Der zweite Killer

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»Der Fall ist von außergewöhnlicher Tragweite«, sagte sie mit Honig auf der Zunge, »und, wie Sie gesagt haben, politisch äußerst heikel. Ich denke deshalb, Sie selbst sollten diese SOKO leiten.«

Sie ließ Winter keine Zeit für eine Entgegnung und schlug als erste Maßnahme vor, HK Leich und sein Team vom LKA Rheinland-Pfalz in die Sonderkommission einzubeziehen. Die Staatsanwältin stimmte ohne Wenn und Aber zu, hörbar erleichtert, erste Ansätze einer Ordnung im Chaos zu erkennen. Chris glaubte, sie damit vorerst vom Hals zu haben, doch die Freude währte nicht lange. Knappe zehn Minuten später auf dem Weg zum Kommandanten holte Leich sie keuchend ein.

»Habe ich diese Scheiße Ihnen zu verdanken?«, schnauzte er sie an. »SOKO NAVY, was soll der Blödsinn?«

Sie fing seine Giftpfeile mit einem verbindlichen Lächeln ab.

»Die SOKO ist ein Kind der Berliner Staatsanwaltschaft. Ich habe zuerst genauso erschüttert reagiert wie Sie, aber ich glaube, eine enge Zusammenarbeit bringt uns beiden nur Vorteile. Die Fälle hängen erwiesenermaßen zusammen.«

Sie benutzte die Gelegenheit, ihn über Eddie Jones, die Verbindung zu den SEALs und den offiziell verstorbenen Verdächtigen Lieutenant Dave Martinez aufzuklären.

»Großartig, jetzt sind wir also auch Geisterjäger«, quittierte er die Eröffnung mit Kopfschütteln.

»So sieht es aus«, lachte sie. »Ich glaube, es ist Zeit, mehr über Lieutenant Dave Martinez zu erfahren. Ich bin gerade auf dem Weg zum Kommandanten. Begleiten Sie mich?«

Colonel Cooper hatte zu seiner Teflon-Miene zurückgefunden. Am glattrasierten Gesicht prallten alle Fragen, offenen und versteckten Andeutungen ab, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Der Mann musste ein begnadeter Pokerspieler sein. Da er erst drei Jahre in Landstuhl Dienst tat, konnte er mit Fug und Recht behaupten, nie etwas von einem Navy SEAL namens Dave Martinez gehört zu haben.

»Lieutenant Martinez soll vor zehn Jahren bei einem Einsatz in Afghanistan gefallen sein«, sagte Chris. »Was geschieht mit den sterblichen Überresten in so einem Fall? Untersuchen Sie die nicht auf dieser Basis, bevor sie in die Staaten überführt werden?«

»Nicht in jedem Fall. Gefallene werden oft direkt über Ramstein ausgeflogen. Akten über solche Fälle werden sie aber weder bei uns noch in Ramstein finden. Die Dossiers der SEALs sind zentral in der Heimbasis in Virginia archiviert.«

»Wunderbar, dann besorgen Sie uns bitte die Akte Martinez so schnell wie möglich.«

»Bei mir sind Sie an der falschen Adresse. Stellen Sie ein offizielles Auskunftsbegehren an die Basis in Virginia.«

Das Spiel mit ihrem blonden Zopf würde dieses Verfahren nicht beschleunigen, dachte sie, während sie das Pokerface musterte. Sie setzte dennoch zu einem Versuch an, ihn vom kurzen Dienstweg zu überzeugen, als Leichs Telefon die Tatortmelodie spielte. Er hörte kurz zu, dann sagte er auf Deutsch:

»Wir müssen gehen. Es gibt Arbeit für die Geisterjäger.«

Ramstein Air Base

Ein Hangar auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein war komplett durch die Polizei abgeriegelt. Die Kollegen aus Kaiserslautern waren nach einem Notruf der Putzkolonne rechtzeitig am Tatort eingetroffen und hatten die Halle gesichert, wie es Polizisten normalerweise in einem solchen Fall tun.

»Geht doch«, murmelte Chris, als sie unter dem rot-weißen Band durchschlüpfte.

Sie glaubte, sich ziemlich genau vorstellen zu können, was sie und Leich erwartete. Ein sichtlich geschockter Captain empfing sie als Verbindungsoffizier, wie er sich bezeichnete.

»Dort vorn unter der Nase der ›Globemaster‹ liegt Brandon, Captain Brandon Walker. Er diente zwei Jahre als Pilot für Truppentransporte in die Heimat.«

Brandon Walker war schwarz wie Eddie Jones. Er lag auf einem Holzrost aufgebahrt, die Hände gefaltet und besaß jetzt drei Augen. Chris zeigte Leich das Foto vom Berliner Tatort, was ihn zu einem deftigen Ausruf verleitete.

»Der Geist«, sagte er andächtig.

Das Ergebnis der forensischen Untersuchung lag jetzt schon auf der Hand, zu eindeutig war dies die Handschrift desselben Täters. Ein Zufall schied aus, und die Wahrscheinlichkeit eines Trittbrettfahrers lag nahe bei null, denn Einzelheiten wie der Dog tag in den gefalteten Händen kannte die Presse bisher nicht.

»9 mm Parabellum, Schuss aus 80-100 cm Entfernung, jede Wette«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Leich.

»Und wieder ein Schwarzer«, fügte er nachdenklich hinzu. »Soll das jetzt ein Feldzug gegen schwarze US Soldaten sein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Wie passt Dr. Fisher in dieses Bild?«

»Der passt überhaupt in kein Bild. Ohne die Hinweise über die Fingerabdrücke müsste man bei Fisher von einer andern Täterschaft ausgehen. Vollkommen verschiedenes Vorgehen, widerspricht jeder Logik eines Serientäters.«

Sie musste ihm recht geben. Dennoch war es ein und derselbe Täter in allen drei Mordfällen. Davon musste sie ausgehen. Mit welchem Motiv? Was war der Zusammenhang zwischen den ersten beiden Morden und dieser Tat? Eine plötzliche Eingebung durchzuckte sie wie ein Stromstoß. Aufgeregt wählte sie die Nummer des Lazaretts in Landstuhl und ließ sich mit der leitenden Ärztin, Dr. Nancy Hogan, verbinden.

»Ich muss wissen, ob ein Brandon Walker, Captain der US Air Force, bei Dr. Fisher in Behandlung war«, sagte sie nach kurzem Gruß.

Die Ärztin zögerte, bevor sie einwilligte:

»O. K., ich werde nachschauen. Erreiche ich Sie unter dieser Nummer?«

»Ja, jederzeit. Bitte beeilen Sie sich. Ich müsste auch wissen, über welchen Zeitraum Mr. Walker in Behandlung war und wann er zuletzt mit Dr. Fisher Kontakt hatte.«

Während sie wartete, das Telefon in der Hand, stets ein Auge auf den Ziffern der Digitaluhr, half sie Leich, die Fakten zum Tod von Captain Walker zusammenzutragen. Familie, Freunde, Feinde, gab es Schwierigkeiten, Streit im Dienst, mit wem hatte er zuletzt Kontakt, letzte Anrufe, das Übliche eben. Notwendige Ermittlungen, die sie jedoch keinen Schritt voranbringen würden, war sie überzeugt. Endlich rief die Ärztin zurück.

»Captain Brandon Walker war nur kurz bei uns in Behandlung, vor sechs Monaten während einer Woche.«

»Weshalb wurde er in die Klinik eingewiesen?«

»Sie wissen, dass sich darüber keine Auskunft geben darf.«

Chris staunte, dass Dr. Hogan sich erst jetzt aufs Arztgeheimnis berief.

»Captain Walker ist tot«, bemerkte sie.

»Trotzdem«, sagte die Ärztin nach einer Schrecksekunde. »Das Arztgeheimnis gilt auch über den Tod hinaus.«

»Wenn Sie es sagen. Na gut, der Pathologe wird uns die Antwort bald auch geben können. War Dr. Fisher der behandelnde Arzt?«

»Nicht primär, aber er hat den Patienten wegen einer Komplikation nachbehandelt.«

»Lassen Sie mich raten: eine Magen-Darm-Infektion?«

Die Leitung blieb stumm. Chris interpretierte das als ein Ja. Da hatte sie die Verbindung. Die Pathologie würde die Vermutung bald bestätigen. Sie war sich der Sache so sicher, dass eine Extradosis Adrenalin einen wohligen Schauer durch ihren Körper sandte, wie oft bei der Arbeit, wenn ein kleines Stück Wahrheit ans Tageslicht kam. Gut gelaunt verfolgte sie den kurzen, aber heftigen Schlagabtausch zwischen Leich und einem hochdekorierten Goliath, der unbedingt das FBI einschalten wollte. Statt Steine schleuderte ihm David Leich starke Worte entgegen:

»Wenn ich einen von den Feds auf deutschem Boden erwische, buchte ich ihn ein wegen Landfriedensbruchs, schnüre ihn gut zusammen und schicke ihn per ›Globemaster‹ an den Absender zurück. Ist das angekommen?«

Die Ermittlungen an diesem Tatort waren beim LKA in guten Händen, stellte sie befriedigt fest. Sie zog es zurück nach Landstuhl. Die Arbeit dort war noch nicht erledigt.

Landstuhl

»Sie schon wieder«, seufzte Nancy Hogan, als Chris in ihre Besprechung platzte. »Ich habe jetzt keine Zeit. Sie sehen, wir sind beschäftigt.«

Was sie Beschäftigung nannte, sah eher nach Gruppentherapie aus, die ihr Ziel nicht so bald erreichen würde. Die Ärztinnen und Ärzte hingen teilnahmslos oder einfach todmüde in ihren Stühlen rund um den Konferenztisch, überfordert vom Eingriff der allgegenwärtigen Polizei in ihre tägliche Routine.

»Tut mir leid, Sie zu unterbrechen, meine Damen und Herren, aber je schneller Dr. Hogan meine Fragen beantwortet, desto früher kehrt das LRMC wieder zum Normalbetrieb zurück.«

Ohne ein weiteres Wort führte die leitende Ärztin sie in ihr Büro. Chris dankte mit einem warmen Lächeln.

»Dr. Hogan, innerhalb kurzer Zeit sind zwei ehemalige Patienten von Dr. Fisher höchst wahrscheinlich durch denselben Täter erschossen worden, Eddie Jones, ein Ex SEAL, und Brandon Walker, Pilot der US Air Force. Ich brauche die Patientenakten dieser beiden Opfer, um das Verbrechen aufzuklären.«

Die Ärztin setzte zur erwarteten Erwiderung an, doch Chris unterbrach sie:

»Ihr Einwand mit dem Arztgeheimnis ist verständlich, aber hier geht es um zwei Mordfälle und einen gefährlichen Serientäter. Jeder Richter wird den Beschluss zur Herausgabe der Akten sofort unterschreiben. Wir dürfen nur keine Minute mehr verlieren, wenn wir weitere Opfer vermeiden wollen.«

Dr. Hogans Hände verkrampften sich. Sie stand auf und begann, nervös im Büro auf- und abzugehen.

»Vom selben Täter?«, fragte sie schließlich kaum hörbar. »Und Sie sind absolut sicher, dass ein Zusammenhang mit Dr. Fisher besteht?«

»Die KTU hat Spuren sichergestellt, die klar darauf hinweisen.«

Noch ein paar energische Schritte im Tigerkäfig, dann setzte sich die Ärztin wieder. Sie schien plötzlich einen Makel am Nagel ihres kleinen Fingers zu entdecken.

 

»Die Akten sind verschwunden«, sagte sie, ohne aufzublicken.

Chris spürte die Adern in den Schläfen anschwellen, doch sie schluckte die Vorwürfe hinunter, die sie Dr. Hogan entgegenschleudern wollte. Die Frau hätte sie sofort über die fehlenden Akten informieren müssen. Sie wusste es, und sie schämte sich offensichtlich. Chris beendete die peinliche Pause:

»Was heißt verschwunden?«

Die Ärztin hieb mit der flachen Hand auf die Tischplatte, wie um sich selbst Mut zu machen.

»Hören Sie – hier geht alles drunter und drüber – es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte sofort anrufen …«

»Beruhigen Sie sich. Niemand wirft Ihnen etwas vor. Sagen Sie mir einfach, was geschehen ist.«

»Wir sind zufällig darauf gestoßen, nachdem Sie wegen Captain Walker angerufen haben. Im Computer sind nämlich nur die administrativen Daten erfasst: Eintritt, Austritt, behandelnde Ärzte, etc. Ich wollte mir das Krankenblatt bei Dr. Fisher besorgen, da – da mussten wir feststellen, dass ein ganzes Bündel Akten fehlte.«

»Kann Dr. Fisher sie selbst entsorgt haben?«

Die Ärztin verneinte heftig, als wäre so etwas undenkbar.

»Wo hat er die Akten aufbewahrt?«

Dr. Hogan beschrieb den Schrank, an dem die Spurensicherung Fingerabdrücke des mutmaßlichen Täters festgestellt hatte. Der Geist war der Dieb der Krankenblätter, aus welchem Grund auch immer. Der Verdacht lag nahe, dass er darin nach weiteren Opfern suchen würde.

»Ich brauche eine genaue Aufstellung aller fehlenden Blätter, möglichst mit aktueller Anschrift und Telefonnummer der betroffenen Patienten.«

»Das wird wohl noch eine Weile dauern. Das Sekretariat ist dabei, die Daten zusammenzutragen.«

»Bitte beeilen Sie sich. Das Leben weiterer Zielpersonen kann davon abhängen.«

»Zielpersonen, wie zynisch das klingt«, murmelte die Ärztin betroffen.

»Das ist nun mal die Realität. Es hat keinen Zweck, zu verharmlosen.«

Dr. Hogan schüttelte nachdenklich den Kopf. »Aber – wieso diese sinnlose Gewalt?«

»Das versuchen wir gerade herauszufinden, und Sie können uns dabei helfen. Sind denn noch gar keine weiteren Einzelheiten über die fehlenden Akten bekannt?«

Die Ärztin überlegte, tiefe Sorgenfalten auf der Stirn, bevor sie zum Telefon griff. Sie schaltete auf Lautsprecher. Eine Frauenstimme beantwortete ihre Frage mit der Aufzählung von fünf Namen. Zwei davon kannte Chris: Eddie Jones und Brandon Walker. Zwei weitere Patienten, deren Akten fehlten, waren bereits vor Jahren verstorben. Zuletzt nannte sie einen deutschen Namen. Die Ärztin dankte und legte auf.

»Das ist leider alles, was wir bisher herausgefunden haben«, murmelte sie entschuldigend.

»Dieser deutsche Name, Kati Jung …«

»Ein besonders tragischer Fall. Kati arbeitet seit vielen Jahren bei uns als Nurse. Nun liegt sie auf der Intensivstation.«

Chris horchte auf. »Sie liegt hier in der Klinik?«

Dr. Hogan nickte traurig. Chris stand auf.

»Ich muss sie unbedingt sprechen.«

»Das geht nicht. Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzen, um den Kreislauf zu stabilisieren.«

»Wann kann ich mit ihr sprechen?«

»Ich fürchte, das wird noch lange dauern. Zurzeit ist keine verlässliche Prognose möglich.«

»Was fehlt ihr denn?«

Die Ärztin schüttelte nur schweigend den Kopf.

»Ich muss sie sehen. Das wird ja wohl möglich sein, und ich möchte mit ihrer Familie sprechen.«

Wenig später fand sie sich in einem düsteren Raum wieder, Atemschutzmaske vor dem Mund, und betrachtete das eingefallene Gesicht der Kati Jung. Viel war nicht von ihr zu sehen unter den Schläuchen und Sonden der Medizintechnik. In einem Stuhl neben dem Bett schlief ein Mann, etwa im selben Alter wie die Patientin.

»Katis Ehemann, Alois Jung«, flüsterte Dr. Hogan. »Er weicht kaum mehr von ihrer Seite.«

»Wird sie es schaffen?«

Die Antwort blieb aus. Der Mann schreckte auf. Er ergriff die Hand der Patientin und sah die Eindringlinge verwirrt an.

»Wer sind Sie?«

Chris stellte sich vor, und die Ärztin zog sich zurück.

»Herr Jung, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so überfalle, aber ich muss Ihnen dringend einige Fragen stellen. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

»Ich bleibe bei Kati.«

»Wie geht es ihr?«

Wohl die dümmste Frage, die sie in dieser Lage stellen konnte, aber sie war schon draußen, bevor ihr Denkapparat schaltete. Alois Jung reagierte vollkommen überraschend. Wie ein geheimer Code öffnete die Frage sein Herz. Die ganze angestaute Angst sprudelte aus ihm heraus, während er vom Schicksal seiner geliebten Kati berichtete.

»Irgendetwas frisst sie von innen auf, und niemand weiß was«, klagte er. »Sobald sie erwacht, hat sie unerträgliche Bauchschmerzen. Die Ärzte mussten sogar Morphium spritzen und pumpen sie voll mit Antibiotika. Ich kann Ludwig schon nicht mehr in die Augen sehen, wenn er fragt, wann seine Mutter endlich wieder gesund wird, wissen Sie.«

»Ludwig ist Ihr Sohn?«

Er nickte. »Ich bin nicht sein leiblicher Vater. Der hat sich verdrückt, als Katie schwanger wurde.«

»Weiß Ludwig …«

»Ja, Kati und ich haben vor sechs Jahren geheiratet, als er vier war. Ludwig leidet am Asperger-Syndrom. Er hat es nicht leicht, aber er erleichtert mir das Leben auch nicht gerade, müssen Sie wissen.«

Der Mann wirkte heillos überfordert, kein Wunder.

»Kümmern Sie sich allein um den Jungen?«, fragte sie vorsichtig.

»Meine Schwester schaut zwei- bis dreimal die Woche vorbei. Mit ihr versteht er sich besser, als mit seinem Stiefvater.« Nach einer kurzen Pause fügte er bitter hinzu: »Ich hoffte, es würde sich bessern, jetzt, wo wir zusammenhalten müssen.«

Sie verstand die Andeutung nicht, entschied aber, ihn nicht länger zu bedrängen. Sie ließ ihn allein mit seinem Schmerz. In Gedanken versunken, schlenderte sie zur Station von Dr. Hogan zurück.

»Kann es sein, dass Kati an einer Infektion durch resistente Keime leidet?«, fragte sie unter der Tür. »Zum Beispiel Clostridium difficile?«

Das Mienenspiel der Ärztin und ihr Schweigen sprachen Bände.

Berlin

Seidel eilte Chris im Korridor entgegen, Aktenbündel unter einem Arm, Laptop unter dem andern, rosa Gesicht, was bei ihm auf einen Zustand höchster Erregung hindeutete.

»Chef, wir sind im Auditorium«, rief er und rauschte vorbei.

Die SOKO NAVY! Wie viele Leute fasste das Auditorium? Viele, zu viele. Staatsanwältin Winter richtete mit der großen Kelle an und bestätigte damit ihre schlimmen Vorahnungen. Mit einem tiefen Seufzer holte sie ihre Unterlagen und machte sich auf den schweren Gang zum Audimax. Nicht ohne vorher Jamies SMS zu beantworten:

»heute 19h, hungrig in jeder hinsicht, versprochen!«

Sie zählte 37 Kollegen, welche mit ihr die SOKO NAVY in Berlin bildeten, zusammengewürfelt aus den Abteilungen Gewaltverbrechen, Drogen, IT und der KTU. Hinzu kam Hauptkommissar Leich mit zwei seiner Leute, per Video aus Mainz zugeschaltet. Sie konnte sich ungefähr vorstellen, was in Leichs Kopf vorging angesichts der Berliner Vollversammlung, falls das Volk überhaupt auf seinen PC-Bildschirm passte. Staatsanwältin Winter blühte auf in dieser Manege. Zirkusdirektorin und Dompteurin in einem, schwang sie die imaginäre Peitsche, verteilte hie und da ein Zückerchen, damit ihre Kreaturen brav durch Ringe und aufs Podest sprangen. Wie ein Tinnitus lag Chris ständig Fučiks ›Einzug der Gladiatoren‹ im Ohr. Das Stück war mindestens zehnmal vollständig abgespielt, bis sie ans Mikrofon trat, um den Stand der Ermittlungen aus ihrer Sicht darzustellen. Die wenigen, gesicherten Fakten lagen in einer deprimierend kurzen Präsentation bereit auf Seidels Computer. Sie brauchte nur ein paar Klicks, um nachzuweisen, dass sie einem Phantom hinterher jagten, von dem es noch nicht einmal eine brauchbare Täterbeschreibung gab.

»Alle forensischen Hinweise deuten auf Lieutenant Dave Martinez als Täter hin«, schloss sie, »einen Ex Elitesoldaten der US-Navy, SEAL, Afghanistan-Veteran und seit zehn Jahren mausetot.«

Das Gelächter erstarb schnell, als Winter mit der Peitsche knallte.

»Gibt es vielleicht auch konstruktive Kommentare, Herrschaften?«

Betretenes Schweigen war die Antwort. Von der Projektionsfläche an der Wand grüßte wie eine stille Anklage das verwackelte, alte Foto des Mannes, den Jens Haase bei seinen Recherchen als Dave Martinez identifiziert hatte. Zu ihrer Überraschung streckte Seidel scheu eine Hand hoch.

»Vielleicht sollte man eine Fahndung einleiten.«

Nach einem Moment vollkommener Stille explodierte das Auditorium. Seidels Vorschlag wirkte wie ein Befreiungsschlag, um Spannung und Ärger in Gelächter über den gelungenen Scherz aufzulösen. Nur Seidel konnte nicht folgen. Winter erklärte es ihm:

»Warten Sie noch ein paar Jährchen, Herr Referendar, bis sie selbst Staatsanwalt sind, dann dürfen Sie gern nach Toten fahnden.«

Chris griff ein, bevor der gute Seidel vollends unter die Räder kam. Sie klopfte ans Mikrofon, bis Ruhe einkehrte, dann sagte sie:

»Nachdem kein einziger potenzieller Zeuge in Berlin oder Landstuhl oder Ramstein den Täter gesehen haben will, bleibt uns nur die Tatsache der Fingerabdrücke des Dave Martinez an allen drei Tatorten. Ich denke, was Referendar Seidel uns vorschlagen will, ist nicht die Fahndung nach einem Toten, sondern die Fahndung nach dem echten Dave Martinez.«

Sie ließ die Bemerkung eine Weile in den Köpfen der SOKO NAVY reifen, bevor sie, zur Staatsanwältin gewandt, weitersprach:

»Mir scheint offensichtlich, dass etwas ganz und gar nicht stimmt an der Geschichte vom gefallenen Soldaten. Wir brauchen zwingend Einsicht in die Personalakte der US-Navy. Wir müssen wissen, was damals in Afghanistan genau passiert ist und wir brauchen Zeugen aus jener Zeit. Dr. Winter, wann können wir mit der offiziellen Antwort des Oberkommandos rechnen?«

Tödliche Blitze zuckten aus den Augen der Staatsanwältin, doch sie fasste sich schnell. Die Erfahrung aus hundert Strafprozessen trug Früchte. Aalglatt zog sie den Hals aus der Schlinge:

»Die neuen Beweise aus Landstuhl und Ramstein ermöglichen uns nun endlich, den Druck gegenüber unsern amerikanischen Freunden zu erhöhen.«

Chris fragte sich, wen sie mit dem unbestimmten »Uns« meinte. Winter selbst war für diese Informationsbeschaffung verantwortlich. Sie hatte die Kommunikation mit dem Oberkommando zur Chefsache erklärt. Warum stand sie nicht dazu? Während Chris zögerte, nachzuhaken, entstand Bewegung bei den Kollegen vom LKA in Mainz. Hauptkommissar Leich nahm ein Dokument entgegen, unterhielt sich kurz mit der Frau, die es gebracht hatte, und verlangte das Wort. Er bemühte sich um ein einigermaßen verständliches Hochdeutsch.

»Ich erhalte soeben den Obduktionsbefund des Opfers aus Ramstein, Captain Brandon Walker, US Air Force. Todesursache war wie vermutet der Präzisionsschuss zwischen die Augen. Neu ist aber Folgendes: Brandon Walker hat über einen Zeitraum von Monaten, wenn nicht Jahren, regelmäßig Antibiotika eingenommen, was zu ernsthaften Nierenschäden geführt hat. Der Grund waren hartnäckige Entzündungen im Magen-Darm Bereich. Er muss wohl unheilbar krank gewesen sein, denn es sind antibiotikaresistente Bakterien festgestellt worden. Bakterien vom Typ …«

»Clostridium difficile«, warf Chris ein.

Überschüssiges Adrenalin sorgte für schnellen Pulsschlag.

»C. difficile«, buchstabierte Leich stockend und blickte dabei verblüfft in die Kamera.

»Die Probe muss sofort ins Robert-Koch-Institut zur genauen Analyse«, sagte Chris. »Ich bin mir allerdings jetzt schon ziemlich sicher, dass es sich um denselben resistenten Bakterienstamm handelt, den wir beim ersten Opfer, Eddie Jones, festgestellt haben. Es ist eine Variante von Keimen, die von Medizinern als ›TDR‹ bezeichnet wird, totally drug resistent, resistent gegen alle bekannten Antibiotika. Eine Infektion mit diesen Bakterien ist ein sicheres Todesurteil. Herrschaften, wir haben es hier mit einem zweiten Killer zu tun.«

Die Behauptung sorgte für reichlich Gesprächsstoff, bis die Staatsanwältin zur Ordnung rief, ihr Gesicht ein einziges Fragezeichen.

»Was heißt das jetzt für uns?«

Gute Frage, dachte Chris. Laut sagte sie:

»Möglicherweise liefert uns der zweite Killer einen Hinweis auf das Tatmotiv. Ich schlage vor, das Umfeld der Opfer unter diesem Aspekt genauer unter die Lupe zu nehmen. Mein Team konzentriert sich auf das Lazarett in Landstuhl. Beim ermordeten Dr. Fisher laufen die Fäden zusammen. Wenn überhaupt, finden wir im LRMC Hinweise auf weitere mögliche Opfer.«

 

Dr. Winter fiel kein Widerspruch ein, also blieb es bei der vorgeschlagenen Arbeitsteilung. Die Teams der SOKO NAVY zerstreuten sich. Chris konnte ungestört weiter ermitteln, hoffte sie. Noch wichtiger war ihr allerdings der Termin um 19 Uhr in Dahlem.

Dahlem

Es hatte sich einiges verändert an ihrem Haus in Dahlem während der paar Tage Abwesenheit. Neben dem Eingang lehnte eine Leiter an der Wand, Plastikkübel mit Farbresten lagen herum, ein paar Fenster standen offen, und am Straßenrand war ein gelber Lieferwagen mit der Aufschrift ›Pizzablitz‹ geparkt. Ein junger Mann im passenden T-Shirt, Baseballmütze verkehrt herum auf schwarzem Haar, kam ihr entgegen. Fasziniert vom Zopf auf ihrer Brust, verlor er für kurze Zeit den Lieferwagen aus den Augen, bis er das Schulterhalfter unter der offenen Weste bemerkte. Mit einem halb erstickten »Mahlzeit« verschwand er im Auto und trat aufs Gas. Waren die Maler noch im Haus? Planten die Schlitzohren eine Nachtschicht, um ihnen den Spaß zu verderben?

Im Haus stank es nach Ammoniak und frischer Farbe. Vom antiken Parkett war unter dem fleckigen Plastik kaum etwas zu sehen. Da sie alles andere als eine Baustellenfetischistin war, spürte sie die Vorfreude auf die intime Einweihungsparty schrumpfen wie Jamie im kalten Wasser. Er schien nicht im Haus zu sein. Sie öffnete sie die restlichen Fenster, bevor sie ablegte. Erleichtert füllte sie die Lunge mit der frischen Abendluft, die vom Garten herein wehte. Ein Licht flackerte im Gartenhaus. Ein Zweites flammte auf, ein Drittes, bis alle Fenster des Hexenhäuschens leuchteten.

Jamie zwängte sich mit eingezogenem Kopf durch die Türöffnung, kaum groß genug für einen richtigen Hund. Mit ausgestreckten Armen und einem Gesicht wie König Heinrich vor Canossa trat er auf sie zu.

»Mea culpa«, sagte er, »ich bekenne mich schuldig in allen Punkten. Verhaften Sie mich, Chief Inspector. Sperren Sie mich ein und werfen Sie den Schlüssel weg.«

Ohne Zögern legte sie ihm Handschellen an.

»Wird aber auch Zeit, mein Lieber. Los, rein da!«

Die Libido kehrte im Eiltempo zurück. Kaum lag er auf der Holzbank, überschüttete sie ihn mit Küssen. Ihre Hände waren überall gleichzeitig, bis die entscheidenden Stellen nackt vor ihr lagen.

»Die Pizza wird kalt«, versuchte er zu protestieren.

Was immer ihm sonst noch auf der Zunge lag, ging in tierischen Lauten unter, die ihr blonder Pinsel an seinem John auslöste.

Es war finster, als sie erwachte. Nur der Mond warf sein fahles Licht auf die Tür und den Haken, an dem die Glock im Halfter schimmerte. Ein schwerer Verstoß gegen elementare Sicherheitsvorschriften, Frau Hauptkommissarin. Sie erinnerte sich nicht, das Ding überhaupt abgelegt zu haben. Jamies Rücken wärmte Bauch und Brüste. Sie wusste nicht mehr, wie sie zu zweit in den kleinen Schlafsack geschlüpft waren. Gleitmittel? Jedenfalls musste der Einstieg bedeutend eleganter abgelaufen sein als ihr Ausstieg. Sie wollte ihn nicht wecken. Die Handschellen klirrten leise, als er sich mit einem Seufzer auf den Rücken wälzte, doch er schlief weiter im Daunensack auf dem rauen Bretterboden. Sie tastete nach dem Slip, schlüpfte hinein und wollte den sündigen Ort verlassen. Beim Knarren der Tür schreckte er auf. Verwirrt versuchte er, den Schlafsack abzustreifen, eine ungewohnte Geschicklichkeitsübung mit gefesselten Händen.

»Du kannst sie mir abnehmen. Ich werde schon nicht davonlaufen.«

»Sicher?«

»Was hast du vor?«, fragte er händereibend, während er sich angestrengt nach seinen Unterhosen umsah.

»Hausbesichtigung«, grinste sie. »Das gehört doch auch zur Einweihungsparty.«

Bald danach schwebten sie in Unterwäsche durch die mit frischem Weiß getünchten Räume wie zwei verliebte Schlossgespenster.

»Meine Planung war wohl nicht optimal«, sagte er zerknirscht in der leeren Küche. »Tut mir leid. Ich dachte, die Maler würden sich ein wenig beeilen.«

Sie schmiegte sich eng an ihn. »Ist doch so auch schön, meinst du nicht? Jetzt weiß ich wenigstens, dass mein Jamie nicht einmal vor Pizza zurückschreckt.«

»Wir haben noch gar nichts gegessen, fällt mir gerade ein.«

Er rümpfte zwar die Nase dabei, aber der leere Magen blieb ein starkes Argument für Fastfood. Nach einem Blick voller Bewunderung in die Dachkammer, ihr künftiges Musikzimmer, das jetzt im Licht der nackten Birne wie der Nicolaisaal in Potsdam strahlte, folgte sie ihm ins Gartenhaus.

Ihr Handy zeigte eine neue Meldung an. HK Leich hatte auf den AB gesprochen. Ein Stück kalte ›Vegetariana‹ kauend, hörte sie die Nachricht ab. Das LKA hatte in der Ramsteiner Wohnung des Piloten Brandon Walker ein Rezept für Neomycin sichergestellt, erst vor zwei Wochen ausgestellt von Dr. Fisher im LRMC. Sie schlang den Rest des Pizzaschnitzes hinunter, raffte die Kleider zusammen und ging ins Haus, um zu duschen und sich anzuziehen. Jamie schlief bereits wieder leise schnarchend in seinem Schlafsack. Sie hinterließ ihm eine kurze Notiz, bevor sie abfuhr. Bis morgens um acht sollte die Strecke nach Landstuhl zu schaffen sein. Die Geheimniskrämer im Lazarett mussten wissen, dass ihre Probleme noch nicht einmal angefangen hatten.

Landstuhl

Jens Haases Mail traf kurz nach sieben Uhr ein, zehn Kilometer vor Landstuhl. Sie hielt bei der nächsten Gelegenheit an, um zu lesen, was Haase, der tatsächlich nie schlief, in der kurzen Zeit über Colonel Cooper zusammengetragen hatte. Haase, der stille Kaffeeanbeter, schien seine Augen und Ohren überall zu haben. Wie sonst sollte er an brisante Interna der US Streitkräfte gelangen? In diesem Fall brauchte sie sich nicht darum zu kümmern, woher die Information stammte. Als Druckmittel taugte sie auf jeden Fall.

Jeremy Cooper, wie immer frisch rasiert, geschrubbt und gestriegelt, empfing sie buchstäblich von oben herab.

»Ihre Ermittlungen kommen offensichtlich nicht vom Fleck«, stellte er fest. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Vorgesetzten Meldung zu erstatten über die anhaltende Terrorgefahr. Ein Normalbetrieb ist unter diesen Umständen nicht mehr möglich.«

»Und wie hat Major General Connor aus Boston reagiert?«

Der Name seines Vorgesetzten aus ihrem Mund raubte ihm für einen Moment die Sprache. MG Tom Connor war es auch, der in letzter Instanz über Coopers anstehende Beförderung zu entscheiden hatte. So stand es in Haases Mail. Sie hatte die Achillesferse des Colonels getroffen. Die nervösen Blicke bestätigten es eindrücklich, obwohl sich sonst kein Gesichtsmuskel regte, als wäre er sein eigenes Standbild.

»Woher wissen Sie …«

Sie schenkte ihm ein mildes Lächeln und klärte ihn auf:

»Wir sind die Feds. Das BKA ist das FBI in diesem Land. Das sollten Sie nicht vergessen, Colonel.«

Zum ersten Mal regte sich etwas in seinem Gesicht. Die Mundwinkel zuckten, als er sie anfuhr:

»Dann machen Sie Ihren Job, verdammt noch mal.«

»Das tun wir. Es wäre allerdings hilfreich, wenn Sie uns bei der Aufklärung unterstützen würden, statt Terrorwarnungen herauszugeben.«

Sie glaubte keine Sekunde daran, dass der Kommandant des Lazaretts nicht über Dr. Fishers fragwürdige Praxis informiert war. Deshalb griff sie frontal an:

»Wie ist es möglich, dass Dr. Fisher unter Ihren Augen Patienten mit gefährlich ansteckenden Krankheiten aus der Klinik entlässt und damit eine unkontrollierte Ausbreitung der Keime riskiert?«

»Ich dachte, Sie suchen den Killer. Jetzt beschuldigen Sie das Opfer.«

»Lenken Sie nicht ab. Sie wissen genau, wovon ich spreche. Es handelt sich nicht um irgendwelche harmlosen Darmbakterien. Der Name C. difficile sagt Ihnen doch sicher etwas.«

Diesmal waren es die Hände, die verrieten, dass er nicht zum ersten Mal von Clostridium difficile hörte. Er versuchte, den Unwissenden zu spielen, doch sie sprach ungerührt weiter:

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