Lipstick Traces

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MAINSTREAM ROCK ’N’ ROLL,

inzwischen (1975) von der weißen Mittelklasse dominiert, spielte unverdrossen zu Rhythmen, die fast vollständig deckungsgleich waren. »Abenteuer« und »Risiko« waren Parolen, schließlich leere Phrasen der sechziger Jahre geworden, eine Zeit, die selbst zur Phrase geworden war, »die Sixties«. Jetzt schmiedete man aus den mit den Kämpfen und Experimenten jener Zeit verbundenen Toten, Zusammenbrüchen und Ausgebrannten die scheinheilige Parole der siebziger Jahre: »Überleben«.

So seltsam das Wort auch klingt, wenn es um die Chancen relativ junger weißer Bürgerkinder geht – denn fast ausschließlich auf solche wurde das Wort angewandt –, es stellte sich doch heraus, dass man ihm unmöglich widerstehen konnte. Dank des Zaubers der gewöhnlichen Sprache tilgten »Überleben« und sein Zwilling »Überlebender« die Sixties als Fehler aus dem Geschichtsbuch und verwandelten jeden in den siebziger Jahren erfolgten Akt von privater oder beruflicher Stabilität (eine Arbeit behalten, verheiratet bleiben, nicht in eine Nervenklinik eingewiesen werden oder einfach nicht sterben) in Heldentum. Zunächst als Anspielung auf jene »Überlebenden« der »Sixties« missbraucht, die sich mittlerweile im »wirklichen Leben« befanden, enthielt das Wort eine unerbittliche Gleichung: Überleben war das wirkliche Leben.

Nicht lange, und jeder, dessen materielle oder physische Existenz eindeutig nicht gefährdet war, konnte den Titel eines Überlebenden in Anspruch nehmen, und Überlebender genannt zu werden bedeutete höchstes Lob. Die Idee griff um sich. Andeutungsweise schlichen sich Aggressionen ein: Anzeigen für eine neue Kofferserie, »The Survivor« genannt, ließen keinen Zweifel daran, dass es um das Überleben des Stärksten ging – im Dschungel der neuen Ökonomie war alles andere unwichtig. Die Idee eroberte die Ontologie, und sie überrannte die Moral. »Garp ist ein Überlebender«, schrieb ein Fan von John Irvings Roman Garp und wie er die Welt sah, wohl wissend, dass Irvings Held mit dreiunddreißig erschossen wird. Das war der definitive Sieg der Idee über das Wort: der tote Überlebende.

Diese Ansicht, die Bruno Bettelheim 1976 einen »völlig sinnentleerten Überlebensbegriff« nannte, laut der »Überleben alles ist, ganz egal wie, warum, wofür«, schlich sich in jeden Diskurs ein. Bettelheim schrieb über die neue philosophische Glorifizierung von »Überleben« im Gegensatz zu dem – sei es auch nur in der Phantasie stattfindenden – Widerstand in den Vernichtungslagern der Nazis; folge man Argumenten, wie sie in Lina Wertmüllers Film Sieben Schönheiten und Terrence Des Pres’ Lagerstudie The Survivor (Der Überlebende) vertreten würden, bemerkte er, sei »nur eins … wirklich wichtig, nämlich Leben in seiner primitivsten, lediglich biologischen Form … wir müssen ›jenseits der kulturellen Zwänge leben‹ und ›gemäß den primitiven Ansprüchen des Körpers‹.« Mit anderen Worten, man musste gemäß der Diktatur der Notwendigkeit leben, nicht jenseits der Kultur, sondern diesseits, und, wie Hannah Arendt einmal schrieb, die Diktate des Körpers waren der Freiheit abträglich: Wenn das Überleben Vorrang hatte, »musste die Freiheit der Dringlichkeit des eigentlichen Lebensprozesses geopfert werden«. 1952 erzählte Albert Camus in Der Mensch in der Revolte eine andere Geschichte …

In seinem »Sibirischen Tagebuch« erzählt E. E. Dwinger von einem deutschen Leutnant, der seit Jahren als Gefangener in einem Lager lebt, wo Kälte und Hunger herrschen, und sich aus Holzstäbchen ein stummes Klavier gebaut hat. Dort, in dem Berg von Elend, inmitten eines Haufens zerlumpter Menschen, komponierte er eine seltsame Musik, die er allein zu hören vermochte.

eine Geschichte, so Camus, von einem »sinnvollen Aufstand«. Doch Camus war nicht mehr aktuell, genauso wenig wie Kälte und Hunger oder der »Zustand ständigen Mangels und akuten Elends«, den Hannah Arendt unter »Notwendigkeit« verstand. Die Sprache wendete das Innere nach außen, so dass Kultur zum Zwang wurde, Notwendigkeit ein Luxus, Überleben eine Wohlstandssensibilität, weshalb das Glaubensbekenntnis der Überlebenskunst nicht von Notleidenden am eifrigsten aufgegriffen wurde, sondern von Rockstars. Die neue Ideologie ließ sich von Plattentiteln ablesen: Survivor, Rock and Roll Survivor, »You’re a Survivor«, I Survive, »Soul Survivor«, Street Survivors, Survival, Surviving, »I Will Survive«, und so weiter in einer endlosen Leier; und in beinahe jedem Fall handelte es sich um Produkte von Künstlern, die schon Jahre zuvor in ehrenhaftes Schweigen hätten versinken sollen, sich aber nun berechtigt sahen, ihre Produkte bis in alle Ewigkeit zu verhökern, mehr noch, dieses Verhalten als moralischen Triumph zu feiern, einen Triumph, der jeden Versuch abwertete, Abenteuer und Risiko zu suchen. Eine Garantie, an Langeweile zu sterben, gegen eine Garantie zu tauschen, nicht Hungers zu sterben, war ein gutes Geschäft – das einzige Spiel in der Stadt.

DA MAN

ihn inzwischen mit den Leuten identifizierte, die über das nötige Geld und die richtigen Firmen-Connections verfügten, um an die raffiniertesten und ausgefallensten Hilfsmittel zu gelangen, wurde der Rock ’n’ Roll zum alten Hut; eine zeitgenössische Parodie ließ einen Rockstar von seiner Plattenfirma fordern, dass sie die Aufnahme seines nächsten Albums im Weltraum finanzierte, was aber nicht wie eine Parodie wirkte. Rockmusik wurde zu einem x-beliebigen gesellschaftlichen Faktor, wie die Fahrt eines Pendlers oder der Bau einer Autobahn. Er wurde eine Angewohnheit, eine Struktur, unsichtbare Unterdrückung.

Die Sixties, schon zu ihrer Zeit eine mythische Ära, beruhten auf dem Glauben, da alles wahr sei, sei alles möglich. Unter Rockstars reduzierte sich diese utopische Ideologie in den siebziger Jahren auf einen betuchten Solipsismus. Von dem barfüßigen Solipsismus des Überlebens in Vernichtungslagern aus betrachtet, war sogar eine Widerstandsphantasie – die von Natur aus fast eine Phantasie der Kollektivität, der Solidarität sein musste – utopisch; indem sie auf der Sensibilität des Individuums als Quelle aller Werte bestanden, machten Rockstars Solipsismus zur Utopie. Wie Filmstars hatten sie so viel Geld verdient, dass sie das, was auf der Welt passierte, weder berührte noch interessierte, und ihre Vorträge über ein sorgloses und fast problemfreies Leben sprachen ein breites Publikum an. Veränderung war nicht notwendig; »Veränderung« klang mittlerweile wie ein altmodisches Sechziger-Jahre-Wort. Das in der Gesellschaft generell herrschende Chaos verlangte nach einer beständigen und beruhigenden Musik; in der Pop-Welt stand die Zeit still. Jahrelang, scheinbar jahrzehntelang, konnte man das Radio anstellen und sicher sein, James Taylors »Fire and Rain« zu hören, Led Zeppelins »Stairway to Heaven«, »Behind Blue Eyes« von den Who, Rod Stewarts »Maggie May«. Das ging in Ordnung; es waren gute Songs.

EINIGE LEUTE

verloren ihr Interesse an Überraschungen; andere hatten es nie besessen. »Die Leute bezahlen, um zu sehen, wie andere an sich selbst glauben«, schrieb 1983 Kim Gordon von der New Yorker Punk-Band Sonic Youth. »Auf der Bühne, mitten im Rock ’n’ Roll, passiert ’ne Menge, und alles kann passieren, ob die Leute als Voyeure kommen oder um sich dem Augenblick hinzugeben.« Solche Worte wären Mitte der siebziger Jahre nicht geschrieben worden, als die Leute bezahlten, um zu sehen, wie andere glaubten, dass andere an sie glaubten. Wenn damals Konzerte zu Ende waren, standen die Fans auf, zündeten Streichhölzer an und hielten sie hoch: Sie beteten.

Man schrieb 1974. Malcolm McLaren hielt sich kurz in den USA auf und managte die New York Dolls, die damals in den letzten Zügen lagen. Sie waren in seinen Laden spaziert und hatten ihm ihre Platten vorgespielt; er hatte gelacht. »Ich konnte nicht fassen, wie jemand so schlecht sein konnte«, sagte er viel später, als er erzählte, in diesem Moment sei ihm die Idee für die Sex Pistols gekommen. »Dass sie so schlecht waren, überfiel mich mit solcher Macht, dass mir plötzlich klar wurde: ›Ich lache, ich rede mit diesen Burschen, ich sehe sie an, und ich lache mit ihnen.‹ Und plötzlich war mir egal, ob jemand gut spielen konnte. Ob man über Rockmusik auch nur so weit Bescheid wusste, dass man Songs richtig schreiben konnte, war nicht mehr wichtig … Die Dolls brachten mir zu Bewusstsein, dass es noch etwas anderes gab. Es war etwas Großartiges. Mir fiel auf, wie genial sie waren, um so schlecht zu sein.«

Zweifellos spielte McLaren ein Jahr später den Sex Pistols Dolls-Platten vor, so wie Sam Phillips zwei Jahrzehnte zuvor seinen neuen Rockabilly-Sängern alte Blues-Platten vorgespielt hatte. Ein von McLaren bemaltes und bei den letzten Gigs der Dolls aufgehängtes Transparent hielt die tote Zeit fest, der sie nie entkommen waren: »WHAT ARE THE POLITICS OF BOREDOM?« Was ist die Politik der Langeweile?

ES WAR

ein situationistischer Slogan zweiten Grades. »Langeweile ist immer konterrevolutionär«, hatten die Situationisten gern behauptet. McLarens Fragezeichen war seine Art zu fragen, wie viel heimliche Macht in den Slogans steckte, denen er so große Bedeutung beimaß; um die Antwort zu finden, musste man die Slogans benutzen. »Langeweile ist immer konterrevolutionär« – dieser Satz war typisch für den Stil der Situationisten, für ihren Ton, ein Paradoxon aus toter Rhetorik und Umgangssprache, das kurz vor der Unlogik haltmachte, eine sich noch während man sie hörte in eine Frage verwandelnde Aussage: Was heißt das?

 

Man weiß es bereits, die Situationisten hatten die Antwort gegeben: Uns fehlt lediglich das Bewusstsein dessen, was wir wissen. Unser Projekt ist nichts weiter als eine verführerische, subversive Neuformulierung des Offensichtlichen: »Unsere Vorstellungen sind in allen Köpfen.« Unsere Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert, warum sie verändert werden muss, sind in allen Köpfen, und zwar als Gefühle, die in Ideen zu übersetzen niemand bereit ist, daher übernehmen wir die Übersetzung. Mehr müssen wir nicht tun, um die Welt zu verändern.

Für den Situationisten war Langeweile ein höchst modernes Phänomen, eine moderne Form von Kontrolle. Während der Feudalzeit und während des ersten Jahrhunderts der industriellen Revolution führten stumpfsinnige Plackerei und Entbehrung zu abstumpfender Erschöpfung und schrecklichem Elend, nichts Rätselhaftes, nur eine gottgegebene Tatsache: »Mit Adams Fall haben wir alle gesündigt«, und was die betraf, die weder Erschöpfung noch Elend kannten, so war es für ein Kamel leichter, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in den Himmel zu kommen. Nach Ansicht der Situationisten produzierten Modernität, verringerte Arbeitszeit und relativer Überfluss, Stadtplanung und der Wohlfahrtsstaat nicht Glück, sondern Depression und Langeweile. Da Gott fehlte, empfanden die Menschen ihren Zustand nicht als gottgegeben, sondern nur als schicksalhaftes Ereignis bar jeder Bedeutung, das jeden Mann und jede Frau von allen anderen trennte, wodurch alle Menschen wieder auf sich selbst zurückgeworfen wurden. Ich bin nicht glücklich – was stimmt mit mir nicht?

Fatalismus ist Hinnahme; »Que sera, sera« ist immer konterrevolutionär. Doch wie die Situationisten die moderne Welt verstanden, war Langeweile weniger eine Frage der Arbeit als der Freizeit. Als sie sich in den fünfziger Jahren aufmachten, schien die Arbeit ihre Kontrolle über das Leben einzubüßen; »Automatisierung« und »Kybernetik« waren schöne neue Wörter. Die Freizeit gewann an Bedeutung, und um an der Macht zu bleiben, mussten die Herrschenden, ob kapitalistische Direktoren im Westen oder kommunistische Bürokraten im Osten, dafür sorgen, dass die Freizeit so langweilig war wie die neuen Arbeitsformen; sogar langweiliger, wenn Freizeit die Arbeit als Zentrum des Alltagslebens ersetzen sollte, tausendmal langweiliger. Was könnte mit größerer Gewissheit einen isolierten, hoffnungslosen Fatalismus erzeugen als das Gefühl, ausgerechnet bei einer Sache abgestumpft zu sein, bei der man Spaß haben sollte?

Die acht Frauen und Männer, die sich am 27. Juli 1957 in der italienischen Stadt Cosio d’Arroscia trafen, um die Situationistische Internationale zu gründen, gelobten, einer Zukunft den Kampf anzusagen, die ihrer Meinung nach kurz davor stand, sowohl materielle Not als auch individuelle Autonomie abzuschaffen. Die moderne Technologie malte das Schreckgespenst einer Welt an die Wand, in der »Arbeit« – als Angestellter, Lohnabhängiger, jede Tätigkeit, die man tat, weil jemand anderes es sagte – bald nichts weiter sein könnte als ein Grimmsches Märchen. In einer neuen Welt unbegrenzter Freizeit könnte sich jeder einzelne ein Leben maßschneidern, so wie in der alten Welt ein paar privilegierte Künstler ihre Vorstellungen von Leben umgesetzt hatten. Es war ein alter Traum, der Traum des jungen Karl Marx – jeder sein eigener Künstler! –, aber diejenigen, denen die Gegenwart gehörte, sahen die Zukunft viel deutlicher als sämtliche drögen linken Sekten, die Marxens Erbe für sich beanspruchten. Die Herrschenden veränderten das gesellschaftliche Leben nicht nur, um die Kontrolle zu behalten, sondern um sie zu verstärken; die moderne Technik war ein zweischneidiges Schwert, ein Mittel, um das unbeackerte Feld des Überflusses und der Freizeit zu beackern, das die Revolutionäre seit fünfhundert Jahren fasziniert hatte. Daher Langeweile. Elend führte zu Groll, der früher oder später sein berechtigtes Ziel fand, nämlich die Herrschenden. Langeweile war etwas Nebelhaftes, Verwirrung und schließlich die äußerste Form von Kontrolle, Selbstkontrolle, perfektionierter Entfremdung: ein schlechtes Gewissen.

In der modernen Gesellschaft trat an die Stelle der Freizeit (Was möchte ich heute tun?) die Unterhaltung (Was wird mir heute geboten?). Der potentielle Fakt aller möglichen Freiheiten wurde durch eine Fiktion falscher Freiheiten ersetzt: Ich habe genug Zeit und Geld, um mir anzusehen, was es zu sehen gibt, mir anzusehen, was andere tun. Weil diese Freiheit falsch war, war sie unbefriedigend, sie war langweilig. Weil sie langweilig war, konnte dann jeder Unzufriedene über seine Unfähigkeit nachgrübeln, mit einer erfolgreichen Show etwas anzufangen. Die Show ist gut, aber ich fühle mich leer; mein Gott, was stimmt mit mir nicht? Freizeitkultur schuf Langeweile … produzierte sie, verkaufte sie, strich die Profite ein und investierte sie wieder. Die Leute würden also die Welt verändern, verkündete die erste Ausgabe der internationale situationniste im Juni 1958, »UM SICH NICHT ZU LANGWEILEN!… Langeweile ist die dem alt gewordenen Surrealismus, den wütenden und wenig informierten jungen Männern und dieser Rebellion der behaglich lebenden Jugendlichen gemeinsame Wirklichkeit, die zwar ohne Perspektive ist, aber weit davon entfernt, ohne Grund zu sein. Die Situationisten werden das Urteil vollstrecken, das die heutige Freizeit gegen sich selbst fällt.«

Die Situationisten hielten Langeweile für eine gesellschaftliche Krankheit; unter Soziopathen suchten sie nach deren Negation. Auf den Seiten ihrer Zeitschrift hat es manchmal den Anschein, als seien geisteskranke Kriminelle und Randalierer, die keine Manifeste veröffentlichen, die einzigen von den Autoren akzeptierten Verbündeten. Die Situationisten wollten eine Haltung definieren, keine Ideologie, da sie alle Ideologien als Entfremdung betrachteten, als Transformationen von Subjektivität in Objektivität, von Verlangen in eine Macht, die das Individuum zur Machtlosigkeit verdammte: »Es gibt gar keinen Situationismus«, verkündeten sie jahrelang. Die Welt sei eine aus Entfremdungen und Ideologien von Hierarchien und Bürokratien aufgebaute Struktur; jede für sich war für sie eine Version jeder anderen. Als ein Verrückter ein berühmtes Gemälde zerstörte, feierten sie das daher als symbolischen Aufstand gegen eine bürokratisch verwaltete Entfremdung, aufgrund deren die Ideologie des Meisterwerkes jeden auf ein Nichts reduzierte, der es betrachtete. Ebenso war für sie der Ordner, der bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg für deren friedlichen Verlauf zu sorgen versuchte, ein bürokratischer Ideologe, der einen Bruch zwischen Verlangen und Verhalten erzwang – und genauso ein Gegner wie General William Westmoreland oder auch Ho Chi Minh. Gemälde und Krieg waren erfolgreiche Inszenierungen; ob Museumsbesuch oder Demonstration, beide Freizeitbeschäftigungen waren Konsum von Repression. Das Meisterwerk überzeugte dich, dass Wahrheit und Schönheit ein Geschenk Gottes an jemand anderen war, der Protest gegen den Vietnamkrieg machte dir klar, dass im Leben anderer Menschen die Revolution ein Faktum war. Keins von beiden würde je auf dich zutreffen, daher nahmst du beim Verlassen beider Veranstaltungen weniger mit, als du mitgebracht hattest. Deshalb, so erklärten die Situationisten immer und immer wieder, müsse und könne die Veranstaltung beendet werden: So wie die winzigen von dem Demo-Ordner zugefügten Demütigungen die Essenz von Unterdrückung darstellten, konnte die beispielhafte Handlung eines Fanatikers beweisen, dass Freiheit für jedermann erreichbar war.

Die Situationisten bezeichneten sich selbst als Revolutionäre, die sich nur für die Freiheit interessierten, und Freiheit könne das Recht beinhalten, alles zu tun, mit Konsequenzen, die sich von Mord, Diebstahl, Plünderung, Rowdytum oder Müll auf die Straße werfen nicht unterschieden; mangels Alternativen waren die Situationisten als Vorläufer der Revolution fast immer bereit, sich solcher Dinge zu bedienen. Doch Freiheit könne auch die Chance bedeuten, zu entdecken, was man wirklich wolle, zu entdecken, wie Edmund Wilson 1922 in Paris schrieb, »für welches Stück unsere Welt die Bühne ist«. Auch das meinten die Situationisten mit Freizeit … und es war die Lust, es nicht bloß zu entdecken, sondern dieses Stück zu verfassen, die einen fünfundzwanzigjährigen Pariser namens Guy-Ernest Debord bewog, 1957 Künstler und Schriftsteller aus Frankreich, Algerien, Italien, Dänemark, Belgien, England, Schottland, Holland und Westdeutschland in der Situationistischen Internationale zu versammeln. 1975, als die nicht mehr existierende S.I. für ein paar frühere Kunststudenten und radikale Studenten nur noch als Legende existierte, war McLaren immer noch auf der Suche nach diesem Stück. Wie sah die Politik der Langeweile aus?

DEBORD

schrieb für die erste Nummer der internationale situationniste seine »Thesen über die kulturelle Revolution«: »Diejenigen werden siegen«, erklärte er, »die es verstehen, Unordnung zu schaffen, ohne sie zu lieben.« Sowenig auch Unordnung 1975 zum Rock ’n’ Roll gehörte, McLaren erkannte, dass die Jugend sich nur für diese Kulturform interessierte; 1975 war er dreißig und hing einer aus den Sixties stammenden Definition von Jugend an: Jugend war eine Frage der Einstellung, nicht des Alters. Für die Jugend entsprang alles dem Rock ’n’ Roll (Mode, Slang, sexuelle Gewohnheiten, Drogengewohnheiten, Posen), wurde vom Rock ’n’ Roll ins Leben gerufen oder erhielt von ihm die Bestätigung. Jugendliche, die als rechtliche Phantome nichts besaßen, aber als Menschen alles wollten, spürten am deutlichsten den Widerspruch zwischen dem, was das Leben versprach, und was es einhielt: Jugendrevolte war ein Schlüssel zur gesellschaftlichen Revolte, daher bot sich der Rock ’n’ Roll als erstes Ziel der gesellschaftlichen Revolte an. Man konnte Verbindungen herstellen. Falls sich zeigen ließ, dass Rockmusik, Mitte der Siebziger als herrschende Ausnahme des öden gesellschaftlichen Lebens ideologisch konzessioniert, lediglich das glänzendste Rädchen im herrschenden Getriebe war, könnte eine Entmystifizierung des Rock ’n’ Roll zur Entmystifizierung des gesellschaftlichen Lebens führen.#

Die Situation dergestalt darzustellen erforderte Phantasie, ja sogar Genie … wessen, tut nichts zur Sache. Früher war Rock ’n’ Roll als Variante der Revolte von seinen Anhängern immer als Waffe oder, noch radikaler, als Mittel gesehen worden, das sich selbst heiligt, eine flüchtige Version jenes Lebens, das jeder in der besten aller möglichen Welten leben würde. Pete Townshend sagte 1968:

Mutter ist soeben die Treppe runtergefallen, Dad hat sein ganzes Geld beim Hunderennen verloren, das Baby hat Tbc. Der Knabe mit dem Transistorradio kommt rein, vergnügt Chuck Berry hörend. Dass Mom die Treppe runterfällt, ist ihm scheißegal … Prima Sache, dass du ein Gerät hast, ein Radio, das Rock-Songs ausspuckt und dich gut gelaunt durch den Tag bringt. Darum geht’s natürlich: Wenn du dir einen Rock-Song reinziehst, so wie du dir »Jumpin’ Jack Flash« oder was Ähnliches reinziehst, weißt du, so solltest du eigentlich dein ganzes Leben verbringen.

Das hörte McLaren, als 1958 ein Freund aufstand und »Great Balls of Fire« sang … schon das war damals eine Negation gesellschaftlicher Fakten. Doch als Rock ’n’ Roll nur einer von vielen gesellschaftlichen Fakten geworden war, wirkte sich dies gegen ihn selbst aus, auch was den nächsten guten Song betraf. 1975 hoben Townshends Candideismen Rock ’n’ Roll von den gesellschaftlichen Realitäten ab, die der Musik ihre Brisanz lieferten. 1958, auch noch 1968, konnte ein einfaches Rock-Konzert Fragen nach Identität, Gerechtigkeit, Unterdrückung, Wunsch und Verlangen aufwerfen; Mitte der Siebziger sog es solche Fragen in sich auf und ließ sie verschwinden.

Wer wollte behaupten, »Fire and Rain«, »Stairway to Heaven«, »Behind Blue Eyes« und »Maggie May« wären nicht im Namen der Freiheit geschrieben und zur Unterdrückung benutzt worden? Nur wer nicht glauben wollte, dass die Affirmation, bei der man die Freiheit beim Schopf ergreift, auf einer Negation wurzelt, in der man einen Blick auf die Freiheit erhascht … aber zu diesen Leuten gehörten McLaren und die Sex Pistols nicht. Daher verdammten sie Rock ’n’ Roll als faulenden Leichnam, als Ungeheuer der begüterten Reaktion, als einen Mechanismus für falsches Bewusstsein, als System der Selbstausbeutung, als Theater talmihafter Unterdrückung, als langweilig. Rock ’n’ Roll, verkündete Johnny Rotten, sei nur das erste von vielen Dingen, die die Sex Pistols vernichten würden. Doch weil die Sex Pistols keine anderen Waffen hatten, weil sie nicht anders konnten, als Fans zu sein, spielten sie Rock ’n’ Roll, reduzierten ihn wie niemand vor ihnen auf die Grundelemente Geschwindigkeit, Lärm, Zorn und irrwitzige Ausgelassenheit.