Station 9

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Station 9

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg

Station 9

Der 8. Fall mit BKA-Kommissarin Chris

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-200-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-698-1

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1665847021, 1346645870

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Wien

»Die üblichen Spinner«, sagte jemand hinter ihnen. »Die hätten damals auch gegen die Erfindung des Rads protestiert.«

Jamie blieb abrupt stehen. Chris verlor um ein Haar das labile Gleichgewicht auf den High Heels. Ihr Kommentar war noch nicht spruchreif, da lagen sich die beiden Männer lachend in den Armen.

»Nick, Gosh! Alter Schwede! Was hast du hier verloren?«

»Ich bin auch Mediziner, schon vergessen?«, lachte der Fremde.

Nicks Begleiterin, ebenso verwundert über die ungestüme Begrüßung, wechselte einen amüsierten Blick mit ihr. Die Männer schien nicht im geringsten zu stören, dass sich das Volk am Eingang zum Billrothhaus am Schottentor zu stauen begann. Die Transparente rückten näher, die Schlachtrufe der Demonstranten wurden lauter:

»Gentechnik Nein!«, »Pfuscht nicht an unseren Genen herum!«, »Spielt nicht Gott!«

Eine Gruppe junger Leute, die sich vom Fußballstadion hierher verirrt haben mussten, begann dröhnend auf ihren Tröten zu blasen. Kontraproduktiv, dachte sie. Niemand verstand mehr, was die aufgebrachte Menge skandierte.

Die beiden Männer hatten vergessen, was um sie herum geschah. Nicks Begleiterin, ungefähr in ihrem Alter, groß und doch zierlich, als schwebte sie, prominente Nase im Gesicht aus ›Tausendundeine Nacht‹, zog sie ungeniert aus mit ihren dunklen Augen. Ohne von ihr abzulassen, klopfte sie Nick auf die Schulter.

»Willst du uns nicht vorstellen?«

Jamie kehrte in die Gegenwart zurück.

»Ich denke, das sollten wir besser drinnen im Foyer tun.«

Seine Bemerkung brach den Bann.

»Ausgezeichnete Idee«, sagte sie aufatmend wie nach einer unblutig endenden Festnahme.

Über dem Eingang prangte ein Transparent, das die Kongressteilnehmer mit goldenen Lettern in der internationalen Sprache der Wissenschaft willkommen hieß: Welcome to the 1st Vienna Congress on Medical Genetics. Einige Demonstranten verstanden das als Einladung, worauf die Wiener Polizei bewies, dass auch sie im Zeitalter der Globalisierung angekommen war und die ungebetenen Gäste mit roher Gewalt zurückdrängte.

Namensschild am Jackett, Sektglas in der Hand, stellte Nick sich und seine Begleiterin vor. Dr. Niklaus von Matt, stand auf seinem Schild. Ein Mediziner wie ihr Ehemann Jamie, was sonst.

»Diese bezaubernde Dame ist Dr. Mona Saatchi, die wichtigste Stütze meiner Klinik«, sagte er stolz, als hätte er sie erschaffen.

Sein Gesicht strahlte dabei noch heller, der Mund lächelte sein ansteckendes Lächeln. Er würde das freundliche Gesicht selbst dann nicht verlieren, wenn sich sein Fallschirm nicht öffnete, schätzte sie.

»Mona ist ein Geschenk des Himmels«, fügte er hinzu. »Manchmal zweifle ich, ob es mich noch braucht im OP.«

»Habe ich mich auch schon gefragt«, grinste Mona. »Dr. Christiane Roberts«, las sie laut von ihrem Namensschild.

Sie gab ihr die Hand und hielt sie fest, bis Jamie einfiel, auch sprechen zu können.

»Das ist Chris, meine bessere Hälfte.«

»Jamie Roberts, der Einsiedler, hat geheiratet!«, platzte Nick heraus. »Nicht zu fassen.« Zu ihr gewandt, murmelte er. »Wie konnten Sie nur auf den hereinfallen?«

»Er kocht sehr gut.«

»Das erklärt natürlich alles.«

Das verbale Techtelmechtel endete abrupt mit dem Aufruf an die verehrten Referenten, sich bitte in der kleinen Bibliothek zur Besprechung einzufinden.

»Das gilt wohl auch für mich«, seufzte Jamie. »Darf ich euch allein lassen?«

»Gerne«, antwortete Mona etwas zu schnell.

Zu dritt suchten sie freie Plätze in den vorderen Reihen des Festsaals. Hin- und hergerissen zwischen Fluchtreflex und dem Verlangen, mehr über die freche Mona zu erfahren, setzte Chris sich neben sie.

»Doktor von Matt!«

Nick, noch im Gang stehend, drehte sich überrascht um.

»Ja – kennen wir uns?«

»Und ob!«

Im nächsten Atemzug hatte der Unbekannte Nick im Würgegriff. Seine Pistole zielte auf die Schläfe des Arztes.

»Sie tun jetzt genau, was ich sage«, zischte ihm der Angreifer ins Ohr.

Allmählich begriffen die Umstehenden, was sich abspielte. Mona sprang entsetzt auf.

»Ruhig bleiben. Setzen Sie sich«, befahl Chris.

Sie gehorchte mechanisch, mit offenem Mund auf die Waffe starrend, als wäre die auf sie gerichtet. Wie durch eine Explosion in Zeitlupe stoben die Teilnehmer auseinander. Einzelne Schreckensrufe, gefolgt von spitzen Schreien trieben auch die weiter entfernt Sitzenden von den Stühlen. Im Nu gab es kein Durchkommen mehr am Ausgang. Ein Schuss peitschte durch den Saal. Jede Bewegung erstarrte. Totenstille.

»Niemand verlässt den Saal!«, rief der Unbekannte. »Alle mal herhören. Dr. von Matt hat euch etwas zu berichten.«

Während sie die Polizei heimlich auf dem Handy alarmierte, wie viele andere wohl auch, beobachtete Chris, wie der Angreifer Nick nach vorn vor ein Mikrofon zerrte.

»Einschalten!«, befahl er.

Zwei Uniformierte tauchten auf der Galerie auf. Ein weiterer Schuss vertrieb sie augenblicklich. Chris identifizierte sich leise als Kommissarin des deutschen Bundeskriminalamts, schilderte kurz die Lage und ließ die Leitung offen, damit die Kollegen in der Wiener Einsatzzentrale mithörten, was im Billrothhaus vor sich ging. Eingreifen kam nicht infrage. Der Unbekannte schien zu allem entschlossen. In seinem Magazin befanden sich noch sechs weitere Patronen, falls sie sich nicht täuschte – und ihre Glock lag im Hotelsafe. Mona regte sich nicht mehr. Zur Salzsäule erstarrt, als hätte sie aufgehört zu atmen, fixierte sie die Waffe an Nicks Schläfe.

Eine Rückkoppelung gab das Zeichen, dass das Mikrofon eingeschaltet war.

»Wer sind Sie – was wollen Sie?«, fragte Nick scheinbar ruhig.

»Schnauze!«

Kein Wiener.

»Das Fernsehen soll das aufzeichnen. Ich will, dass dies in alle Welt verbreitet wird, um die Leute zu warnen. Dr. von Matt wird hier und jetzt seine Seele erleichtern und beichten. In zwanzig Minuten will ich einen Kameramann des ORF sehen.«

Chris gelang es, ein Foto zu schießen. Der Geiselnehmer befand sich allerdings zu weit weg für eine gute Aufnahme. Vielleicht könnten die Wiener Techniker trotzdem ein Porträt herausarbeiten, um ihn zu identifizieren.

»Kennen Sie den Mann?«, fragte sie Mona.

Die Scheintote reagierte nicht. Alle Augen richteten sich auf den Herrn im Maßanzug, der sich dem Geiselnehmer zu nähern wagte. Sie verstand nicht, was er sagte. Die Antwort tönte umso deutlicher aus den Lautsprechern:

»Achtzehn Minuten!«

Der Anzugtyp, einer der Organisatoren, wie sie vermutete, wich zurück, Telefon am Ohr. Das rote Gesicht glänzte vom Schweiß. Am Ausgang des Festsaals entstand Bewegung.

 

»Niemand verlässt den Saal!«

Ein Schuss Richtung Tür versetzte auch Chris für kurze Zeit in Schockstarre. Noch fünf Schuss. Niemand unternahm einen weiteren Fluchtversuch.

»Nur der Kameramann wird eingelassen. Fünfzehn Minuten!«

In diesem Augenblick erkannte sie die Ausweglosigkeit der Lage.

»Das wird tödlich enden«, sprach sie leise ins Handy.

Die Zeit gefror. Die Stille im Saal erschwerte das Atmen.

»Fünf Minuten!«

Kurz danach verkündete eine laute, feste Stimme an der Tür:

»Der Herr vom ORF ist jetzt da.«

»Herkommen, langsam! Ich will die Hände sehen!«

Ihr geschultes Auge bemerkte die Bewegung hinter der Brüstung oben auf der Galerie und sie wusste: Ihre Bemerkung war bei den Einsatzkräften angekommen. Der Geiselnehmer konnte kein abgebrühter Profi sein, eher ein Verzweifelter, der aus seiner Sicht noch etwas richtigstellen musste. Dieser Auftritt würde sein letzter sein. Er wusste es und sie und die Kollegen des Wiener SEK auf der Galerie ebenso.

Der Kameramann brachte sich in Stellung.

»Kann‘s endlich losgehen?«

»Augenblick.«

Der Kameramann änderte die Position, um den Geiselnehmer besser ins Bild zu bekommen. Dabei verrutschte seine Weste. Chris sah das Schulterhalfter im selben Augenblick wie der Angreifer. Ihr stockte der Atem.

»Ein Bulle!«

Die Hand mit der Pistole schnellte in Richtung des falschen Kameramannes. Der dumpfe Knall aus der Waffe des Scharfschützen auf der Galerie ging beinahe unter im kollektiven Aufschrei. Der Geiselnehmer sank zu Boden. Im nächsten Atemzug umstellten Männer des Einsatzkommandos Täter und Opfer. Notarzt und Sanitäter eilten herbei.

Allmählich kehrte Leben in den Festsaal zurück. Chris sprang auf, wollte zu Nick. Mona blieb sitzen. Sie zitterte am ganzen Leibe, stand offensichtlich unter Schock. Chris ließ sich wieder in den Sessel fallen, legte den Arm um sie und zog sie sanft zu sich.

»Es ist vorbei«, flüsterte sie.

Jamie stürzte herbei.

»Mein Gott, seid ihr O. K.? Die haben uns nicht in den Saal gelassen. Was ist – wo ist Nick?«

Der Name ihres Kollegen belebte Mona. Sie erhob sich.

»Ich muss mit ihm sprechen.«

Chris hielt sie zurück. »Ich glaube, das geht jetzt nicht. Die Polizei braucht seine Zeugenaussage.«

Sie ließ sich nicht aufhalten.

»Verwirrt«, murmelte Jamie.

»Der Schock. Ich sollte sie jetzt nicht allein lassen.« Sie drückte und küsste ihn. »Die Wiener Kollegen werden auch mit mir sprechen wollen. Wir sehen uns im Hotel.«

Abends stand Chris ratlos vor dem spärlich bestückten Kleiderschrank im Hotelzimmer.

»Muss es unbedingt das nobelste Lokal sein?«, fragte sie Jamie.

Er löste den Blick vom Panorama des abendlichen Museumsquartiers.

»Vor allem soll es Wiens beste Küche bieten – und da bin ich heikel. Das weißt du.«

»Ich habe trotzdem nichts anzuziehen.«

Er lachte. »Diesen Satz wollte ich schon immer aus deinem Mund hören, Frau Hauptkommissarin.«

»Mach dich nur lustig über mich. Ich hoffe, dein Fisch wird zäh wie Leder und versalzen.«

»Ich esse doch keinen Stockfisch.«

Ihre Laune besserte sich ein wenig beim Gedanken ans Dinner mit Mona, um sogleich wieder in Verzweiflung umzuschlagen. Wie das arme Mädel aus der Vorstadt würde sie neben der schönen Orientalin wirken. Was war los mit ihr? Sie kannte sich selbst nicht mehr. Durch die Begegnung mit Mona war sie zur hohlen Tussi mutiert, nur auf ihr Äußeres bedacht und nie damit zufrieden. Immerhin ein ganz neues Gefühl. Sie wandte sich wieder dem Schrank zu.

»Also was jetzt?«

Jamies Handy unterbrach die fruchtlose Konversation. Sie griff blind in den Schrank. Das Blaue mit dem Spitzenshirt war eigentlich fürs romantische Picknick auf dem Riesenrad vorgesehen, aber warum nicht? Die Jeans wäre ohnehin deplatziert im Steirereck.

»Das war Nick«, sagte Jamie.

»Abgesagt? Gut …«

»Blödsinn. Er hat den Namen des Geiselnehmers erfahren. Ein gewisser Oskar Schäfer aus Berlin-Wittenau. Er sagt, er kenne den Mann nicht.«

»Glaubst du ihm?«

Er sah sie mit demselben betroffenen Gesichtsausdruck an wie nach ihrem ersten Kuss.

»Was denkst du denn? Nick ist mein Freund.«

Mit dem du über zehn Jahre keinen Kontakt hattest, dachte sie.

»Seltsam«, sagte sie nur und begann, sich umzuziehen.

Der Abend würde genügend Gelegenheit bieten, sich darüber zu unterhalten. Im Übrigen war sie in Wien im Urlaub. Sie wartete, bis Jamie sich ins Bad zurückzog, dann rief sie Berlin an.

Kollege Haase, rechte Hand und eine Art erweitertes Hirn für sie, antwortete sofort. Er saß wie immer auch an diesem Freitagabend an seinem Schreibtisch in Treptow – oder stand an der Kaffeemaschine.

»Ich dachte, Sie machten Urlaub.«

»Dachte ich auch bis vor ein paar Stunden. Sie haben das Theater in Wien sicher mitbekommen …«

»Die Geiselnahme am Kongress. Waren Sie da? Sind Sie …«

»Alles in Ordnung«, wehrte sie ab. »Ja, ich war dabei. Mein Mann soll ein Referat halten, aber das tut nichts zur Sache. Ich habe eine Bitte.«

Den Rest flüsterte sie hastig ins Telefon, denn Jamie kehrte vom Bad zurück. Er hörte zwar nicht, was sie sagte, durchschaute sie aber trotzdem.

»Schon wieder an der Arbeit, Frau Kommissarin?«, fragte er lächelnd. »Ich empfehle dringend, das Handy mit der Dienstwaffe im Safe einzuschließen für heute Abend.«

»Hättest du wohl gern. Ich überlege mir, ob ich die Glock nicht auch mitnehmen soll – bei dem Gesindel, das in dieser Stadt herumläuft.«

Das betroffene Gesicht!

»War ein Scherz. Das Kleid passt sowieso nicht zur Pistole.«

Der Empfang im Steirereck entsprach den Preisen auf der Karte. Seit der Tragödie im Billrothhaus gehörte Nick zum exklusiven Kreis prominenter Eintagsfliegen. Das war der Grund, weshalb es wie durch ein Wunder einen freien Tisch für sie gab.

»Sie sehen umwerfend aus«, stellte Mona zur Begrüßung fest.

Was antworten auf dieses Kompliment aus dem Mund der Frau, die alle Blicke im Lokal auf sich zog? Am besten gar nichts. Stattdessen fragte sie trotz Monas strahlender Erscheinung besorgt:

»Besser?«

»Ich versuche, den Albtraum zu verdrängen. Hauptsache, Nick ist O. K.«

Kaum hatte er sich gesetzt und am Wasserglas genippt, sagte Nick düster:

»Der Mann ist gestorben.«

Alle schwiegen betroffen, obwohl die Nachricht niemanden überraschte. Nick sprach als Erster weiter.

»Ich weiß, ihr fragt euch, wieso der Mann ausgerechnet mich angegriffen hat«, seufzte er. »Ich kann nur wiederholen, was ich Jamie schon gesagt habe. Ich kenne – kannte den Mann nicht, habe ihn nie gesehen, nie von ihm gehört. Das Ganze ist ein verdammtes Rätsel.«

Es klang überzeugend. Chris war geneigt, ihm die Ahnungslosigkeit abzukaufen. Andererseits musste der arme Kerl einen guten Grund gehabt haben, Nick vor versammelten Kollegen anzugreifen. Mit Verwirrung allein war sein Auftritt in Festsaal kaum zu erklären. Der Täter konnte kein gewöhnlicher Spinner gewesen sein wie die grölenden Demonstranten, die allein beim Wort Genetik ausflippten.

Der Chef de Service nahm die Bestellung auf, gefolgt vom begeisterten Monolog des Sommeliers über die exklusiven Tropfen, die zu den nicht weniger extravaganten Gerichten passten. Es würde wohl das teuerste Essen werden, das Nick je bezahlt hatte.

»Ich dachte, Sie trinken keinen Alkohol?«, wunderte sie sich, als Mona fröhlich mit dem Dom Pérignon Rosé Vintage ›Tête de Cuvée‹ anstieß.

»Weil ich aus dem Iran stamme?«

»Der Islam …«

Unter Freunden soll man nie über Religion und Politik sprechen. An diesen Grundsatz hatte sie sich stets gehalten, aber jetzt war es raus. Mona erledigte das Thema mit drei Wörtern:

»Nichts für mich.«

»Vorsicht«, bemerkte Nick lachend dazu. »Mona hat schon eingefleischte Eidgenossen mit ›Kafi Luz‹ unter den Tisch gesoffen.«

»Eine Trinkerin sind Sie also«, grinste Chris erleichtert.

»Nachdem auch das geklärt ist, schlage ich vor, wir gehen zum Du über.«

Nick hob sein Glas, um den Pakt zu besiegeln. Mona reichte das nicht. Sie drückte reihum jedem ein Küsschen auf die Wange. Die Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit reizte Chris. Monas Verhalten passte einfach nicht zu ihrer Vorstellung von Frauen aus dem Iran.

»Was ist ›Kafi Luz‹?«, fragte Jamie konsterniert.

Mona lachte laut heraus. »Nick übertreibt natürlich. In Wirklichkeit kann ich das Gebräu nicht ausstehen. Es ist eine volkstümliche Spezialität in Luzern, wo unsere Klinik steht.«

»Mit Kaffee hat das Gesöff nicht viel gemein«, ergänzte Nick. »Sehr wässriger Kaffee, viel Zucker und ein guter Schuss Träsch, Obstler. Gilt als Frühstück.«

Lachend sahen sie zu, wie zwei Kellner die Vorspeisen in perfekter Choreografie aufdeckten. Sie hatte die erste Gabel des Carpaccios noch nicht im Mund, als ihr Handy klingelte. Haase.

»Verzeihung, da muss ich ran.«

»Ich habe ihr geraten, das Ding im Safe einzuschließen«, entschuldigte Jamie sich achselzuckend, während sie sich entfernte.

»Dieser Oskar Schäfer hatte keinerlei Verbindung zu Dr. Niklaus von Matt oder der Klinik Seeblick in Luzern«, sagte Haase.

Sie brauchte nicht nachzuhaken. Wenn er keine Verbindung fand, gab es keine. Die Nachricht ließ die Tragödie im Billrothhaus nur noch mysteriöser erscheinen. Nachdenklich kehrte sie an den Tisch zurück.

»Ist kalt geworden«, bemerkte Jamie.

»Carpaccio muss kalt sein. Das weißt du besser als ich.«

»War ein Scherz.«

Er streckte die Hand aus.

»Was?«

»Handy.«

»Nur gegen Quittung.«

Er verlangte Notizpapier vom Kellner. One mobile Phone, stand auf dem Zettel, den er ihr unter dem Gelächter der andern hinhielt. Sie vollzog den Tausch und Ruhe kehrte ein. Eine Weile widmeten sich alle dem Gedicht auf ihrem Teller und dem gefährlich mundenden Sauvignon Blanc.

»Was wird jetzt aus dem Kongress?«, fragte Nick unvermittelt.

Jamie legte die Gabel weg, trank einen Schluck, dann antwortete er mit gespielter Enttäuschung:

»Geht leider morgen weiter wie geplant. Einzig der Festsaal wird vorläufig nicht mehr benutzt.«

»Warum leider?«, fragte Mona.

Sie kannte Jamies angeborene englische Ironie noch nicht.

»Er redet nicht gern«, sagte Chris, um sie noch etwas mehr zu verwirren.

Nick brach in Gelächter aus. »Vor allem nicht in Gegenwart schöner Frauen. Das war noch nie deine Stärke, stimmt‘s?«

Die Betroffenheit war diesmal nicht gespielt. Sie erlöste ihn, gab ihm einen Kuss und stellte fest, er habe andere Qualitäten.

Der Aufmarsch von vier Kellnern dämpfte die Heiterkeit nur unwesentlich. Die Offenbarung des Hauptgangs unter den silbernen Glocken ließ hingegen alle am Tisch in Ehrfurcht verstummen. Irrte sie, oder wischte Jamie sich heimlich eine Träne aus dem Auge nach der ersten Nase von seinem Milchferkel mit Eukalyptus? Die Tafelrunde des unfreiwillig prominenten Arztes aus der Schweiz versank in stille Andacht. Lange hörte man kaum das Besteck klappern. Erst mit der zweiten Flasche Bordeaux lösten sich die Zungen. Überrascht stellte Chris fest, dass sie Deutsch sprachen. Jamies immer noch grottenschlechte Aussprache machte sie darauf aufmerksam. Wie selbstverständlich hatten sie sich bisher aus Rücksicht auf ihn und Mona auf Englisch unterhalten.

»Wie kommt es, dass du so gut Deutsch sprichst?«, fragte sie Mona.

»Ich habe mehrere Jahre hier studiert.«

»In Wien?«

Sie nickte. »An der MedUni.«

»Wie ich«, fügte Nick lächelnd an. »Da ist sie mir aufgefallen.«

»Kein Wunder«, murmelte Chris.

»Die medizinische Universität Wien ist die größte Medical School der Welt«, dozierte Jamie.

»Danke Herr Professor.«

Obwohl sie sich brennend für die Geschichte der rätselhaften Mona interessierte, konzentrierte sie sich auf Nick. Déformation professionnelle. Er war nicht zufällig Opfer einer Geiselnahme geworden. Was sollte er beichten? Sie begann das Verhör mit einer unverfänglichen Frage.

»Wie hast du Jamie überhaupt kennengelernt?«

»Jetzt wird es delikat«, antwortete Nick nach einem tiefen Blick ins Glas. Und zu Jamie gewandt: »Was denkst du?«

 

Jamie schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht wissen.«

Erst nach massivem Protest, unterstützt von Mona, erfuhr sie die erschütternde Wahrheit. Beide arbeiteten damals in Cambridge am selben Forschungsprogramm, und der gute Jamie bemerkte offenbar fast zu spät, dass Nick ein Auge auf ihn geworfen hatte.

»Ich glaubte wirklich, du wärst auch schwul«, sagte Nick lachend, »habe mir große Hoffnungen gemacht.«

Mona tätschelte ihm beruhigend die Hand. »Du Ärmster.«

Chris staunte. »Und deswegen seid ihr Freunde geworden?«

Jamies Blick wanderte weit in die Vergangenheit zurück.

»Nicht deswegen …«

»Sondern?«

Nick grinste, während Jamie verlegen die Achseln zuckte.

»Lasst es raus, Jungs«, drängte Mona.

Nick seufzte. »Sagen wir es so: Ich habe aus Mitleid beide Augen zugedrückt.«

»Ich war verwirrt, verdammt«, protestierte Jamie, »hatte einfach keine Zeit, die Messreihe zu wiederholen.«

Chris fuhr auf. »Du hast Forschungsergebnisse gefälscht?«

»Richtiggestellt.«

»Man foltert die Zahlen, bis die Statistik stimmt, richtig? So einen habe ich also geheiratet!«

»Das verstehst du nicht.«

»Was gibt es denn da zu verstehen? Bist du überhaupt ein richtiger Doktor, Jamie Roberts?«

»Damals hatte ich den Titel schon.«

»Dann ist ja alles gut.«

»Ich konnte ihn einfach nicht in die Pfanne hauen, den netten Jamie«, seufzte Nick mit schmachtendem Blick.

»Ja, ja, die Liebe …«, sinnierte Mona, indem sie Chris fixierte.

Das wird heute nichts mehr, dachte sie. Sie war nicht im Dienst, konnte Nick nicht einfach vorladen, um hinter sein Geheimnis zu kommen, seine dunkle Seite, die der Geiselnehmer zweifellos gekannt hatte. Die zweitbeste Lösung war Mona, die zumindest Nicks Arbeit gut kannte. Ein Gespräch unter Frauen, getarnt als Shopping-Orgie. Was konnte schon schiefgehen?

Der Samstag verlief etwas anders, als sie sich vorgestellt hatte. Sie kehrte mit einer Einkaufstüte voll schöner und vollkommen unnützer Dinge ins Hotel zurück, ohne das Geringste über Nicks Geheimnis erfahren zu haben. Die Stimmung hellte sich etwas auf, als sie das neue Mundstück für ihr Altsaxofon aus der Tasche zog. Ganz umsonst war sie nicht kreuz und quer durch die Altstadt geirrt.

»Ein Prachtexemplar«, sagte Jamie, »aber hast du nicht schon zwei oder drei?«

Er zog sich um für den Männerabend mit seinem fast vergessenen Freund Nick.

»Dieses Teil ist speziell für einsame Stunden gedacht, melancholische Molltöne und die Bluestonleiter, wenn du verstehst, was ich meine.«

Er nahm sie in die Arme. »Ich verstehe dich sehr gut, Liebes. Noch diesen einen Abend, dann gibt es nur noch uns zwei.«

»Versprochen?«

»Bei all meinen Pfannen.«

Er würde sich noch wundern. Jedes Wort aus Nicks Mund würde sie aus ihm herausholen. Jahrelange Übung im BKA half ihr bei solchen Aktionen. Er ging. Sie stand allein im fremden Hotelzimmer vor einem leeren Abend. So durfte der Tag nicht enden. Nach kurzem Zögern rief sie Mona an.

»Lust auf einen Kaffee?«

»Langweilst du dich ohne Jamie?«

»Nein, ich will es ihm heimzahlen.«

Die Antwort sorgte für Heiterkeit am andern Ende der Leitung.

»Gut so, was die Männer können, schaffen wir auch. Ich weiß genau das Richtige für uns.«

Eine Stunde später stieg sie an der Grinzinger Schleife aus dem 38er, fast zwanzig Minuten vor der vereinbarten Zeit. Sie mischte sich unters Volk, das zum Heurigen in die Gassen strömte. Ohne Absicht schlenderte sie in eine ruhigere Gegend. Sie wollte schon umkehren, da schnellte ihr Puls schlagartig in die Höhe beim Blick in eine Nebenstraße. Mona? Die Figur stimmte, die Art, wie sie sich bewegte, nur das Kopftuch wirkte fremd. Sie glaubte, Monas Parfüm riechen zu können.

Neugierig folgte sie der Frau bis zum Friedhof. An einer Wegkreuzung unweit Gustav Mahlers Grab verlor sie sie.

»Das gibt‘s nicht«, murmelte sie verblüfft.

Der Grinzinger Friedhof war nicht gerade der Zentralfriedhof. Wahrscheinlich hatte sie sich sowieso geirrt. Auf dem Rückweg tauchte die Frau plötzlich wieder auf, als hätte sie sich hinter dem pompösen Grabmal versteckt, das einem kleinen Mausoleum glich. Chris konnte sich im letzten Moment ins Gebüsch retten. Es war Mona, die an ihr vorbei zum Ausgang eilte, kein Zweifel.

Die Inschrift auf dem weißen Marmor sagte ihr nichts. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab, als ihr ein bescheidenes Grab unmittelbar neben dem Marmortempel auffiel. Es schien zum Ensemble zu gehören, als dürfte hier der Stalljunge bei der Herrschaft ruhen. Frische Rosen schmückten dieses beinahe unsichtbare Grab. Neugierig versuchte sie, die Zeichen auf dem Grabstein zu entziffern. Sie konnte nur die Jahreszahl des Todesdatums lesen. Die Schrift mutete Arabisch an. Ein Mitglied aus Monas iranischer Familie? Nach ihrer Bemerkung zum Islam war es durchaus möglich, dass so jemand auf diesem Friedhof lag. Seltsam fand sie es trotzdem.

Fast zehn Minuten zu spät kehrte sie zum Treffpunkt zurück. Mona schloss sie freudig in die Arme und küsste sie, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.

»Ich machte mir schon große Sorgen, Chris.«

»Entschuldige, Pünktlichkeit ist nicht so mein Ding«, log sie.

Das Kopftuch war verschwunden. Die aufgekratzte, unternehmungslustige Mona vom Vorabend stand vor ihr.

»Ready? Los geht‘s! Fünf Minuten zu Fuß.«

Keine Frage, sie kannte sich aus in Grinzing. Die ›Feuerwehr‹ war ein Heuriger wie viele andere hier, nur vielleicht noch etwas populärer. Die Gäste standen jedenfalls schon am frühen Abend Schlange am Büfett. Der neue Muskateller erinnerte entfernt an den Sauvignon Blanc vom Vorabend, floss aber um einiges schneller durch die Kehle, vor allem durch Monas Kehle. Chris versuchte, mit Konversation gegenzusteuern und sie wenigstens zum Verzehr eines Weinbeißers anzuregen.

»Ihr führt also eine lukrative Klinik in Luzern«, begann sie. »Busen, Po, nehme ich an?«

Mona stellte das Glas ab. »Sehe ich aus, als hätte ich das nötig?«

»Du nicht, aber deine Patientinnen.«

Dabei betrachtete sie sich selbst mit prüfendem Blick. Mona spielte mit.

»Darf ich?«

Bevor sie begriff, was geschah, spürte sie Monas Hände auf den Brüsten. Nur für einen Augenblick, doch der genügte, um einen Schwall heißen Blutes in die Schläfen zu pumpen. Mona schüttelte nur den Kopf und stellte nüchtern fest:

»Würde ich nicht empfehlen. Die sind noch schön straff.«

»Also hör mal!«

Sie lachte hell auf. »Bleib locker, Mädchen. Auch ein Rollmops?«

Mona sprang auf, eilte ans Büfett, ohne die Antwort abzuwarten. War das ihre seltsame Art zu trauern? Versuchte sie, ihre wahren Gefühle durch exaltiertes Verhalten zu verbergen – oder wollte sie einfach ihren Fragen ausweichen?

Sie kehrte mit zwei Rollmöpsen und etwas Schwarzwurzelsalat zurück.

»Ich dachte eher an Backhendl …«

Schon stand sie wieder am Büfett. Kaum hatte sie ihr das halbe Hähnchen vorgesetzt, begann sie, den rohen Hering mit Lust zu verspeisen, als wäre er die Krönung des gestrigen Galadiners. Chris hoffte inständig, die sauren Lappen würden Monas Blutalkohol wenigstens soweit neutralisieren, dass sie ohne Rettung ins Hotel zurückfände. Allein, der Gott, der ihr stilles Gebet erhören sollte, existierte nicht. Sie bestellte noch ein Viertel. Chris konnte die Bemerkung nicht unterdrücken:

»Du tust das nicht zum ersten Mal.«

Mona sah sie mit großen, dunklen Augen an, lächelnd, mit klarem Blick, als hätte sie nur am Wasser genippt.

»Was meinst du? Eine Brust anfassen? Ich bin Ärztin.«

»Das meinte ich nicht, aber da du schon davon sprichst – ich habe immer noch nicht verstanden, was ihr da in Luzern genau treibt, du und Nick.«

»Ich habe es dir auch noch nicht erklärt«, gab sie schmunzelnd zurück. »Im Ernst, es ist ziemlich kompliziert, aber man kann es mit einem Wort umschreiben: Gentherapie. Wir helfen Patienten mit genetisch bedingten Krankheiten, gewissen Typen von Diabetes zum Beispiel.«

»Darum also das Interesse am Kongress.«

»Ja, Nick will an vorderster Front dabei sein. Er ist ein Spitzenforscher, auch wenn er sich manchmal wie ein Kindskopf aufführt.«

»Männer eben.«

»Du hast es erfasst«, lachte sie.

Die Schrammeln legten eine Pause ein. Das Reden fiel leichter.

»Glaubst du, der Vorfall im Billrothhaus könnte etwas mit eurer Klinik zu tun haben?«, fragte sie vorsichtig.

Mona zögerte lange mit der Antwort. Schließlich sagte sie abwesend:

»Die Sache geht Nick ganz schön an die Nieren.«

Chris wagte, noch einmal nachzuhaken.

»Ein enttäuschter Patient oder Verwandter vielleicht?«

Mona schüttelte entschieden den Kopf. »Patienten, die einen Kunstfehler vermuten, würden uns die Anwälte auf den Hals hetzen. Die haben gute Anwälte, das kann ich dir versichern. Unsere Therapien können sich nur die Wenigsten leisten.«

»Kann ich mir vorstellen«, murmelte sie enttäuscht.

Diese Fährte führte nirgendwohin. Daran würde auch ein weiteres Viertel Muskateller nichts ändern. Als die Musiker zurückkehrten, stand Mona auf.

»Suchen wir uns ein ruhigeres Plätzchen. Der Lärm nervt. Ich bin älter geworden.«

Sie bezahlten und verließen das Lokal.

»Ich will aber noch nicht ins Hotel zurück. Da komme ich mir vor wie ausgesetzt.«

Mona hakte sich lachend bei ihr unter. »Weiß ich doch.« Sie winkte ein Taxi herbei. »Steig ein.«

Der Fahrer, mit Anzug und Krawatte unterwegs, quittierte das Ziel mit: »Sehr wohl, Gnä‘ Frau.« So etwas erlebte man wohl nur noch in Wien.

Das Café Landtmann beim Burgtheater war eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen der dezenten Klänge aus dem Piano. Ein alter Herr, makelloses Jackett, blütenweißes Hemd und korrekte Fliege wie am ersten Arbeitstag, trat an ihren Tisch. Auf dem Namensschild stand: Herr Karl. Statt widerwillig nach ihren Wünschen zu fragen, wie Chris befürchtete, begrüßte er Mona freudig überrascht: