam, mit dem Ziel, die verloren gegangene Größe und Dominanz in der Welt zurückzugewinnen.

Es waren verschiedene islamische Denker, die als Reaktion auf diese Krise eine rückwärtsgewandte Utopie entwickelten26, die als Vorläufer der heutigen islamistischen Bewegungen betrachtet werden kann. Im 19. Jahrhundert entstanden auch die ersten modernen puritanischen Bewegungen, wie etwa die Deobandis in Indien. Letztlich liegt dem Islamismus der Versuch zugrunde, die Diskrepanz zu beseitigen, die sich aus erlebter Realität einerseits und dem Glauben an die von Gott versprochene Weltherrschaft des Islam andererseits ergab.

Neben der rückwärtsgewandten puritanischen Bewegung entwickelte sich auch eine Denkrichtung, deren Ziel Modernisierung und Weiterentwicklung war. Der albanischstämmige osmanische Vizekönig von Ägypten, Muhammad Ali, suchte den Anschluss an die europäische Moderne. Zwischen 1826 und 1831 entsandte er eine große Expedition nach Paris, mit dem Auftrag, dort Wissen zu sammeln. Darauf aufbauend modernisierte er das Land am Nil mit eiserner Hand. Einer der Teilnehmer der Expedition, der ägyptische Gelehrte Rifa’a Rafi at-Tahtawi, beschäftigte sich in seinem Reisetagebuch mit den zivilisatorischen Errungenschaften Europas und sprach sich für eine Bildungsoffensive in der islamischen Welt aus, ohne dabei die westliche Kultur zu übernehmen.27

Etwa 120 Jahre nach Napoleons Ägyptenfeldzug kam es 1924 zum zweiten traumatischen Einschnitt: die Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal Pascha (1881–1938), der später mit dem Ehrennamen „Atatürk“ bedacht wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs versuchten Großbritannien und Frankreich, das verbliebene anatolische Kernland des Osmanischen Reiches zu zerstückeln, große Teile sollten an Griechenland, Frankreich, Italien und Armenien gehen. Dagegen mobilisierte Mustafa Kemal den militärischen Widerstand. Nach dem Sieg gegen die Alliierten, der die Türkei als Staat in seinen heutigen Grenzen sicherte, baute er das Land zum Nationalstaat nach europäischem Vorbild um. Das beinhaltete auch die gewaltsame Zurückdrängung des religiösen Establishments, um dessen politische Macht zu brechen. Die religiöse Gemeinschaft der Umma wurde durch eine nationalistische Identität ersetzt.

Mit der Abschaffung des Kalifats war die sunnitische Welt ihres geistigen Oberhaupts beraubt worden. Seit den Tagen Sultan Selims I., also seit mehr als 400 Jahren, hatte sich der Sitz des Kalifen in Konstantinopel/Istanbul befunden. Vier Jahre nach der Abschaffung des Kalifats gründete Hasan al-Bannā wie erwähnt in Ägypten die Muslimbruderschaft, die sich fortan als islamistische Massenbewegung erfolgreich über Ägypten hinaus ausbreitete und binnen weniger Jahrzehnte zur einflussreichsten islamistischen Bewegung entwickeln sollte. Die tunesische ENNAHDA ist ebenso ein Ableger der Muslimbruderschaft wie die Hamas, die „Islamische Aktionsfront“ in Jordanien, die FIS in Algerien oder die „Nationale Islamische Front“ im Sudan.

Aber auch in der Türkei selbst blieb in religiösen Kreisen der Glaube an die Wiedererrichtung des Kalifats virulent. Seit die AKP mit Erdoğan die Wahlen gewinnen konnte, ist die ideologische Rückbindung an die Zeit des Osmanischen Reichs und an das Kalifat unübersehbar geworden. Deutlich wird das auch am Versuch, den kemalistischen Nationalmythos, die Schlacht von Çanakkale (Gallipoli) im Jahr 1915 in einen Sieg des Islam umzudeuten. Galt diese Schlacht im modernen türkischen Nationalbewusstsein als Sieg der türkischen Nation über die Alliierten und damit als Geburtsstunde der modernen Türkei, so wird sie im Denken türkischer Islamisten nun zu einem Sieg über die „Ungläubigen“. Ein Narrativ, das auch in türkischen Moscheen in Westeuropa präsent ist.28 In islamistischen Kreisen wurde Atatürk stets als Feind des Islam betrachtet und mitunter bezichtigt, ein Jude zu sein. Die Abschaffung des Kalifats konnte man sich nur als eine Verschwörung vorstellen. Unter Erdoğans Führung ist eine zunehmende Abwendung vom bislang übermächtigen Gründervater der Türkei zu bemerken.

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