Der zweite Killer

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Sie war ausgelaugt, als sie den Wagen beim BKA in Treptow parkte. Das Ergebnis der stundenlangen Suche nach Namen fiel ernüchternd aus. Drogenabhängige, die ihren eigenen Namen nicht kannten, Alkoholiker, die beim Stichwort Polizei sofort einschliefen, und unterernährte Hunde bevölkerten die Ruine des Asylheims. Ganze zwei Hinweise blieben übrig, die ihr Juniorpartner jetzt verfolgte. Als genügte das nicht, um ihre Laune zu verderben an diesem Freitagnachmittag, hielt der Regen hartnäckig an bis fast vor die Bürotür. Berlin mit nassen Straßen am Start ins Wochenende: nicht zu vergleichen mit Wiesbaden und Kloppenheim, wo sie früher gewohnt hatte. Staus wie eben auf der Brücke gab es dort nur an Ostern. Sie hatte es nicht anders gewollt.

Es war ihr Vorschlag gewesen, den Arbeitsplatz in die Zentrale am Treptower Park zu verlegen, um hier mit Jamie zusammenzuziehen. Das Zentrum für regenerative Therapien in Berlin, BCRT, hatte ihn vom Imperial College in London abgeworben – mit einem Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Der Abschied von den Kollegen in Wiesbaden war ihr etwas leichter gefallen, nachdem sich ihr Partner Sven nach Hamburg abgesetzt hatte. Die Liebe: Es gab endlich eine Frau, die sich nicht nur für seinen Porsche Spyder interessierte.

Als Erstes fielen ihr die allgegenwärtigen Überwachungskameras auf, die hier jeden Pfosten schmückten, nicht nur jeden Zweiten wie in Wiesbaden. Beim Anblick rümpfte sie die Nase. Sie hatte sich den Einzug anders vorgestellt oder gar nicht, jedenfalls nicht so deprimierend. Der Eindruck besserte sich kaum, als sie das Büro betrat. Die Luft roch nach Schimmelpilz. Die nackten Möbel und leeren Schränke verbreiteten Endzeitstimmung. Dazu passte die vergilbte Reproduktion von Munchs ›Schrei‹ an der Wand. Auf dem Aktenschrank neben dem Pult stand ein Gemüse, das früher vielleicht einmal grün gewesen war. Die vertrockneten Blätter hätten wohl auch einem Gärtner Rätsel aufgegeben. Sie war allein und froh darüber. So brauchte sie die vernichtenden Kommentare nicht stumm zu schlucken. Eine Reihe Fenster wie in einem alten Schulhaus zeigte direkt auf das Backsteingebäude des Terrorismus-Abwehrzentrums, an das sie sich lieber nicht erinnerte. Kurbeln für die Rollläden gab es nicht. Automatische Jalousien: Der Architekt musste ein Sadist sein. Die geistige Mängelliste quoll über. Sie hätte ihr Saxofon mitbringen sollen, um die negativen Schwingungen zu kompensieren. Sinnlos, sich zu ärgern, sie würde ohnehin nicht viel Zeit in dieser Hightech-Folterkammer verbringen. Dafür gab es jetzt den Sklaven Seidel.

Die Tür schwang auf.

»Da sind sie ja. Ich habe Sie heute nicht mehr erwartet.«

Die Frau, die ihr gegenüberstand, mochte zehn oder fünfzehn Jahre älter sein, hatte sich aber gut gehalten. Glattes Gesicht, ein wenig straff vielleicht, kurzes, braunes Haar, dunkelgrauer Zweiteiler mit Nadelstreifen, sonst war nichts auszusetzen an der Erscheinung, die so gar nicht zur eiskalten Stimme passen wollte. Chris kompensierte ihr ernstes Gesicht mit einem freundlichen Lächeln.

»Staatsanwältin Winter, nehme ich an. Chris Roberts, freut mich.«

Klara Winter trug keinen Ehering mehr. Der Abdruck war aber deutlich zu sehen. Solche Sachen fielen ihr jetzt auf. Daher rührte vielleicht die Unterkühlung. Es bestand also Hoffnung auf Besserung. Die Zeit heilt Wunden, sagt man. Die Staatsanwältin hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf. Sie fragte nur:

»Wo stehen wir?«

»Die Akten sind unterwegs hierher. Die Beweisstücke werden zur KTU nach Wiesbaden geschickt. Ich rechne spätestens Dienstag mit Ergebnissen.«

»Hat das LKA nicht schon alles untersucht?«

Chris schüttelte den Kopf. »Die haben alle Arbeiten eingestellt, als sie hörten, dass wir den Fall übernehmen.«

»Kann ich verstehen«, murmelte die Staatsanwältin, »heikel, sehr heikel.«

»Immerhin wissen wir, dass Eddie Jones den Dienst bei der US-Navy vor zehn Jahren quittiert und seither in Deutschland gelebt hat«, sagte Chris. »Es gibt keine lebenden Verwandten mehr. Seine letzte Adresse ist ein Wohnblock in Marzahn. Wir werden die Nachbarn am Montagmorgen befragen.«

»Wir?«

»Referendar Seidel und ich. Kommissar Mertens überlässt ihn uns für die Dauer der Ermittlungen. Er kann ihn nicht leiden.«

»Sind ja gute Voraussetzungen. Ein Student?«

»Referendar mit ausgezeichneten Zensuren. Ich glaube, wir können ihn gut gebrauchen bei unserer Personalknappheit.«

Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf in gespielter Verzweiflung. »Können Sie sich vorstellen, welcher Papierkram da auf Sie wartet?«

»Kein Formular, das ist der Deal.«

»Aber – ein blutiger Anfänger?«

»Das wird sich schnell ändern.«

Wieder schüttelte Winter den Kopf. Sie starrte ihr eine Weile abwesend auf die Bluse, dann wandte sie sich ab mit der Bemerkung:

»Ich will den jungen Mann sehen, sobald er auftaucht. Haben wir uns verstanden?«

Weg war sie, ohne die Antwort abzuwarten. Das Handy summte: Referendar Seidel.

»Chef, ich habe die Leute aufgespürt, die von der Party, wissen Sie.«

»Ja, ich kann mich erinnern. So lautet Ihr Auftrag.«

Seidel zögerte. »Das – ist das Problem. Namen und Adresse habe ich, aber da ist niemand zu Hause.«

Er überholte sich selbst beim Sprechen, damit sie nicht unterbrach.

»Es fand wohl eine Art Polterabend im alten Asylheim statt. Der Bräutigam ist in den Flitterwochen auf Mallorca. Der Aufenthalt des zweiten Mannes ist unbekannt. Ich habe versucht, das Hotel ausfindig zu machen über das Reisebüro, aber die haben schon geschlossen.«

»Vergessen Sie nicht zu atmen«, unterbrach sie besorgt.

Er nahm die Aufforderung ernst. »Ich atme ganz normal, Chef.«

»Da bin ich ja beruhigt, Seidel, gute Arbeit. Aber jetzt schalten Sie einen Gang runter. Es ist Wochenende und die Zeugen laufen uns schon nicht weg, falls es überhaupt Zeugen sind, was ich im Übrigen stark bezweifle.«

Das stimmte ihn nachdenklich. Es entstand eine kurze Pause, bevor er zaghaft fragte:

»Chef, sind Sie im Büro?«

»Sieht so aus.«

»Gut, ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen mit den Akten.«

Sie sah auf die Uhr: Feierabend, Wochenende. Der junge Mann hatte kein Privatleben. »Ideale Voraussetzung für diesen Job«, murmelte sie beim Auflegen.

Es klopfte.

»Herein«, sagte sie verwundert, als niemand ins Zimmer stürzte.

Die Tür ging auf. Zuerst erschien ein kleiner Kaktus. Ihm folgte ein Mann am Stock mit schütterem, grauem Haar, dessen Bauch vom Mangel an Bewegung zeugte. Er stellte den Topf auf den Schreibtisch und streckte ihr strahlend die Hand entgegen.

»Tach Frau Kommissar. Jens Haase, Faktotum im Innendienst mit steifem Bein und Mädchen für alles in diesem Irrenhaus.«

»Alles klar«, lachte sie und erwiderte den kräftigen Händedruck. »Für mich?«, fragte sie mit einem Blick auf den grünen Zwerg.

Er nickte. »Auf die Schnelle konnte ich nichts anderes finden. Wir haben Sie erst am Montag erwartet.«

»Der ist niedlich, danke.«

Sie betrachtete die Pflanze genauer. Im Moment, als sie den gelben Punkt bemerkte, klarte es draußen auf. Die letzten Strahlen der Abendsonne brachen durch die Regenwolken. Warmes Licht verwandelte das Büro in einen halbwegs erträglichen Arbeitsplatz.

»Er bekommt eine Blüte«, sagte sie lächelnd.

»Unmöglisch, der hat noch nie jeblüht.«

»Da, sehen Sie.«

Es wurde wieder düster im Raum. Die Rollläden, diese Intelligenzbestien, reagierten auf das Sonnenlicht. Ihr Gesicht war eine einzige Anklage. Jens Haase begriff sofort.

»Das haben wir gleich, warten Sie.«

Er humpelte davon. Nach kurzer Zeit kehrte er mit schwarzem Klebeband und Werkzeug zurück.

»Ich kann es leider nicht selbst tun. Das Bein, wissen Sie. Aber ich sage Ihnen, wie‘s geht. Es ist ganz einfach.«

Er versprach nicht zu viel. Mit wenigen Handgriffen gelang es ihr, den Sensor zu verkleben. Die Rollläden fuhren hinauf und blieben oben. Sie fühlte sich schon fast zu Hause am Treptower Park. Ihr neuer Kollege grinste zufrieden. Sie nahm sich vor, Jens Haase trotz Innendienstes nie zu unterschätzen.

»Bin in der Bierstube«, meldete ihr Handy.

»Mist!« Sie hatte Jamie ganz vergessen. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte sie zu Haase. »Bleiben Sie noch eine Weile?«

»Ich bin immer da.«

Das Lachen blieb ihr im Halse stecken, denn er meinte es durchaus ernst. Noch einer ohne Privatleben. Sie begann, sich schuldig zu fühlen. Jetzt, da sie erste, zaghafte Versuche unternahm, so etwas wie eine Familie zu gründen.

»Ich bitte Sie um einen Gefallen. Noch einen«, fügte sie nach kurzem Zögern lächelnd hinzu. »Referendar Horst Seidel wird in Kürze mit den Akten eintreffen. Er soll für eine Weile hier arbeiten. Würden Sie sich bitte um den Jungen kümmern? Staatsanwältin Winter ist informiert.«

»Oh, Sie hatten schon das Vergnügen.«

»Weiß nicht, ob man es so bezeichnen kann. Sie hat wohl nicht viel Spaß im Leben.«

Haase nickte zustimmend. »Das ist offensichtlich. War sie sehr kurz angebunden?«

»Sehr.«

Seine Mundwinkel wanderten wieder nach oben. »Dann hat sie Angst.«

»Angst?«, rief Chris verblüfft aus, »wovor?«

»Vor Ihnen, Frau Kommissar.«

Er wollte die seltsame Antwort nicht begründen, dennoch sorgte sie für gute Laune, als sie das Haus verließ.

Montagmorgen. Seidel saß am Steuer des Dienstwagens. Ihr Sklave navigierte geschickt durch den Berufsverkehr, obwohl er sich seit Arbeitsbeginn am frühen Morgen mit Selbstzweifeln zerfleischte.

 

»Es tut mir echt leid«, wiederholte er zum dritten oder vierten Mal. »Sie müssen mir glauben, Chef. Ich habe keinen Aufwand gescheut. Die Zeugen auf Mallorca waren während des ganzen Wochenendes nicht erreichbar. Es ist zum Verzweifeln, echt jetzt.«

Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er sprach nicht nur in ganzen, korrekten, deutschen Sätzen. Auch der Genitiv war ihm nicht fremd, eine Seltenheit unter jungen Leuten. Um ihn abzulenken, wechselte sie das Thema:

»Sobald wir zurück sind, sollten Sie bei Staatsanwältin Winter vorbeischauen.«

Der Wagen drohte, auf den Bürgersteig auszubrechen, so heftig riss er am Lenkrad, als er herumfuhr, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht grau wie auf einem Schwarz-Weiß-Foto. Er korrigierte erschrocken. Der Wagen beruhigte sich.

»Was kann Frau Staatsanwältin Winter von mir wollen?«, fragte er heiser.

»Erschrecken Sie jetzt nicht wieder«, warnte sie. »Sie will Sie kennenlernen.«

»Staatsanwältin Winter will mich kennenlernen? Warum möchte sie das?«

Die Frage klang verzweifelt.

»Keine Panik, Seidel. Ich glaube, sie steht nicht auf junge Männer. Sie will nur wissen, mit wem sie‘s zu tun hat. Das ist alles.«

Es schien ihn nicht zu beruhigen.

»Sie werden doch dabei sein?«, fragte er ängstlich.

Es kostete sie einige Anstrengung, nicht zu lachen. Glücklicherweise brauchte sie nicht zu antworten, denn sie näherten sich dem Häuserblock am Ende der Quartierstraße in Marzahn, wo Eddie Jones gewohnt hatte.

»Am besten überlassen Sie mir das Reden«, sagte sie beim Aussteigen.

Der Block erinnerte an DDR Zeiten, obwohl die Häuser kaum älter als zehn, fünfzehn Jahre sein konnten. Grauer Verputz bröckelte von grauem Beton und eingeschlagene Fensterscheiben im Erdgeschoss ließen nichts Gutes erahnen. Umso erstaunter stellte sie fest, dass Mr. Jones Wohnung nicht aufgebrochen worden war und das Polizeisiegel unversehrt an der Tür klebte.

»Wo bleibt der Hausverwalter? Haben sie ihn nicht informiert, Seidel?«

»Doch, selbstverständlich habe ich ihn informiert, aber wir sind wohl etwas zu früh.«

»Besser früh als zu spät«, brummte sie und versuchte, die Tür aufzustoßen.

Sie war verschlossen, was bei Seidel hektische Aktivität auslöste. Er nestelte aufgeregt in seiner bodenlosen Aktentasche, bis er einen Schlüsselbund in einem Plastikbeutel zutage förderte.

»Ich dachte, wir könnten Mr. Jones Schlüssel heute brauchen«, sagte er verlegen. »Ich habe das Asservat deshalb zurückbehalten. Hätte ich das nicht …«

»Seidel, Seidel!«, unterbrach sie schmunzelnd. »Geben Sie schon her.«

Der Junge hatte eine große Karriere vor sich. Die Wohnung bestand im Wesentlichen aus dem Wohnzimmer mit einem Wandschrank, in dem Küche und Bad zusammen Platz gefunden hätten. Sie blieb verblüfft stehen.

»Was fällt Ihnen auf, Seidel?«

»Man sollte lüften.«

»Das auch, sonst?«

Er zuckte die Achseln und lief rot an.

»Sehen Sie Kleider, Schuhe, sonst irgendetwas, was auf den Bewohner hindeutet?«

»Stimmt, nicht einmal ein Handtuch im Bad«, gab er in ungewohnter Kürze zu.

Die Billigmöbel standen noch da, Bratpfanne und Suppentopf nebst einigen Gläsern und Besteck in der Küche ebenfalls, aber sonst erweckte die Wohnung den Eindruck, der Mieter wäre ausgezogen.

»Gibt es in den Akten einen Hinweis auf seine neue Anschrift?«

Seidel schüttelte den Kopf, sprachlos, als trüge er die Schuld an der Verwirrung. Wer hatte hier ausgeräumt? Wollte jemand Spuren beseitigen? Der Scharfschütze vielleicht? Als läse er ihre Gedanken, sagte Seidel:

»Vielleicht haben die Nachbarn etwas gesehen.«

Sie nickte. »Wir werden sie gleich fragen.«

Acht Uhr war vorbei. Der Verwalter ließ sich noch immer nicht blicken. In der Wohnung gab es nichts mehr zu sehen. Sie beschloss, mit der Befragung zu beginnen. Die Tür des Nachbars zur Linken öffnete sich, als sie auf den Flur traten. Eine alte Dame, deren sorgfältig lackierte Fingernägel wohl ihren einzigen Luxus darstellten, kam ihnen entgegen.

»Wer sind Sie, was haben Sie in Mr. Jones Wohnung zu suchen?«, fragte sie streng.

Der Ausweis beruhigte sie nur teilweise. Sie musterte den jungen Referendar misstrauisch.

»Schon wieder Polizei? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der nette Mr. Jones etwas verbrochen hat, im Gegensatz zum andern Gesindel in diesem Haus. Alles Ganoven, wenn Sie mich fragen. Aber vor Mr. Jones haben alle großen Respekt. Wissen Sie, früher …«

»Sie kennen ihn gut?«, unterbrach Chris rasch, um Seidel an einer unvorsichtigen Bemerkung zu hindern.

»Natürlich, was denken Sie denn, wir sind Nachbarn.«

»Natürlich. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

Die Frau sah sie an, als vermute sie unanständige Hintergedanken. Dann antwortete sie so, dass nur Chris es hören sollte:

»Freitagmittag vor einer Woche.«

»Seither nicht mehr?«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er müsse eine Weile weg, hat er gesagt.«

»Wohin?«

»Keine Ahnung.«

Die Frau schien Eddie Jones recht gut zu kennen. Chris stellte ihr die üblichen Fragen nach dem Befinden des Opfers in der letzten Zeit, Auffälligkeiten, Freunden, Feinden, Besuchern, Auseinandersetzungen, die sie vielleicht beobachtet hatte. Die Antwort war stets eine Variante von: Mr. Jones war ein ruhiger, anständiger Mensch. Die Nachbarin wurde misstrauisch.

»Warum stellen Sie mir all die seltsamen Fragen? Ihm ist doch nichts zugestoßen?«

Sie musste der alten Dame die Wahrheit sagen. Offenbar hatte sie die Zeitungsmeldung übersehen, oder sie las keine Zeitungen. Eine Todesnachricht zu überbringen, empfand Chris als schlimmste Pflicht in ihrem Beruf. Die Eröffnung schockierte Eddie Jones’ Nachbarin, als hätte sie ihren eigenen Sohn verloren. Die Fassungslosigkeit der alten Dame übertrug sich auf Seidel. Stumm notierte er die spärlichen Ergebnisse weiterer Befragungen, bis Chris sich schließlich nach seinem Befinden erkundigte. Er zögerte mit der Antwort, suchte nach Worten.

»Wie schaffen Sie das?«, murmelte er nach einer Weile undeutlich.

»Was meinen Sie?«

Er gestikulierte hilflos mit den Armen. »Das alles – nicht an sich heranzulassen.«

»Gar nicht«, gab sie unumwunden zu. »Man kann so etwas nicht einfach wegstecken. Es ist der Punkt, wo aus Opfern Menschen werden, Menschen mit Beziehungen zu andern Menschen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Das war ehrliche Trauer. Die Nachbarin trauert um den Toten, ein tröstlicher Gedanke, finden Sie nicht?«

Die Ankunft des Hausverwalters unterbrach sie. Außer Atem entschuldigte er sich für die Verspätung und reichte ihr eine Mappe mit Dokumenten.

»Mietvertrag, Referenzen, Adresse des Arbeitgebers, alles da, wie Sie sehen«, bemerkte er dazu.

Er sah das zerschnittene Siegel und strahlte.

»Heißt das, die Wohnung ist freigegeben?«

»Leider nein, Sie müssen sich gedulden, bis der Fall abgeschlossen ist.«

Er wich entsetzt einen Schritt zurück. »Aber – wie lang dauert das noch? Die Wohnung muss gereinigt werden, bevor die neuen Mieter einziehen.«

»Neue Mieter? Das ging aber flott.«

»Was glauben Sie, wie lang unsere Warteliste ist?«

Es gab zwar kaum bezahlbaren Wohnraum in dieser Stadt, aber Eddie Jones‘ Wandschrank konnte man auch nur mit viel gutem Willen als Wohnung bezeichnen. Sie schwieg und staunte über die nächste Bemerkung des Hausverwalters:

»Mr. Jones hat die Wohnung vorletzte Woche gekündigt. Da mussten wir natürlich handeln.«

»Wann genau war das?«

»Die Kündigung? Wir haben sie Freitag vor einer Woche erhalten.«

Zur gleichen Zeit hatte sich Eddie Jones von der Nachbarin verabschiedet nach der Räumung seiner Wohnung. Es war ein Abschied für immer, und er wusste es, wie eine Katze, die sich zum Sterben in ein dunkles Versteck verkriecht. Die Kopie der Kündigung lag bei den Dokumenten des Hausverwalters. Sie enthielt keine Begründung.

»Gab es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz?«

Der Hausverwalter zuckte die Achseln. »Mir ist nichts bekannt, aber das müssen Sie bei Siemens nachfragen. Er hat dort im Sicherheitsdienst gearbeitet. Steht alles in den Unterlagen.«

Bevor sie wieder ins Auto einstiegen, sagte sie zu Seidel:

»Melden Sie uns bei Siemens an. Wir möchten mit dem Personaldienst und den Kollegen sprechen.«

Sie selbst musste nachdenken.

Die Lagebesprechung bei Staatsanwältin Winter geriet zur Nagelprobe für den armen Seidel. Sie richtete die Fragen nur an ihn, begierig darauf, den jungen Mann bei einem Fehler zu ertappen. Ihr Verhalten erinnerte Chris fatal an den Griesgram Mertens. Seidel schwitzte Blut. Man sah es ihm an. Umso lustvoller versuchte Winter, ihn in die Enge zu treiben. Chris bereitete sich auf die Rettung in letzter Sekunde vor, doch er hielt stand, wiederholte die Fakten sachlich, auch wenn sie zum dritten Mal danach fragte. Auch ihre eigenen Recherchen bei der US-Navy gab er korrekt wieder. Sie konnte sich zurücklehnen und einmal mehr im Geiste Hauptkommissar Mertens danken.

»Wie wir wissen«, fuhr er fort, »hat Mr. Jones als SCPO der US-Navy in Afghanistan gedient. Dort ist er schwer verwundet worden. Nach einem längeren Klinikaufenthalt im Lazarett Landstuhl bei Kaiserslautern hat er vor zehn Jahren den Dienst quittiert. Seither führte er ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben in Deutschland. Er ist jedenfalls nicht aktenkundig.«

Die Staatsanwältin öffnete den Mund, doch er nahm ihre Frage vorweg:

»SCPO ist das offizielle Kürzel für Senior Chief Petty Officer, was etwa dem Stabsbootsmann der Deutschen Marine, also einem höheren Unteroffiziersrang, entspricht.«

Immer noch kein Fehler. Die Enttäuschung stand der Staatsanwältin ins Gesicht geschrieben. Mangels Alternative wandte sie sich an Chris und fuhr sie an:

»Mir scheint, wir gewinnen jedes Quiz über Mr. Jones, aber gibt es vielleicht auch einen winzigen Hinweis auf den Täter?«

»Nur Vermutungen. Wir stehen erst am Anfang.«

Winter spielte ungeduldig mit ihrem Stift und wartete. Da niemand weitersprach, platzte ihr der Kragen:

»Verdammt, wissen Sie, was da los ist? Die Presse rennt mir die Bude ein. Ein schwarzer US Soldat von einem Profikiller mitten in Berlin erschossen – ein Albtraum!«

»Vor allem für den Soldaten«, bemerkte Chris kühl.

Sie konnte es nicht lassen. Die Presse interessierte sie einen feuchten Kehricht, und an den Profikiller glaubte sie nicht. Der hätte sich nicht mit einem einzigen Schuss zufriedengegeben. Drei Schüsse in Kopf und Herz, um sicher zu gehen, das war die übliche Methode. Sie verspürte keine Lust, die Winter aufzuklären. Die Sitzung hatte schon zu viel Zeit gekostet, doch die Staatsanwältin gab noch nicht auf:

»Können wir ein rassistisches Motiv ausschließen?«

»Erst, wenn wir den Täter gefasst haben«, antwortete Chris getreu nach Lehrbuch.

»Das weiß ich auch. Vielen Dank für die Aufklärung. Ich will aber wissen, was Sie denken.«

»Eddie Jones hat seinen Abgang geplant, so viel ist bekannt. Er hat die tödliche Kugel ruhig erwartet, ohne sich zu wehren. Für mich sieht das nicht nach rassistischer Gewalttat aus.«

»Trotzdem, solang der Täter ein Phantom bleibt, müssen wir in alle Richtungen ermitteln.«

»Wir müssten«, gab Chris zu, »aber ohne Leute? Wir nehmen uns jetzt das Arbeitsumfeld des Opfers vor. Es könnte sich sehr wohl um eine Beziehungstat handeln.«

Winter verzichtete auf Einspruch und schloss die Sitzung mit dem Allgemeinplatz: »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Seidel holte tief Luft und räusperte sich umständlich, bevor er sie unter der Tür ansprach:

»Frau Dr. Winter, Sie wollten mich sprechen?«

Sie blickte ihn abwesend an. »Ich? Ach so, ja, hat sich erledigt, danke.«

Chris sah die Endorphine in seinen Augen tanzen wie Derwische.

»Haben Sie das gehört, Seidel? Sie hat Danke gesagt, Danke, unvorstellbar.«

Er nickte ergriffen mit dem Lächeln der Mona Lisa im Gesicht.

Jens Haase erwartete sie auf dem Flur, ein Bündel Akten unter dem Arm.

»Das sind Ihre Unterlagen für den Besuch bei Siemens«, sagte er.

Verblüfft nahm sie die Papiere entgegen. »Ich habe eher ein Blatt A4 erwartet, kein Buch, aber vielen Dank.«

»Das Wichtigste steht auf dem Deckblatt.«

 

Haase mochte nicht der Schnellste sein zu Fuß, beim Recherchieren hingegen schlug er sie um Längen. Ein süßlicher Duft nach geröstetem Getreide und Kakao strömte aus seinem Büro.

»Betreiben Sie eine Kaffeerösterei da drin?«

»Riecht gut, nicht wahr? Ich habe die neue Arabica-Mischung erst vor Kurzem entdeckt. Darf ich Ihnen ein Tässchen offerieren?«

»Schwarz ohne alles«, antwortete sie lächelnd.

Er nickte zufrieden. »Die einzige Art, diese edlen Bohnen zu genießen.«

Sie hatte den Tempel der Glückseligen am Treptower Park gefunden. Sie ließ erst ihre Nase trinken, bevor sie die Tasse zum Mund führte. Haase trank mit geschlossenen Augen in kleinen Schlucken. Plötzlich schlug er sich an die Stirn.

»Ich alter Esel!«, rief er aus, »Dr. Lenz von der KTU Wiesbaden hat angerufen. Entschuldigung, ich werde vergesslich.«

»Kaffee hilft eben nur dem Langzeitgedächtnis«, lachte sie. »Was hat Caro zu berichten?«

»Sie wollte mir nichts sagen, aber es scheint wichtig zu sein. Sie sollen sie zurückrufen.«

War die Kriminaltechnik schon fertig mit der Analyse? Ihre Freundin Caro Lenz, Chemikerin wie sie, arbeitete schnell, aber so schnell? Die ersten Worte aus dem Hörer dämpften ihre Freude sogleich:

»Wir kommen nicht weiter«, sagte Caro.

»Mal was ganz Neues. So etwas aus deinem Mund?«

»Ich hoffe, du amüsierst dich gut.«

Caro litt, wie schon früher an der Uni, wenn sie ein Problem nicht lösen konnte. In solchen seltenen Fällen war es besser, den Mund zu halten, also wartete sie auf ihre Erklärung.

»Zuerst das Offensichtliche«, begann sie mürrisch. »Der Täter hat Munition vom Kaliber 9x19 mm Parabellum benutzt. Die Tatwaffe ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Beretta M9, die offizielle Pistole der US-Navy. Soweit ist alles klar. Verwertbare Fremd-DNA gibt es keine. Fingerabdrücke auf der Patronenhülse sind durch die Hitze zerstört worden. Die Abdrücke auf der Erkennungsmarke hat der Täter wohl abgewischt.«

»Das ist Pech, aber nichts Ungewöhnliches«, bemerkte Chris.

Caro reagierte unwirsch: »Ich bin noch nicht fertig. Wie gesagt, die konventionelle Methode liefert keine Fingerabdrücke, aber wir haben ›Bullet Fingerprints‹ sichergestellt, und zwar sowohl auf dem Dog tag wie auf der Patronenhülse.«

»Was sind ›Bullet Fingerprints‹?«

Die Frage verbesserte Caros Laune augenblicklich.

»Sieh an, die allwissende Chris ist nicht auf dem neusten Stand«, lachte sie. »Zugegeben, die Methode der ›Bullet Fingerprints‹ ist neu. Wir können damit Abdrücke auf Metall sichtbar machen, selbst nachdem sie abgewischt sind. Man behandelt die Oberfläche mit einem Keramikpulver und legt eine hohe Spannung an. Das Pulver reagiert so mit feinsten Korrosionsspuren, die Finger auf dem Metall zurücklassen. Dadurch konnten wir identische Zeigefinger- und Daumenabdrücke auf der Hülse und dem Dog tag sicherstellen, die nicht vom Opfer stammen.«

Das hörte sich an wie Weihnachten, und sie gab es Caro zu verstehen.

»Schon, aber jetzt ist Ende der Fahnenstange«, klagte ihre Freundin. »Wir haben alles abgesucht. Es gibt keinen Treffer in unseren Datenbanken. Ich packe alles in eine Mail und wünsche dir viel Erfolg.«

Chris teilte Caros Pessimismus nicht. Sie waren einen enormen Schritt vorangekommen. Es gab eindeutige Fingerabdrücke des Täters, anders waren die Spuren auf der Patronenhülse kaum zu erklären, und sie wusste nun, dass der Täter die Erkennungsmarke angefasst hatte. Weshalb, blieb ein Rätsel, aber es könnte ein wichtiges Indiz sein. Die Armeepistole als Tatwaffe passte zu ihrem Verdacht, es handle sich um eine Beziehungstat unter ehemaligen Kameraden. Es lag auf der Hand, durch welche Datenbank sie die Fingerabdrücke nun schicken mussten.

»Haben Sie gute Verbindungen zur US-Navy?«, fragte sie Haase mit ironischem Unterton.

»Kann man nicht behaupten, aber mailen Sie mir die Bilder. Ich kümmere mich um den Papierkram und schicke sie ans EUCOM in Stuttgart.«

»Das wird dauern«, sagten beide gleichzeitig.

»Wir müssen aufbrechen«, mahnte Seidel.

Sie nickte, wollte ausloggen, als der Groschen fiel. Es gab möglicherweise einen schnelleren, kleinen Dienstweg: Sofie Neubauer, ihre Bekannte beim Bundesnachrichtendienst. Ein Schuss ins Blaue, aber einen Versuch wert. BND, MAD und Verfassungsschutz besaßen ihre eigenen Archive und Datenquellen. Sie traute Sofie zu, die Fingerabdrücke zu identifizieren, falls sie dort gespeichert waren. Auf dem Weg zu Siemens wuchs ihr Optimismus. Sofie würde bald zurückrufen. Sie spürte es in den Nieren.

Dagmar Krause, die Personalchefin im Siemensturm, hörte Seidels juristischem Monolog mit offenem Mund zu. Chris wähnte sich in einem alten ›Fall für Zwei‹. Sie traute nicht allen Argumenten ihres Referendars, doch seine Rede wirkte Wunder. Die Personalchefin gab die Akte Eddie Jones ohne Gerichtsbeschluss heraus. Chris überflog die jüngsten Einträge und stutzte.

»Mr. Jones hat vor einem Monat gekündigt? Was war der Grund?«

»Wir wissen es nicht. Es war sein Entschluss, völlig überraschend für Herrn Weller, den Sicherheitschef. Mit dem Personaldienst hat Mr. Jones nicht darüber gesprochen.«

»Seltsam«, murmelte Chris.

»In der Tat. Es gab nie Probleme mit Herrn Jones, wie sie der Akte entnehmen werden.«

Ein vorbildlicher Mitarbeiter kündigt von einem Tag auf den andern. Einen Monat später liegt er erschossen im Gras. Was war geschehen? Die Personalakte musste genau analysiert werden, doch Chris versprach sich nicht viel davon.

»Gab es private Kontakte zu andern Mitarbeitern?«

Dagmar Krause zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Solche Fragen stellen Sie am besten dem Sicherheitschef. Herr Weller kennt Herrn Jones, seit er bei uns angefangen hat vor sechs Jahren.«

Paul Weller empfing sie mit festem Händedruck und dem offenen Blick des ehrlichen Mannes. Er war der zweite Mensch, der sich tief betroffen zeigte vom gewaltsamen Tod des Eddie Jones.

»Eddie – ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte er. »Eddie war ein Glücksfall für uns, müssen Sie wissen. Ein ehemaliger Elitesoldat der US-Navy, Afghanistan-Veteran, anständig, verschwiegen, gute Manieren, gutes Deutsch: Was will man mehr in einem Sicherheitsdienst?«

»Gab es besonders enge Kontakte zu andern Personen in der Firma oder privat, Freunde, Feinde?«

»Eddie war ein Einzelgänger. Er trat niemandem auf die Füße, ließ aber auch niemanden an sich herankommen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Außer Alvarez, mit dem verband ihn eine alte Freundschaft. Diego Alvarez ist Ex-Soldat wie er, kämpfte auch in Afghanistan.«

Chris horchte auf. »Diesen Herrn Alvarez möchte ich zuerst sprechen.«

»Das ist leider zurzeit nicht möglich. Er befindet sich auf Heimaturlaub, wie er es nennt. Einmal im Jahr verreist er für einen Monat in die Staaten, meist über den Militärflugplatz Ramstein.«

»Wann ist er abgereist?«

»Moment.« Er beugte sich über den Einsatzplan auf seinem Schreibtisch. »Letzten Dienstag. Wir erwarten ihn am 26. zurück.«

Ihre Hoffnung schwand. War er tatsächlich am Dienstag abgeflogen, hatte Mr. Alvarez ein perfektes Alibi. Der tödliche Schuss war am darauffolgenden Freitag gefallen.

»Wie kann ich Herrn Alvarez erreichen?«

Weller grinste verlegen. »Ich führte, gar nicht. Wir kennen leider keinen Kontakt in den USA. Er besitzt zwar ein Handy, nimmt aber grundsätzlich im Urlaub keine Anrufe darauf entgegen.«

Er schrieb die Telefonnummer auf einen Zettel und schob ihn mit einer Entschuldigung über den Tisch.

Die Befragung von Wellers Leuten auf dem weitläufigen Gelände zog sich bis in den Abend hin. Seidel sank am Ende erschöpft auf den Beifahrersitz, unfähig, weiterhin den Chauffeur zu spielen. Er zog ein mit Seidenpapier umwickeltes Ding aus der Tasche, das auf den ersten Blick an gefriergetrocknetes Erbrochenes erinnerte. Er brach ein Stück ab, schob es in den Mund, lehnte sich zurück und begann glücklich darauf zu kauen. So etwas Widerliches hatte sie zuletzt an einem Tatort gesehen. Es gelang ihr nicht, den Blick abzuwenden. Die Hand mit dem Zündschlüssel rutschte ab.

»Entschuldigen Sie, möchten Sie auch ein Stück?«

Das Erbrochene schwebte unmittelbar vor ihrem Gesicht. Unfähig zu sprechen, wich sie zurück.