Strohöl

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Strohöl

Impressum

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg

Strohöl

Der 6. Fall mit BKA-Kommissarin Chris

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-198-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-696-7

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1929147230, 1181778928

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

KAPITEL 1

ÜBERLINGEN

Judith – was für ein bescheuerter Einfall, dachte Emma. Es war nicht ihr erster Einsatz unter falschem Namen aber mit Abstand der dümmste. Sie wollte nur weg. Barbarossa reichte es noch nicht, obwohl sie den Kanister sichergestellt hatten, ihn nur ins Auto schaffen und verschwinden mussten. Im Scheinwerferlicht der Versuchsanlage leuchtete sein roter Vollbart, als stünde er in Flammen. Breitbeinig, mit erhobener Faust, stand er vor der Fracking Bohrstelle wie Hagen vor Siegfried, bevor er ihm den Speer zwischen die Schulterblätter rammte.

»Judith, wir werden uns nicht verdrücken wie Blagen aus Nachbars Garten«, sagte er feierlich. »Wir erfüllen eine wichtige Mission. Denen müssen wir zeigen, wer da war.«

»Du bist verrückt. Lass uns abhauen! Dein Verdacht wird sich bestätigen, sobald der Inhalt des Kanisters untersucht ist. Du hattest recht. Du bist der Größte. Was willst du mehr?«

Im Schatten der Stahltanks rannte sie mit dem Kanister übers Feld in die Richtung, wo sie ihr Auto vermutete. Ihre Hände fühlten sich klamm an trotz der trockenen Hitze der Hochsommernacht. Angstschweiß. Sie wagte erst, sich umzusehen, als sie das Streulicht der Scheinwerfer nicht mehr streifte. Die Versuchsanlage glich entfernt einer mobilen Erdölraffinerie im Kleinformat, als hätte jemand die Container, Stahlgerüste, Trucks, Tanks, Pumpen und Rohrleitungen mit ihren mannshohen Ventilen als Kulisse für einen Katastrophenfilm aufs Feld gestellt. Nur die zwei zwanzig Meter hohen Bohrtürme deuteten darauf hin, dass hier tatsächlich gearbeitet wurde. Das Bohrgestänge hatte sich wohl schon kilometerweit ins Gestein gefressen, um dem Tonschiefer mit allen Mitteln noch den letzten Rest gefangenen Erdgases zu entreißen. So genau wollte sie es gar nicht wissen. Das Auto in Reichweite, gab es nur ein Ziel: abfahren.

Barbarossa hatte den Zündschlüssel in der Tasche, doch er war nirgends zu sehen, wie vom Erzboden verschluckt.

»Dieser verdammte Idiot!«, rief sie und schleuderte den Kanister wütend gegen das Auto.

Der Verrückte musste ins Magazin zurückgekehrt sein, ins Lager, wo sie das Beweisstück gefunden hatten und wo jetzt ein Blitz einschlug, der alles überstrahlte. Die Detonation ließ den Boden unter ihren Füßen zittern, dass sie vor Schreck beinah das Gleichgewicht verlor. Die Explosion musste bis nach Überlingen zu hören sein. Die Lagerhalle, ein einziger Feuerball, spie dichten, schwarzen Rauch in ihre Richtung. Es stank nach Diesel, Ruß und faulen Eiern. Die Zeit blieb stehen. Sekundenlang starrte sie wie gelähmt auf die Lagerhalle, die sich vor ihren Augen im Funkenregen in Rauch und Asche verwandelte, als hätten die Bohrer der Fracking Anlage den Deckel der Hölle durchstoßen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie die Rauchschwaden im Licht der Scheinwerfer. Unfähig, sich zu rühren, musste sie sich eingestehen, dass sie die neue Lage vollkommen überforderte. Eine Alarmsirene begann zu heulen. Wie auf einen Schlag wimmelte es von Arbeitern, die aus den Wohncontainern strömten und aufs freie Feld flohen. Eine Kolonne blinkender Blaulichter näherte sich vom See her, während erste Wasserstrahlen aus dem Tanklöschfahrzeug der Versuchsanlage in den Himmel schossen. Das Horn der anrückenden Feuerwehr rief ihr endlich in Erinnerung, dass sie nicht allein hierhergekommen war.

»Barbarossa!«, keuchte sie entsetzt.

Wie in Trance zerrte sie den Feuerlöscher aus dem Kofferraum. Ihr Kopf stieß an den Deckel. Die scharfe Metallkante hinterließ eine blutige Schramme, doch sie bemerkte den Schmerz nicht. Die erste Welle der Gluthitze traf sie auf halben Weg zum Feuer. Die Knie gaben nach. Sie stolperte, fiel der Länge nach hin. Der Feuerlöscher entglitt ihr. Als sie ihn vor sich im Gras liegen sah, begriff sie die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens. Sie ließ das lächerliche Gerät liegen, raffte sich auf und näherte sich vorsichtiger der Stelle, wo einmal das Tor der Halle gestanden hatte.

»Barbarossa!«, schrie sie unentwegt.

Sie kannte seinen richtigen Namen nicht, genauso wie er sie vor Kurzem nur als Judith kennengelernt hatte. Das Lager war nicht mehr zu retten. Die Feuerwehr richtete ihre Strahlrohre und Schaumkanonen auf die nahen Stahltanks und Druckleitungen, um weiteren Schaden zu verhindern. Sie rief aus Leibeskräften. Die Rufe verhallten ungehört im Zischen und Prasseln des Feuers. Glühende Balken verbogen sich singend. Ein Knall wie von einer zweiten Explosion fuhr ihr in die Glieder, dass sie ein paar Schritte rückwärts taumelte, gerade rechtzeitig, um dem Stahlträger auszuweichen, der zwei Meter vor ihren Füßen auf den Boden krachte. Zitternd wich sie weiter zurück. Die Flammen sprangen auf einen Eimer über. Der Inhalt explodierte in einem grellen Blitz, der die Umgebung für einen Sekundenbruchteil taghell erleuchtete. Sie sah es dennoch deutlich: die schwarze Sonnenblume, das Zeichen der Umweltaktivisten, deren Anführer Barbarossa war. Nur er konnte es ans Tor gesprayt haben.

»Barbarossa!«

Verzweifelt rannte sie an der brennenden Fassade entlang, direkt in die Arme eines Feuerwehrmannes.

»Sie sind verletzt«, sagte er. »Ich bringe Sie zum Notarzt.«

»Barbarossa«, antwortete sie.

Ihr verängstigtes Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen erschreckte ihn.

»Sie stehen unter Schock«, schloss er messerscharf, griff ihr unter die Arme und führte sie weg aus der Gefahrenzone.

Sie hing an ihm wie ein Sack Kartoffeln vom nahen Acker, während sie die Umgebung verzweifelt nach einer Spur ihres Begleiters absuchte.

»Er muss hier irgendwo sein«, murmelte sie kaum verständlich.

»Vermissen Sie jemanden? Waren Sie in der Halle, als es passierte?«

»Barbarossa war da.«

»So wird das nichts.« Er schulterte sie mit dem Rettungsgriff. »Schlingen Sie die Arme um meinen Hals. Halten Sie sich fest. Geht das?«

Er trug sie im Laufschritt huckepack zum Rettungswagen, wo er sie in die Arme des Sanitäters gleiten ließ. Ohne ein weiteres Wort rannte er zum Löschtrupp zurück, um das Phantom Barbarossa zu suchen. Der Notarzt stellte sich als Frau in ihrem Alter heraus. Kaum hatte sie begonnen, Fragen zu stellen, erregte eine zweite Gruppe Nothelfer ihre Aufmerksamkeit. Ein scheinbar lebloser Mann lag auf der Trage. Sie stand bei ihnen, bevor sie den Rettungswagen erreichten.

»Barbaros…«

Der Schwerverletzte war nicht ihr Begleiter. Ein zweiter Unbekannter hing bereits im Auto am Tropf, Sauerstoffmaske über Mund und Nase. Er war bei Bewusstsein. Sie beugte sich zu seinem Ohr hinunter.

»Haben Sie einen Mann mit rotem Haar und Vollbart in der Halle gesehen?«

 

Er blickte sie mit zugekniffenen Augen an und stöhnte. Die Ärztin zog sie ärgerlich beiseite.

»Was fällt Ihnen ein?«

Sie murmelte eine Entschuldigung und entfernte sich. Der Verletzte hatte ihre Frage beantwortet. Sein Kopfschütteln war nicht zu übersehen gewesen.

»Warten Sie!«, rief die Ärztin. »Ihre Wunde am Kopf muss versorgt werden. Bleiben Sie stehen.«

Sie wankte weiter wie eine Schlafwandlerin auf die Gruppe Zuschauer zu, die sich von Minute zu Minute vergrößerte. Barbarossa war untergetaucht. Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Die Gaffer hatten keinen roten Vollbart gesehen. Von Weitem bemerkte sie, wie die Polizei Barbarossas Auto durchsuchte. Das Fahrzeug konnte sie sowieso vergessen – ohne Zündschlüssel. Sie war zwar geübt, in rechtlichen Grauzonen zu operieren, aber die Kunst des Autoknackens beherrschte sie nicht. Vielleicht wartete er aufs erste Schiff nach Konstanz Wallhausen. Sie brauchte dringend einen Transport zum See. Ein Zuschauer im Trainingsanzug, der genug gesehen hatte, nahm sie mit nach Überlingen.

Kein Barbarossa weit und breit. Einmal mehr hörte sie die zwei Akkorde von Mötörhead auf seinem AB. Sie verzichtete auf eine weitere Nachricht. Der feine Herr blieb wie vom Erdboden verschwunden. Er würde ihr einiges zu erklären haben. Kein Zweifel: Es war ihr dümmster Einsatz seit Langem.

Sie erschrak ob der Fratze, die sich im ersten Licht des Tages im Fenster einer Bäckerei spiegelte. So durfte keine Mutter eines Fünfjährigen aussehen, wollte sie ihr Kind behalten. Sie strich sich das Haar notdürftig mit den Fingern glatt, worauf das eingetrocknete Blut auf der Stirn wie Besenreiser hervortrat.

Als das Schiff endlich ablegte, fiel ihr Äußeres dem Personal und den wenigen Fahrgästen kaum noch auf. Sie stand während der kurzen Überfahrt an der Reling und starrte unentwegt ins Wasser, damit niemand auf den Gedanken kam, mit ihr über die Explosion in der nahen Fracking Anlage zu sprechen. Kaum hatte sie festen Boden unter den Füßen, sprang sie ins nächste Taxi. Im letzten Moment unterdrückte sie die automatische Ansage »Paradies«, wo sie mit der jüngeren Schwester und dem kleinen Julian wohnte, die wie immer nichts von ihrem nächtlichen Ausflug ahnten. Sie durfte noch nicht nach Hause zurückkehren. Erst musste sie wissen, in welches Schlamassel sie geraten war.

»Mittelzell, Reichenau«, sagte sie und schloss die Augen.

INSEL REICHENAU

»Hier wollen Sie aussteigen?«, fragte der Taxifahrer verwundert.

Das einsame Holzhaus an der Feldstraße glich eher einem verlassenen Stall denn einem Wohnhaus. Von der Straße aus war der üppige Garten mit den Hängematten und dem Froschteich nicht zu sehen. Sie drückte dem Fahrer einen Zwanzigeuroschein in die Hand.

»Stimmt so«, sagte sie und stieg aus.

Sie wartete, bis er außer Sichtweite war, bevor sie das Haus betrat. Bauer Lorenz rammte sie beinahe unter der Tür, so eilig hatte er es, sein Haus zu verlassen.

»Die spinnen doch alle zusammen«, knurrte er.

»Was ist denn los?«

»Ihre Kollegen schwirren im Haus herum, als hätte ich ins Wespennest gestochen. Dabei starren sie auf ihre Handys und haben Stöpsel in den Ohren, dass sie kein Wort verstehen.«

»Ein Wespennest?«

Lorenz nickte. »Unter dem Dach. So was kommt halt vor auf dem Land. Ihr könnt mich ja anrufen, wenn ihr euch beruhigt habt, falls euch das Nest dann immer noch stört.«

Damit trat er ins Freie und schlug die Tür zu. Während sie den Traktor wegfahren hörte, bereitete sie sich geistig aufs doppelte Wespennest im Haus vor. Barbarossas Truppe bestand aus überzeugten Umweltschützern, Aktivisten für eine bessere Zukunft, wie sie sich bezeichneten, grüner als jede grüne Partei. Die vier Männer und zwei Frauen, alle mindestens zehn Jahre jünger als sie, hatten sich im notdürftig zu Wohnungen umgebauten Stall von Bauer Lorenz als Studenten eingenistet. Bei Dreien stimmte die Berufsbezeichnung ungefähr, obwohl sie bisher nicht herausgefunden hatte, was die Kollegen eigentlich studierten. Jedenfalls trieben sie sich regelmäßig auf dem Campus der Uni Konstanz herum. Dort hatte sie den Anführer dieser weltfremden Ökologen entdeckt. Er wäre ihr nicht aufgefallen, hätte er nicht mit seinen intimen Kenntnissen der Versuchsanlage bei Überlingen geprahlt. Solches Wissen war Gold wert für ihre Recherche. Deshalb spielte sie jetzt die Judith im Wespennest. Die andern Drei, alles Männer, hatten nie ein Abitur geschafft. Dennoch konnten sie einen nächtelang mit Theorien über die Gefahren von Genmais, Kernenergie und Fracking zutexten, als hätten sie ein Leben lang nichts anderes studiert.

Sie stieß die Tür auf, an der die schwarze Sonnenblume prangte. Barbarossa war nicht da. Sobald die erste junge Frau den Blick von ihrem Handy lösen konnte, riss sie sich die Stöpsel aus den Ohren und schrie sie an:

»Wo ist er?«

Im Nu waren die Smartphones mit der Live Berichterstattung aus Überlingen nicht mehr wichtig. Die Gruppe umringte sie, dass sie kaum Platz fand, sich zu setzen.

»Ich habe angenommen, Barbarossa sei bei euch«, sagte sie betont kühl, obwohl sie ein Kribbeln im Bauch spürte, als hätten die Wespen dort genistet.

»Was erzählst du für einen Schwachsinn«, rief ein anderer. »Ich denke, du wolltest unbedingt mit ihm nach Überlingen. Wo wart ihr denn, als der ganze Dreck in die Luft flog?«

Bevor sie antworten konnte, fuhr seine Kollegin dazwischen:

»Zwei Verletzte soll es gegeben haben, erzählen die in den Nachrichten, einer schwer. Ist er …?«

Sie sorgte sich offensichtlich sehr um Barbarossa. Emma beruhigte:

»Ich habe die Verletzten gesehen. Barbarossa war nicht dabei. Er ist plötzlich verschwunden. Ich habe überall gesucht, das könnt ihr mir glauben.«

»Er geht nicht an sein Handy.«

»Das habe ich auch schon festgestellt.«

»Sieht ihm gar nicht ähnlich«, bemerkte der Kollege mit der hohen Denkerstirn. »Verschwunden sagst du? Was heißt verschwunden?«

»Verschwunden ist das Partizip Perfekt von verschwinden«, gab sie bissig zurück. »Wir haben einen Kanister mit Giftcocktail als Beweis sichergestellt, da wollte er unbedingt noch einmal ins Lager zurück.«

»Wollte …«

»Er war dort. Ich habe sein Zeichen am Tor gesehen, frisch gesprayt. Dann fliegt die Halle in die Luft und ich sehe ihn nicht mehr.«

»Er ist in die Luft geflogen!«, rief die besorgte junge Dame hysterisch.

Die Konversation stockte für einen Augenblick, bis Emma den Gedanken aussprach, der sie den ganzen Weg hierher beschäftigt hatte.

»Es ist angezeigt, mit der Wahrheit herauszurücken, meint ihr nicht auch?«, fragte sie lauernd.

Fünf Augenpaare starrten sie an.

»Ich denke, es wäre nur fair, mich jetzt über Barbarossas ›hidden agenda‹ aufzuklären. Immerhin wäre ich um ein Haar abgekratzt.«

»Ich höre immer ›hidden agenda‹. Was erzählt die Braut da?«, brummte einer, der bisher nur mit vernichtenden Blicken kommuniziert hatte.

»Es ist doch auffällig, dass das Lager just in dem Moment hochgeht, als er dahin zurückkehrt«, hakte sie nach.

Beide jungen Frauen drohten, ihr an die Gurgel zu springen.

»Das ist eine ganz infame Unterstellung. Barbarossa würde nie Gewalt anwenden«, behauptete die Denkerstirn. »Wir sind keine Terroristen. Und überhaupt – woher sollte er den Sprengstoff haben?«

Das war die zweite Frage, die sie schon stundenlang beschäftigte. Auch sie ging von einem Sprengstoffanschlag aus, obwohl noch keine offizielle Bestätigung der Behörden vorlag. Wie viel Sprengstoff braucht es, um ein solches Höllenfeuer zu zünden? Wahrscheinlich nicht mehr, als was in Barbarossas Rucksack passte – bei der Menge hochexplosiven Materials im Lager auf dem Fracking Gelände.

»Die Braut war mir von Anfang an suspekt«, brummte der Schweigsame, ohne sie anzusehen.

»Ihr könnt mich mal«, herrschte sie ihn an. »Fragt doch euren Barbarossa, was wirklich geschehen ist, falls er doch noch auftaucht. Für mich war‘s das jetzt. Und merkt euch: Mich habt ihr nie gesehen. Haben wir uns verstanden?«

Das Handy summte auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Sie erschrak, als sie auf dem Display sah, wie spät es geworden war. Um diese Zeit hätte sie längst zu Hause sein müssen. Die kleine Schwester am Apparat begrüßte sie entsprechend aufgebracht.

»Wo steckst du die ganze Zeit, verdammt noch mal?«

»Tut mir leid, Kleines …«

»Du sollst mich nicht so nennen. Geht das nicht in deinen Kopf? Es ist schon acht vorbei, und ich muss zur Uni.«

»Wie geht es Julian?«

»Er schläft wie ein Murmeltier. Das ist ja das Problem. Ich hätte ihn längst in die Kita bringen müssen.«

Ihre kleine Schwester konnte manchmal unglaublich kompliziert sein. Ob sie das von ihrem Vater geerbt hatte? Er war ein bekannter Politiker gewesen und berüchtigt für seine unverständlichen Formulierungen, die oft in unvollendete Sätze mündeten.

»Warum weckst du ihn nicht auf?«

»Du hast gut reden! Nachher bin ich schuld an seinen psychischen Problemen. Was ist, wenn er plötzlich ADHS entwickelt?«

»Weil du ihn weckst? Ich glaube, du verwechselst da etwas. Also, liebes Schwesterherz: Drücke Julian einen dicken Kuss von mir auf die Wange und bringe ihn in die Kita, dann fährst du zur Uni, in dieser Reihenfolge. Schaffst du das?«

»Maria hat auch schon nach dir gefragt«, tönte es beleidigt aus dem Hörer. »Wo warst du denn die ganze Nacht? Warum hast du dein Handy ausgeschaltet?«

»Ich war auf Recherche, das weißt du doch.«

»Und was hat die ach so studierte Frau Journalistin recherchiert?«

»Das willst du nicht wissen.«

Es knackte in der Leitung, dann kam der Summton. Emma lächelte glücklich, während sie die Tasche packte. Zu Hause im Paradies war die Welt in Ordnung. Ihre Schwester hatte den Kleinen ins Herz geschlossen wie einen eigenen Sohn. Und drüben in Wollmatingen lebte und arbeitete ihre große Liebe Maria, das Beste, was ihr das Schicksal geschenkt hatte – nach Julian. Die kleine Welt am Bodensee war eine einzige Idylle, fast zu schön, um wahr zu sein. Ach was, Konstanz, die ganze Region rund um den schönsten See Europas war ein einziges Paradies, dachte sie, um sich sogleich zu korrigieren: gewesen. Als Journalistin bemühte sie sich stets, sachlich zu urteilen, aber die Bohrtürme bei Überlingen empfand auch sie als Bedrohung der sonst weitgehend intakten Landschaft. Warum mussten ausgerechnet hier ergiebige Tonschiefer-Schichten entstanden sein? Warum konnte dieses Gestein nicht wenigstens so tief liegen, dass ein Petrochemie-Konzern wie die NAPHTAG die Finger davon ließ? Sie dachte schon beinahe wie Barbarossas Jünger.

Ihr Gastspiel war beendet. Sie hatte den Kanister aus dem Lager der Fracking Anlage zwar nicht retten können, war aber überzeugt, auch ohne dieses Beweisstück genug in der Hand zu haben, um den Verantwortlichen der NAPHTAG ordentlich auf die Zehen zu treten. Sie rief ein Taxi, schulterte die Tasche und verließ das Haus.

LEVERKUSEN

Fabian Schröder betrat das Sitzungszimmer als Letzter. Vertieft in die Lektüre des druckfrischen Berichts über den Anschlag auf sein Projekt am Bodensee, würdigte er die übrigen Sitzungsteilnehmer keines Blickes. Er sparte sich die üblichen Floskeln zur Begrüßung und Eröffnung, sagte nur:

»Meine Herren, dies ist eine Krisensitzung.«

Um die bedrohliche Lage zu unterstreichen, legte er eine Pause ein, während sein Blick über die Anwesenden schweifte. Es war der harte Kern des Fracking Projekts Kranich, und er fragte sich, was er dabei gedacht hatte, den Grünschnabel Tim Jansen als Organisator mit ins Boot zu holen. Der Versuchsleiter und Ingenieur Niklas Kolbe war nicht zu beneiden, diesen Schnösel am Hals zu haben. Das hatte er ihm auch ziemlich direkt zu verstehen gegeben, aber was konnte er dagegen tun? Jansen war der Neffe und Protegé des Finanzvorstands Finn Matthes, und der wiederum die graue Eminenz im Konzern. Ohne dessen Wohlwollen konnte er sich den Aufstieg in den Vorstand abschminken. Die einzige Chance bestand darin, Jansen derart offen ins Messer laufen zu lassen, dass ihn sein Onkel freiwillig aus dem Verkehr ziehen würde. Jansen war nahe an diesem Punkt, schloss er aus dem Bericht des Organisators. Er knallte den Wisch auf den Tisch und fragte:

»Was ist das?«

Jansen wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen.

»Der vorläufige Bericht«, murmelte er kaum hörbar.

 

»Einen Bericht nennen Sie das? Im Ernst?«, fuhr er ihn an.

Ingenieur Kolbe machte eine beschwichtigende Handbewegung und öffnete den Mund. Schröder kam ihm zuvor:

»Ich habe Sie etwas gefragt, Jansen.«

Der junge Mann schluckte leer. Er brauchte eine Sekunde, um das bisschen Mut, das ihm in die Hose gerutscht war, zu retten, dann räusperte er sich und sagte:

»Entschuldigung, Herr Direktor. Die Betonung liegt auf vorläufig. Mir ist bewusst, dass der Bericht unvollständig ist, aber seit dem Anschlag sind gerade einmal vierundzwanzig Stunden vergangen.«

»Vierundzwanzig Stunden, in denen Sie nichts herausgefunden haben? Was haben Sie die ganze Zeit gemacht, wenn ich fragen darf?«

»Die Polizei tappt noch im Dunkeln …«

»Bleiben sie mir vom Leib mit der Polizei! Wo sollen die denn sonst herumtappen? Wir in diesem Raum sind die Insider. Der Anschlag galt unserem wichtigsten Projekt. Fracking ist die Zukunft, und es ist ganz allein unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit gegenüber der Konzernleitung, Kranich zum Erfolg zu führen. Polizei spielt dabei keine Rolle. Ist das angekommen?«

»Ja.«

Der Mund im blassen Gesicht bewegte sich kaum. Täuschte er sich oder schrumpfte Jansen gerade um ein paar Zentimeter? Der junge Mann ging in Deckung, denn alle im Raum wussten, dass der Chef erst dabei war, sich warmzulaufen.

»Die Mühe hätten Sie sich sparen können«, fuhr Schröder fort, um den Druck aufrecht zu erhalten. »Wir wissen alle, wie die Versuchsanlage aufgebaut ist und dass explosive Flüssigkeiten im Magazin lagerten. Was uns aber stört, ist die Tatsache, dass zwei Mitarbeiter beim Anschlag verletzt worden sind. Wenn der Teufel will, wird es einer nicht überleben.«

»Sie sind beide über den Berg«, unterbrach Ingenieur Kolbe.

»Wie auch immer. Ich möchte wissen, was die Zwei um diese nachtschlafende Zeit im Lager zu suchen hatten. Kann mir das mal jemand erklären?«

Alle Augen richteten sich auf Jansen.

»Ich – weiß es nicht«, stammelte er.

»Mir reicht es allmählich, Jansen. Nachts wird nur an den Pumpen gearbeitet. So steht es doch in den Einsatzplänen, die ein gewisser Herr Jansen ausgearbeitet und netterweise diesem – Bericht – beigelegt hat. Ist es nicht so?«

Jansen schüttelte stumm den Kopf, um sogleich heftig zu nicken.

»Was jetzt?«

»Ja, so ist es. Ich weiß nicht, weshalb die Arbeiter im Magazin waren. Vielleicht suchten sie außerplanmäßig Ersatzteile.«

»Danke, spekulieren kann ich selbst. Warum zum Teufel haben Sie die Leute nicht gefragt?«

Kolbe rettete Jansen vor einer weiteren Schelte. »Sie waren beide bisher nicht ansprechbar«, erklärte er.

»Dann holen Sie das gefälligst sobald als möglich nach. Und jetzt möchte ich hören, was nicht in Ihrem Bericht steht, Jansen.«

Der junge Mann klappte schleunigst sein Notizbuch auf.

»Also – inzwischen ist das Ausmaß des Schadens ziemlich genau bekannt …«

»Will ich hoffen!«

»Die Lagerhalle ist vollständig ausgebrannt. Da wo der Sprengstoff explodiert ist, mitten unter den Fässern mit Fracking Zusatz, stehen nicht einmal mehr die Stahlträger. Einzig der Bürocontainer beim Tor konnte von der Feuerwehr gerettet werden. Andere Gebäude oder Anlagen sind nur minimal oder gar nicht in Mitleidenschaft gezogen worden.«

»Wenigstens ein Lichtblick. Wie viele Fässer sind übrig geblieben?«

»Keines, fürchte ich.«

»Fürchten Sie oder wissen Sie?«

»Einige Fässer sind zwar noch als solche zu erkennen«, präzisierte der Ingenieur, »aber der Inhalt ist vollkommen vernichtet worden.«

Schröder konnte ein ironisches Grinsen nicht ganz unterdrücken. »Pyrotechnische Reinigung, sozusagen«, murmelte er. »Irgendwelche Hinweise auf die Täterschaft?«

»Jawohl, Herr Direktor«, rief Jansen zu seiner Verblüffung. »Die Polizei hat am Tor das Zeichen einer Gruppe militanter Umweltaktivisten sichergestellt, eine schwarze Sonnenblume. Die Gruppe nennt sich Gaia. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie und bedeutet soviel wie Erde.«

Die Neuigkeit raubte Schröder für einen Augenblick die Sprache. Über die Konsequenzen der Entdeckung musste er jedoch keine Sekunde nachdenken. Die grünen Spinner hätten ihm keinen größeren Gefallen erweisen können.

»Wissen Sie, Herr Jansen«, sagte er mit wohlwollendem Lächeln, »mir ist total schnuppe, woher das Wort Geige stammt, aber auch das hätte ohne Weiteres in Ihrem Bericht Platz gefunden. Jedenfalls scheint mir, die Polizei tappe doch nicht mehr ganz im Dunkeln.«

»Es gibt möglicherweise noch eine Spur«, sagte Jansen, der neuen Mut schöpfte. »Am Tatort ist ein verlassenes Auto sichergestellt worden, vielleicht das Fahrzeug des Täters.«

»Gut, sehr gut. Das kommt alles in Ihren Bericht. Hat man den Täter schon identifiziert?«

»Leider noch nicht«, antwortete Ingenieur Kolbe. »Die Polizei geht aber davon aus, dass es sich um zwei Täter handelt, wie wir unter der Hand vernommen haben. Ein Mann und eine Frau wahrscheinlich.«

»Das ist doch schon etwas, Leute.«

Im Grunde kam ihm jede Entwicklung gelegen, welche die Aufmerksamkeit vom Projekt weg lenkte. Der Betrieb musste weiterlaufen. Der materielle Verlust des Lagers war schmerzhaft aber nicht zu vergleichen mit dem Schaden, der bei einer längeren Unterbrechung entstünde. So gesehen sah es aus, als wären sie mit einem blauen Auge davongekommen.

»Da ist noch etwas, Chef«, sagte Kolbe.

Die Besorgnis in seiner Stimme war nicht zu überhören. Jansen schrumpfte um ein paar weitere Zentimeter, dass Schröder fürchtete, der junge Mann würde unter dem Tisch verschwinden.

»Es sind Dokumente aus dem Magazin verschwunden, Chef.«

Schröder spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten.

»Ich höre«, sagte er tonlos.

»Wir legen die Lieferscheine und Bohrprotokolle im Bürocontainer ab, bevor sie nach Leverkusen ins Archiv wandern«, erklärte Kolbe. »Ein Ordner mit sensitiven Daten ist nicht mehr auffindbar.«

»Vielleicht ist er verbrannt.«

»Unmöglich, das Feuer hat nicht auf den Container übergegriffen.«

Da war sie, die zweite Bombe, und sie detonierte mitten in seinem Sitzungszimmer. Gemüse aus Protest an Türen malen und Lagerhallen abfackeln war eine Sache, aber Betriebsgeheimnisse stehlen und womöglich veröffentlichen …

»Jetzt sind sie zu weit gegangen«, sagte er, stand auf und entschuldigte sich für einen Augenblick.

Außer Hörweite im Flur rief er seinen Mann für solche Fälle an.

»Wir haben ein Problem«, sagte er. »Die Freaks haben sensitive Dokumente mitlaufen lassen. Die dürfen auf keinen Fall an die Öffentlichkeit, sonst sind wir erledigt. Dann ist das schöne Projekt Geschichte. Also, was gedenkst du zu unternehmen?«

Die Stimme am andern Ende der Leitung klang erstaunlich zuversichtlich.

»Ich habe schon Lunte gerochen. Keine Sorge, Fabian, die kommen nicht weit mit den Papieren.«

»Du sprichst, als hättest du sie schon.«

»Ich habe einen Verdacht.«

»Sieh zu, dass er sich schnell erhärtet.«

Etwas optimistischer kehrte er ins Sitzungszimmer zurück. Sein Mann für besondere Aufgaben hatte ihn bisher noch nie enttäuscht – bisher.

»Keine Sorge, Leute, die Angelegenheit ist unter Kontrolle«, sagte er und schloss die Sitzung.

Der gläserne Turm des Verwaltungsgebäudes sollte wohl Transparenz und Macht des NAPHTAG Konzerns vermitteln und den Investoren Vertrauen einflößen. Emma ließ sich nicht beeindrucken. Alles Fassade, dachte sie, als sie die Empfangshalle betrat, die sich wie ein Atrium über fünf Stockwerke erstreckte. Die Angestellten am Empfang lächelten schon, als sie ein Anruf stoppte. Ihre Lebenspartnerin Maria hörte sich besorgt an.

»Du hast doch nichts mit dem Anschlag in Überlingen zu tun?«, fragte sie ohne Umschweife.

Emma dämpfte die Stimme und entfernte sich vom Empfangspult.

»Was fällt dir ein, Liebes. Du kennst mich doch.«

»Eben.«

»Jetzt ist ein ganz schlechter Zeitpunkt für Erklärungen. Ich bin gerade bei der NAPHTAG eingetroffen. Ich werde erwartet – vom obersten Boss persönlich. Das ist wichtig für meine Arbeit. Das verstehst du doch.«

»Du hörst dich allmählich an wie ein karrieregeiler Ehemann, dem die Arbeit wichtiger ist als die Familie.«

»Sei doch nicht gleich eingeschnappt. Du arbeitest auch fast rund um die Uhr in deiner Hexenküche.«

»Das nennt man Labor, und es ist eine wissenschaftliche Einrichtung, die nichts mit Hexerei zu tun hat. Nebenbei sind meine Kollegen gerade damit beschäftigt, Julian zu beschäftigen.«

Sie erschrak. »Wieso? Warum ist er nicht in der Kita?«

»Er hatte am Morgen leicht erhöhte Temperatur. Nichts Schlimmes, du kannst dich gleich wieder beruhigen. Es ist schon vorbei. Jetzt baut er mit seinen Holzklötzchen unser Labor nach.«

»Ich möchte ihm kurz Hallo sagen.«

Sie hörte, wie Maria mit dem Kleinen sprach, dann sagte sie lachend:

»Er lässt dir ausrichten, er sei jetzt bei der Arbeit und habe keine Zeit. Ich soll dich ganz lieb grüßen.«

Der Junge war erst fünf. Gab es womöglich doch ein Problem mit ihrem Lebenswandel als freie Journalistin?

»Du bist also bei der NAPHTAG«, sagte Maria.

»Ja, und ich muss jetzt …«

»Sei vorsichtig. Du betrittst die Höhle des Löwen. Das ist dir hoffentlich bewusst.«

Die Höhle eines Löwen wäre möglicherweise weniger gefährlich als die Teppichetage in diesem Turm, dachte sie, denn was sie mit dem Vorstandsvorsitzenden zu besprechen hatte, würde ihm kaum Freude bereiten. Nach dem Anschlag am Bodensee dürften die Nerven in der Konzernleitung ohnehin blank liegen, nahm sie an.