Der zweite Killer

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»Makrobiotisch«, erklärte er, »garantiert keine Chemie. Diese Riegel produziere ich selbst aus lauter natürlichen Zutaten.«

»So sehen sie auch aus«, murmelte sie undeutlich. »Natürlich, sagen Sie? Was ist denn da drin?«

»Es ist ein Geheimrezept«, sagte er stolz. »Bananen, Äpfel, Getreideflocken und vieles mehr.«

»Keine Chemie, soso. Sie essen also keine Glutaminsäure, kein Glyzin, Leuzin und keinen Methylbutylester?«

»Igitt, um Gottes willen, nein!«

»Dann dürfen Sie keine Bananen mehr verwenden, auch keine Äpfel. Die böse Chemie steckt nämlich da drin, zusammen mit etwa hundert andern Chemikalien, deren Namen Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben.«

Er hörte auf zu kauen und betrachtete den Rest des Riegels in seiner Hand wie Erbrochenes.

»Sind Sie sicher?«

»Ich bin vom Fach.«

Der Riegel verschwand in seiner Tasche. Sie konnte abfahren. Seidel blätterte stumm in seinen Notizen.

»Da kommt viel Arbeit auf uns zu«, stellte er nach einer Weile fest. »Zehn Alibis überprüfen, vier Befragungen stehen noch aus, und dieser Mr. Alvarez muss kontaktiert werden.«

»Sie sagen es, und was schließen Sie daraus?«

Er antwortete ohne Zögern: »Wir brauchen Verstärkung.«

Sie nickte, beeindruckt vom praktischen Nutzen der Fernsehkrimis.

»Mal sehen, wie die Beamtenhierarchie auf dieses Ansinnen reagiert«, murmelte sie und wollte die Freisprechanlage betätigen.

Sofie Neubauers Anruf aus der Zentrale des BND kam ihr zuvor.

»Treffer?«, fragte sie, den Puls auf 180.

»Ja, halt dich fest.«

Das Adrenalin trieb Chris den Schweiß auf die Stirn. Mit feuchten Händen lenkte sie den Wagen an den Straßenrand und hielt an.

»Es ist ein Zufallstreffer«, sagte Sofie. »Ich darf nicht verraten, woher wir die Information haben, aber die Übereinstimmung mit den Fingerabdrücken in deiner Mail beträgt nahezu hundert Prozent.«

»Irrtum ausgeschlossen?«

»Ausgeschlossen. Die Abdrücke stammen von einem ehemaligen Soldaten der US-Navy, Lieutenant David Martinez.«

»Wer sagt’s denn!«, rief sie ins Telefon. »Anschrift und Telefonnummer des Herrn Martinez kennt ihr sicher auch noch?«

»Lieutenant David Martinez ist vor zehn Jahren in der Provinz Helmand in Afghanistan gefallen.«

Eine lange Pause entstand, während Chris versuchte, die unglaubliche Information zu verarbeiten.

»Bist du noch dran?«

»Ja – ja, klar, aber das kann nicht sein.«

»Ist aber so.«

»Die Fingerabdrücke sind keine zehn Jahre alt. Die sind neu, eine, zwei Wochen vielleicht.«

»Kann nicht sein«, murmelte Sofie nun ihrerseits.

»Sag ich ja.«

Wieder entstand eine Pause, bis Sofie unterbrach:

»Ich kann nur wiederholen: Die Übereinstimmung beträgt 99%. Der Rest ist wohl dein Problem. Ich drücke dir alles, was ich an Daumen besitze.«

»Ein Mord aus dem Jenseits«, fasste Seidel wie immer korrekt zusammen.

Am nächsten Morgen standen sie vor dem Eingang zur Pathologie in der Charité. Seidel, blasser als üblich, machte keine Anstalten, auch nur einen weiteren Schritt zu tun ohne seine Beschützerin.

»Gehen Sie schon vor«, sagte Chris, als ihr Handy klingelte.

Das Schild an der Tür der Leichenhalle beschäftigte ihn so sehr, dass er ihre Aufforderung überhörte und selbst in Leichenstarre verfiel. Es war seine erste Leichenschau.

Die Winter war am Apparat.

»Damit erübrigt sich Ihr Antrag auf Verstärkung, nehme ich an«, sagte die Staatsanwältin.

»Wie muss ich das verstehen?«

»Kommen Sie! Es liegt doch auf der Hand, dass niemand von der Belegschaft als Täter infrage kommt, nachdem die Fingerabdrücke eindeutig auf David Martinez hinweisen.«

»Glauben Sie an Gespenster?«, fragte Chris gereizt. »Ich muss Sie darauf hinweisen, dass David Martinez seit zehn Jahren tot ist.«

»Dieses Rätsel müssen Sie lösen.«

Chris schnaubte innerlich. »Eben, und deshalb müssen wir alles verifizieren, was uns erzählt wird. Das braucht Zeit und Ressourcen. Wir dürfen uns in so einem heiklen Fall keine Nachlässigkeit erlauben. Das ist doch nur in Ihrem Sinn, nicht wahr?«

»Vor allem brauchen wir schnell Resultate«, brummte die Staatsanwältin. »Das Opfer war ein hoch dekorierter amerikanischer Elitesoldat, ein Navy SEAL, wie uns die zuständigen Stellen versichern. Mr. Jones soll in den USA mit allen militärischen Ehren bestattet werden. Die wollen seinen Leichnam unverzüglich.«

»Zuerst wird ihm der Pathologe die Ehre erweisen«, entgegnete Chris trocken. »War das alles?«

Sie öffnete die Tür und bedeutete Seidel, einzutreten. Er zögerte.

»Hereinspaziert, Herr Referendar«, ermunterte sie ihn. »Es wird schon nicht schlimmer sein als Ihr Riegel.«

Eddie Jones lag auf dem Stahltisch, als hätte er sich glücklich von dieser Welt verabschiedet. Der Rechtsmediziner wiederholte, was er schon am Tatort festgestellt hatte:

»Ein präziser Gnadenschuss. Der Schusskanal verläuft von der Mitte der Stirn schräg nach unten zum Cerebellum, dem Kleinhirn. Das Opfer war sofort tot. Die Waffe war nicht aufgesetzt. Aufgrund der Verletzungen gehen wir davon aus, dass der Schuss aus achtzig bis hundert Zentimeter Entfernung abgefeuert worden ist. Es braucht eine sehr ruhige und geübte Hand dazu.«

»Die SEALs sind Killermaschinen«, murmelte Seidel tonlos.

Chris musste schmunzeln. »Das erklärt ja alles.«

»Echt jetzt. Die SEALs sind die Elite der Elite. Denken Sie an Bin Laden.«

»Ich werde es mir merken«, versicherte sie.

Der Pathologe unterbrach den geistreichen Dialog:

»Möchten Sie wissen, was wir in Mr. Jones‘ Blut und Magen gefunden haben?«

»Nicht wirklich, aber Sie werden es uns trotzdem sagen.«

»So ist es. Es könnte durchaus wichtig sein. Das Opfer hat in letzter Zeit häufig Cannabis konsumiert. Sie werden es kaum glauben, aber ich habe Anzeichen von Unterernährung festgestellt. Der Mann litt an einer schweren und offenbar langwierigen Gastroenteritis.«

»Eine Magen-Darm-Infektion! Was verstehen Sie unter schwer?«

»Seine Nieren sind geschädigt. Ohne intensive Behandlung in einer Klinik wäre Mr. Jones daran gestorben.«

Die Äußerung des Pathologen stand in krassem Widerspruch zum Ausdruck des Friedens auf dem Gesicht des Toten. Tödliche Krankheit, Drogenkonsum: Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die neue Information einordnen sollte. Der Arzt war noch nicht fertig:

»Die Ursache der Infektion sind gram-negative Pathogene.«

Seidel zückte sein Smartphone.

»Das ist eine Leichenhalle, junger Mann«, belehrte ihn der Pathologe, »hier wird nicht telefoniert.«

Kaum hatten sie das Haus verlassen, platzte ihr Referendar heraus:

»Ich wollte nur nachsehen, was gram-negativ bedeutet.«

»Was, Sie wissen das nicht? Warum haben Sie nicht gefragt?«

Damit ließ sie es bewenden. Sie selbst konnte sich nichts unter dem Begriff vorstellen, aber ihr privates Wikipedia hieß Jamie, war Arzt und würde sie bald erschöpfend über gram-negative Pathogene aufklären. Seidel sprach kein Wort während der Fahrt zurück zum Treptower Park. Möglicherweise bedrückten ihn ähnliche Gedanken wie sie. Eddie Jones musste unter großen Schmerzen gelitten haben. Das könnte den erhöhten Konsum von Haschisch erklären und den friedlichen Gesichtsausdruck. Der Tod als Erlöser. Wieso beendete er seine Qualen nicht selbst, wenn er keinen Ausweg mehr sah? Vielleicht war ihm der Täter nur zuvorgekommen. Hatte er sich deshalb nicht gewehrt? Die schwere Krankheit des Opfers warf ein neues Licht auf den Fall, doch Eddie Jones blieb ihr auch nach dem Bericht des Pathologen ein Rätsel.

Sie saß noch keine Minute am Schreibtisch, als Seidel auf sie zutrat und sich umständlich räusperte. Leise, als wagte er es nicht auszusprechen, sagte er:

»Chef – ich glaube, wir haben etwas übersehen.«

Weiter kam er nicht. Staatsanwältin Winter platzte herein.

»Neues vom Phantomkiller?«

Chris schüttelte den Kopf. »Nicht vom Täter aber vom Opfer.«

Das Stichwort Cannabis elektrisierte Winter.

»Drogen?«, rief sie aus. »Dem müssen Sie sofort nachgehen. Schalten Sie die Drogenfahndung ein, dann haben Sie Ihre Verstärkung.«

Sie rauschte hinaus, beflügelt von der neuen Entwicklung.

»Gut, sehr gut«, hörte Chris, bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Seidel nahm einen neuen Anlauf. Diesmal unterbrach ihn Jens Haase, der vorsichtig ins Zimmer spähte. Als er sah, dass die Luft rein war, trat er ein.

»Schlechte Nachrichten, fürchte ich«, meldete er. »Der Kollege des Opfers, Diego Alvarez, ist bis jetzt nicht aufzutreiben. Es sind jede Menge Anfragen bei Fluggesellschaften und Flughäfen am Laufen, inklusive eines offiziellen Unterstützungsantrags ans Oberkommando in Ramstein. Bisher herrscht Funkstille.«

»Was ist mit seiner Wohnung, den Nachbarn?«

»Negativ. Mr. Alvarez zieht es vor, nur eine Postfachadresse zu haben. Die Post kennt natürlich die richtige Anschrift, gibt aber nur mit gültigem Gerichtsbeschluss Auskunft. Ich habe es versucht, aber der Richter stellt sich quer, da Mr. Alvarez nicht mehr zum engen Kreis der Verdächtigen gehöre.«

»Nicht zum engen Kreis der Verdächtigen!«, brauste sie auf. »Was für ein Schwachsinn. Ich fasse es nicht. Aber danke, Herr Haase, kümmern wir uns eben selbst darum, sobald wir Zeit haben.«

»Ich könnte unsere IT einschalten.«

Die vom Bund lizenzierten Hacker, meinte er. Sie nickte ihm lächelnd zu und schwieg fürs Protokoll.

 

»Jetzt aber zu Ihnen, Seidel. Was haben wir übersehen?«

»Also – so absolut habe ich es nicht formuliert.« Er hüstelte verlegen, bevor er fortfuhr: »Die Krankheit unseres Opfers hat mich daran erinnert. Unter den Asservaten aus der Wohnung des Toten befindet sich eine leere Medikamentenschachtel. Falls es sich um ein rezeptpflichtiges Präparat handelt, finden wir so vielleicht den Arzt …«

»Seidel, aus Ihnen wird noch ein guter Schnüffler«, unterbrach sie schmunzelnd. »Welche Nummer ist es?«

»Zwölf.«

Das Beweisstück Nummer zwölf aus Eddie Jones‘ Abfalleimer erschien auf ihrem Bildschirm, sauber abgelichtet von allen Seiten.

»Neomycin«, las sie laut. »Es handelt sich wohl um ein Antibiotikum.«

»Ich kann das abklären«, sagte Seidel, bereit zum Sprung an den Computer.

»Nein, warten Sie, wir fragen den Fachmann.«

Sie drückte die Kurzwahltaste 1 auf ihrem Handy. Jamie antwortete nach dem ersten Klingelton:

»Dienstlich oder privat?«

»Dienstlich«, sagte sie und schaltete auf Lautsprecher. »Neomycin, sagt dir das etwas?«

»Hast du Durchfall?«, fragte er bestürzt. »War das Soufflé nicht in Ordnung? Warst du beim Arzt?«

Sie brach in Gelächter aus. »Dienstlich, sagte ich, beruhige dich. Ich möchte nur mehr über dieses Medikament erfahren.«

»Gott sei Dank. Mit Durchfall ist nämlich nicht zu spaßen. Ich kann ein Lied davon singen, wie du weißt. Neomycin ist ein weitverbreitetes Antibiotikum. Es wird üblicherweise bei Infektionen durch gram-negative Bakterien verschrieben, zum Beispiel Escherichia Coli. Allgemein wirkt es gegen aerobe Bakterien, nur in Ausnahmefällen gegen anaerobe Keime.«

»Man verschreibt es also zum Beispiel bei Gastroenteritis?«

»Ja, sicher, bei schweren Fällen.«

Sie las Dosierung und Konzentration von der Packung ab.

»Good Lord! Das ist starker Tobak. Der arme Kerl, der so etwas braucht, muss sehr krank sein. Zudem ist die Einnahme in dieser Konzentration über einen längeren Zeitraum gefährlich. Neomycin greift die Nieren an – unter anderem.«

Das passte zum Obduktionsbefund. Eddie Jones musste über längere Zeit starke Dosen des Präparats geschluckt haben. Warum war so ein schwerer Fall nicht in stationärer Behandlung?

»Danke, Dr. Roberts. Dr. Roberts möchte sich später ausführlich mit Ihnen darüber unterhalten.«

»Lassen Sie sich einen Termin geben«, lachte er. »Ich kann es kaum erwarten.«

Seidel hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er saß vor seinem Bildschirm, schnitt unmögliche Grimassen, als wäre es ein Spiegel, klimperte auf der Tastatur und stöhnte schließlich erleichtert auf.

»Brauchen Sie ein Neomycin?«, fragte sie.

Er blickte sie verwirrt an, bis er die Ironie verstand. »Ach so – nein, aber sehen Sie sich das bitte einmal an.«

Er hatte den Aufkleber der Packung im Computer bearbeitet, die fehlende Ecke digital ergänzt, sodass die Herkunft des Neomycins nun klar lesbar war:

1st Lt. Matt Fisher, MD

LRMC, Germany

»LRMC ist das Kürzel für ›Landstuhl Regional Medical Center‹«, erklärte er mit geschwellter Brust. »Es ist das größte Lazarett der US Streitkräfte außerhalb der USA.«

Sie klopfte ihm auf die Schulter, dass er zusammenzuckte wie von 10’000 Volt getroffen. Ihre Ermittlungen hatten sich eben auf das Bundesland Rheinland-Pfalz und das Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika ausgedehnt. Sie freute sich jetzt schon auf den Schlagabtausch mit der Staatsanwaltschaft.

Jamie unterhielt sich am Stehtisch vor seinem Labor mit einer jüngeren Kollegin, als Chris überraschend am BCRT auftauchte. Die kleine Schwarzhaarige war ein ausgewachsener Scherzkeks, nach Jamies fröhlichem Gesicht zu urteilen. Der Ring an ihrem Finger beruhigte Chris nur halbwegs. Jamie trug auch einen.

»Was treibt ihr eigentlich den ganzen Tag in diesem Institut?«, fragte sie misstrauisch.

»Wenn wir nicht gerade am Flirten sind, meinst du? Ich will es mal so formulieren: Womit die andern ihre Zeit verbringen, habe ich noch nicht herausgefunden. Ich selbst stecke gerade mitten in der Arbeit an regenerativen Therapien des kardiovaskulären Systems.«

»Das sieht man.«

Unverschämt grinsend blickte er dem Po der Kollegin nach und fragte:

»Möchtest du eine kompetente Führung?«

»Nein, danke, aber vielleicht ein Glas Wasser. Kann man hier irgendwo sitzen?«

Sie nahm auf seinem Schreibtisch Platz, um ihr Territorium zu markieren. Die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht. Halb neugierig, halb betroffen, fragte er:

»Dein Fall ist ein medizinisches Rätsel, nicht wahr?«

»Was bedeutet gram-negativ?«

»Bakterien nennt man gram-negativ, wenn sie sich nicht mit Triphenylmethan einfärben lassen. Das liegt am Aufbau ihrer Zellmembran, der sie zum Beispiel resistent macht gegen Penicillin. Gram-negative Bakterien zeigen allgemein eine zunehmende Resistenz gegen Antibiotika aller Art.«

»Ist das nicht beunruhigend?«

»Und wie! Die Medizin muss stets gröberes Geschütz auffahren, und manchmal hilft auch das nicht mehr, ganz zu schweigen von den Nebenwirkungen.«

»Zum Beispiel Schädigung der inneren Organe.«

»Wie bei deinem Fall? Das Neomycin?«

Sie nickte. Auch ohne über den Fall zu sprechen, wussten beide, worum es ging.

»War das Opfer, dieser US Soldat, in klinischer Behandlung?«

»Eben nicht, das ist eines der Rätsel.«

Jamies nächste Bemerkung erwischte sie kalt:

»Falls doch, müsste ich wissen, in welcher Klinik.«

»Wieso denn das?«

Er blieb die Antwort schuldig, meinte nur:

»Ohne pathologische Analyse lässt sich nicht viel sagen.«

»Im Obduktionsbefund steht nichts Genaues.«

»Das wundert mich nicht. Für solche bakteriologischen Untersuchungen braucht es Speziallabors.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel das Robert-Koch-Institut. Mein Kollege Arne Schulz arbeitet dort als Infektionsepidemiologe. Der kennt jeden Bakterienstamm.«

Sie fasste einen schnellen Entschluss. »Komm mit, es ist nicht weit zur Pathologie.«

»Was, jetzt? Da gibt‘s nur noch Tote um diese Zeit.«

»Umso besser.«

Wie erwartet, fanden sie die Räume der Rechtsmedizin in der Charité verlassen vor.

»Willst du seine Leiche stehlen?«, fragte Jamie nicht zum ersten Mal.

Das schlechte Gewissen war seinen großen Kulleraugen anzusehen. Sie hatte ein gewisses Verständnis dafür. Ihr war auch nicht ganz wohl bei der Sache. Ihr Vorhaben verstieß bestimmt gegen ein Dutzend Paragraphen, die Referendar Seidel spontan zitieren müsste: unbefugtes Betreten, Störung der Totenruhe, Leichenschändung …

»Es wird wohl nicht nötig sein, den Leichnam zu entführen«, sagte sie. »Wir beschaffen uns nur eine Probe etwas schneller, ohne Papierkram und lästige Diskussionen.«

Er zuckte resigniert mit den Schultern. »Du bist die Polizei.«

Dankbar für ihren leeren Magen, betrat sie die Leichenhalle. Der Geruch nach Tod und Formalin löste jedes Mal Würgereiz aus. Nach kurzem Suchen fand sie das Fach mit Eddie Jones Mageninhalt. Sie zeigte Jamie das Fläschchen und flüsterte:

»Genügt das?«

In diesem Augenblick ging das Licht aus. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Stahltür. Schritte entfernten sich draußen im Flur. Ihr Puls schoss an die Decke.

»Halt, aufmachen!«, rief sie aus Leibeskräften.

Zu spät. Atemlos hetzte sie in der Finsternis durch die Halle, stieß sich an Tischkanten. Eine Schale fiel scheppernd zu Boden, bevor sie endlich den Türgriff erreichte. Verschlossen. Sie rief lauter, polterte mit den Fäusten ans Metall, getrieben von der Vorstellung einer Polarnacht unter Leichen. Jamie war schon gestorben. Er rührte sich nicht. Kein Ton war von ihm zu hören. Sie tastete nach dem Lichtschalter und lauschte. Es blieb still, aber wenigstens konnten sie jetzt die zwei neuen Leichen auf den Tischen wieder sehen. Sie hämmerte weiter an die Tür. Hämmerte, lauschte, hämmerte, lauschte, bis sich endlich Schritte näherten. Das Schloss knackte. Die Tür ging auf.

»Jesus Maria!«

Die Frau mit den grünen Gummihandschuhen sprang zur Seite, blasser als die Kunden in der Halle. Chris weckte Jamie mit einem scharfen Ruf aus der Totenstarre, dann schwenkte sie ihren Ausweis und sagte zur Reinigungskraft:

»Weitermachen!«

Ihr Gemahl fand die Sprache erst im Auto wieder.

»Das nächste Mal ohne mich oder mit Formular«, brummte er. »Meine Nerven sind zu schwach für solche Übungen.«

»Das war nicht zu übersehen«, grinste sie. »Aber wir haben die Probe.«

»Dr. Schulz wird sich freuen.«

Dr. Fisher am Regional Medical Center in Landstuhl war ein viel beschäftigter Mann, telefonisch nur für eine Terminvereinbarung zu sprechen und auffallend schweigsam beim Stichwort Eddie Jones. Das Lazarett gehörte zum Territorium der Vereinigten Staaten, tabu für den deutschen Justiz- und Polizeiapparat. Eine Unverschämtheit und ein lächerlicher Anachronismus in Chris‘ Augen.

Im Gegensatz zu den Kollegen der Drogenfahndung betrachtete sie die Aktion rund ums alte Asylheim als unnötige Zeitverschwendung. Sie wartete mit Seidel ein paar Straßen weiter im Wagen, mehr mit dem Handy als mit den Vorgängen draußen beschäftigt. Das Funkgerät schwieg schon geraume Zeit. Außer einer Krähe mitten auf der Straße bewegte sich nichts. Seidel rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her.

»Worauf warten die alle?«

»Auf die Dealer«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Eine uniformierte Streife scheucht sie auf, die Fahnder in zivil verfolgen sie in ihre Löcher und fangen sie ab.«

»Raffiniert«, murmelte er. »Warum macht man es nicht immer so, wenn es so einfach ist?«

»Eine Frage des Aufwands.«

Kaum gesagt, kam Bewegung auf, als erwachte das ganze Viertel mit einem Schlag aus dem Tiefschlaf. Gestalten in Anoraks und Hosen unter der Gürtellinie rannten über die Straße, flüchteten auf Fahrrädern oder suchten Deckung in dunklen Hauseingängen, wo sie die Beamten empfingen. Kleinkriminelle, dachte Chris verächtlich, als ein BMW um die Ecke bog und direkt auf sie zuschoss, die Krähe beinah erwischte und in einer Seitenstraße verschwand. Verfolger waren keine in Sicht.

»Worauf warten Sie, Seidel? Los, hinterher!«

Über Funk gab sie Position und Fahrtrichtung durch. »Verfolgen verdächtiges Fahrzeug, silbergrauer BMW Z4, Kennzeichen Berlin SV, Rest unbekannt.«

Sie verloren das Fluchtauto aus den Augen, bevor sie das Blaulicht montiert hatte. Zum ersten Mal hörte sie einen Fluch aus Seidels Mund. Er lief rot an, nahm den Fuß vom Gas und fragte kleinlaut:

»Was nun?«

»Jetzt beruhigen wir uns, machen Meldung und drücken den Kollegen in den Streifenwagen die Daumen.«

Sie fuhren zurück zum Treptower Park. Nach und nach trafen die Anoraks zur Vernehmung ein. Die Kandidaten, Teenager mit Migrationshintergrund und ein besonders cooles Paar vornehmer deutscher Gymnasiasten, trugen wie erwartet nichts zur Lösung ihres Falles bei. Nach kurzer Befragung überließ sie die Leute der Drogenfahndung.

Eine Streife in Marzahn stoppte den Z4 in unmittelbarer Nähe eines Drogenlagers, keine fünfhundert Meter Luftlinie von Eddie Jones‘ Wohnblock entfernt. Die Drogenfahndung reagierte mit Begeisterung. Der Fahrer des BMW, ein arbeitsloser Schnösel aus gutem Haus, von Beruf Sohn, entpuppte sich als lang gesuchter Mittelsmann einer Autoschieberbande, die nebenbei Marihuana und Heroin vertrieb. Die sichergestellte Menge an Betäubungsmitteln reichte, um den jungen Herrn für mindestens fünf Jahre aus dem Verkehr zu ziehen, immerhin. Chris hörte schon die Korken knallen, aber all das interessierte sie nicht, als sie ihm gegenübersaß. Sie schob ein Foto von Eddie Jones über den Tisch.

»Kennen Sie diesen Mann?«

Er würdigte das Bild keines Blickes, fuhr stattdessen ungeniert fort, sie mit den Augen auszuziehen. Sie hielt ihm das Bild vor die Nase.

»Hier gucken, Mann auf Foto!«

»Leck mich!«

»Lassen Sie mich die Frage anders formulieren. Wann haben Sie diesem Mann zum letzten Mal Gras verkauft?«

Er starrte schweigend auf ihre Brüste.

»Körbchengröße B. Sie werden bald viel Zeit haben, davon zu träumen.«

»Leck mich!«

Sie gab vor, seine Akte zu studieren. Eine Weile herrschte eisiges Schweigen, dann schüttelte sie den Kopf und murmelte:

 

»Mann, Mann, da kommt ganz schön was zusammen.«

Kurz vor dem dritten »Leck mich« klappte sie die Akte zu, sah ihm in die Augen und sagte lächelnd:

»Aber wissen Sie was? Das ist alles noch gar nichts gegen eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord.«

Er sprang fluchend auf.

»Setzen!«

Seine Schimpftirade prallte an ihr ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Als er wieder auf den Stuhl sank, sprach sie ruhig weiter:

»Unsere Techniker werden Ihre Fingerabdrücke auf jeder Tüte nachweisen, die Sie diesem Mann verkauft haben. Das wissen Sie so gut wie ich. Jetzt ist dieser Mann tot, ermordet. Was glauben Sie, werden wir daraus schließen, wenn wir auch nur eine Hautschuppe von Ihnen an seiner Leiche oder Kleidung finden?«

Sie befand sich auf sehr dünnem Eis. Die Mischung aus Spekulation und Fakten war gefährlich, aber sie zeigte Wirkung. Die Zeit wurde knapp. In wenigen Minuten würden die teuren Anwälte des Herrn Papa eintreffen und ihr Spiel sofort beenden. Sie musste vorher wissen, in welcher Beziehung er zu Eddie Jones stand. Diesmal wollte er sich lang nicht beruhigen. Ungeduldig verfolgte sie den Sekundenzeiger der Wanduhr, bis er endlich schwieg.

»Wie gesagt, es sieht gar nicht gut aus für Sie. Vielleicht haben Sie ja tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun, wer weiß? Solang Sie uns allerdings nicht genau sagen können, wann und wo Sie zuletzt Kontakt mit dem Mann auf dem Foto hatten, müssen wir vom Schlimmsten ausgehen. Das verstehen Sie doch?«

Beim Stichwort Mord fiel die Maske des hartgesottenen Ganoven. Blankes Entsetzen starrte ihr entgegen. Er vergaß die Anwälte und begann zu reden. Seine Intelligenz reichte aus für die Einsicht, den Handel mit Drogen nicht weiter zu leugnen. Eddie Jones hatte ihn beim Dealen auf dem Parkplatz seines Wohnblocks erwischt und ihm selbst einen Deal angeboten. Anstatt ihn anzuzeigen oder windelweich zu klopfen, gab er sich mit einer Tüte Gras zufrieden und dem Versprechen, hin und wieder für Nachschub zu sorgen und die Kids im Block in Ruhe zu lassen.

»Und sie sind darauf eingegangen?«, fragte Chris leicht verwundert.

Er lachte bitter auf. »Wenn du so eine Klaue an der Gurgel hast, gehst du auf jeden Deal ein.«

»Er hat sie also erpresst?«

»Schwachsinn. Er hat mich nicht kalt gemacht, so sehe ich das. Der Kerl ist – war brandgefährlich. Ein falscher Blick, und du bist Geschichte.«

»Sein Tod kommt Ihnen also sehr gelegen.«

»Ich habe nichts mit seinem Tod zu tun, verfluchte Scheiße!«

Chris glaubte es ihm aufs Wort. Ein Elitesoldat wie Eddie Jones stellte solche Angeber ruhig, bevor sie »Leck mich« sagen konnten.

»Warum soll ich meine Kunden umbringen?«, fuhr er atemlos fort. »Er hat ja sogar angefangen, mich zu bezahlen.«

»Ach, das ist ja nett, und deshalb haben Sie ihm das Gras sogar ins alte Asylheim geliefert?«

Er erschrak. Es arbeitete lange hinter seiner Stirn, bis er zugab, einmal am Asylheim gewesen zu sein. Die Hautschuppen, dachte Chris erleichtert. Der Bluff wirkte. Die letzte Begegnung mit Eddie Jones fand zwei Tage vor der Tat statt. Sie saß nicht dem Täter gegenüber, so viel stand endgültig fest. Aber der Dealer hatte beobachtet, wie Eddie Jones in der Bauruine verschwand.

»Ich glaube, der hat da irgendwo im verdammten Keller gewohnt«, sagte er.

Es war seine letzte Aussage, die Chris aufnahm. Nach kurzem Disput mit Staatsanwältin Winter überstellte sie ihn an die Kollegen von der Drogenfahndung.

Eine Stunde später wusste sie, wo Eddie Jones seine letzten Tage und Nächte verbracht hatte. Das angesengte Arzneirezept und die Reste einer Packung Neomycin in der kalten Asche des Kohleofens im alten Asylheim sprachen eine deutliche Sprache. Der Name des Arztes und seine Unterschrift waren gut auf dem Rezept zu lesen: 1st Lt. Matt Fisher, MD, LRMC. Verblüfft betrachtete sie das Datum. Das Rezept war erst vor einem Monat ausgestellt worden.

Basislager

Mitternacht war vorbei. Fast alle Lichter am Ufer waren erloschen. Sein Schlauchboot, nicht mehr als ein grauer Fleck im schwarzen Fluss, trieb geräuschlos auf die Böschung zu. An der Anlegestelle herrschte beinahe totale Finsternis, ideal, um unbemerkt ins Basislager zu gelangen. Nicht zuletzt deswegen hatte er diese Wohnung vor Jahren instinktiv ausgewählt. Manche Dinge verlernt man nie. Er brauchte kein Licht. Das Nachtsichtgerät an seinem Helm machte die Nacht zum Tag. Kein Nachbar, kein zufälliger Passant würde eine verdächtige Bewegung im Basislager entdecken.

Wohnschlafzimmer und Kochnische waren bereits geräumt. Trotzdem durchstreifte er noch einmal die Zimmer, um sicher zu sein, nichts Wichtiges übersehen zu haben. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme in diesem Teil der Welt, aber Afghanistan hatte ihn gelehrt, dass jede vergessene Colaflasche den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte. Die Sporttasche stand auf dem Klosettdeckel bereit für die neue Mission. Er schob den Schrank neben der Dusche beiseite und löste das Stück Wandverkleidung, um an die Kiste mit seiner Ausrüstung zu gelangen. Die Kontrolle verlief schnell und automatisch, dank der Checkliste, die sich seit dem ersten Einsatz in sein Gehirn eingebrannt hatte.

Papiere, Bargeld: check.

Taschenlampe aufgeladen: check.

Messer, die Winkler fixed-blade, kein unzuverlässiges Stellmesser-Spielzeug für Amateure: check.

Bolzenschneider bis 1.5 cm: check.

Gerber Flik Universalwerkzeug, Verbandszeug, zwei Aderpressen, Wasser, Nachos: check.

Beretta, Schalldämpfer, 45 Schuss, M4 Karabiner, 30 Schuss mit Ersatzmagazin: check.

Die Maschinenpistole in seiner Hand lähmte ihn für einen Augenblick. Das Brummen des Humvees in den Ohren, den Staub des ausgetrockneten Flussbetts in der Nase, erwartet er jeden Moment den Blitz und den dumpfen Knall der Tellermine. Brennende Trümmer des vorderen Jeeps regnen auf die Grupe herab. Zwei Kameraden fallen. Einer hat Glück. Er verliert nur die Beine.

Seine Hand zitterte. Er ließ den Karabiner in die Tasche fallen und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Unbemerkt, wie er gekommen war, verließ er das Basislager zum letzten Mal. Er ließ das Boot eine Weile den Fluss hinunter treiben, bevor er den Motor startete. Ohne einen Blick zurück verschwand er in der Dunkelheit.

Berlin

Eine zweite, senkrechte Falte bildete sich auf Staatsanwältin Winters Stirn.

»Was versprechen Sie sich davon? Uns sind die Hände gebunden. Beim Grenzzaun des amerikanischen Lazaretts hört unsere Staatsmacht auf. Das ist Ihnen doch bewusst?«

Chris zuckte mit den Achseln. »Der Termin bei Dr. Fisher steht fest. Er hat vor einem Monat das vielleicht letzte Antibiotikarezept für unser Mordopfer ausgestellt. Grund genug, mich mit dem Herrn zu unterhalten, finden Sie nicht? Ich brauche nicht zu betonen, dass Dr. Fisher bisher die einzige Verbindung zu Eddie Jones ist, die uns vielleicht Hinweise auf den Täter liefert.«

Die Staatsanwältin wandte sich kopfschüttelnd ab. »Wenn Sie das vermasseln, kann Ihnen auch Herr Oberstaatsanwalt Dr. Richter nicht mehr helfen.«

Daher stammte also Winters latente Abneigung ihr gegenüber. Der einflussreiche Oberstaatsanwalt Dr. Richter hieß bei ihr Hendrik, seit er mehr oder weniger durch Zufall ihr Trauzeuge geworden war. Falls die Winter glaubte, sie spiele diese Karte … Sie spürte, wie die Adern an den Schläfen anschwollen, doch es blieb keine Zeit, sich angemessen zu ärgern. Jamie rief an, und er klang noch aufgeregter.

»Du musst sofort herkommen! Es ist – for God‘s sake – es ist einfach unglaublich.«

»Was ist geschehen? Bist du O. K.?«

»Du musst herkommen. Das musst du sehen!«

»Verrätst du mir wenigstens, wohin ich kommen soll?«

Aufgrund der Baustellen entschied sie sich für die S-Bahn. Es dauerte dennoch geschlagene fünfzig Minuten, bis sie das Büro im Robert-Koch-Institut betrat. Jamie und sein Kollege, der Immunologe Arne Schulz, empfingen sie mit versteinerten Gesichtern.

»Mein Gott, du siehst aus, als wäre dein Auflauf kollabiert.«

»Chris, das ist nicht lustig.«

»Können wir bitte zur Sache kommen?«, warf Dr. Schulz ein. Er wandte sich an sie. »Ihre Probe aus der Pathologie enthält gram-negative Bakterien.«