Lipstick Traces

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SO FÜHLTE ICH MICH

als Johnny Rotten »Anarchy in the U.K.«, »Bodies«, »No Feelings« und »No Fun« sang. Als er diese letzte Nummer beendete, seinen letzten Auftritt als Mitglied der Sex Pistols, als er alles wieder in die Menge warf – die in seinen Augen lediglich die Verkörperung einer Verkörperung war, fünftausend lebende Symbole à la Scott McKenzies 1967er Hit aus der Ära der Love Generation, »San Francisco (Be Sure to Wear Some Flowers in Your Hair)«, Verkörperungen geistlos liebenswerter Hippies, die keine Ahnung von Negation hatten –, als er beim Verlassen der Bühne, wobei er sorgfältig alle wertvollen Gegenstände aufsammelte, sagte: »Habt ihr schon mal das Gefühl gehabt, betrogen zu werden?«, sprach er mir aus der Seele.

Als 1969 bei einem Rolling-Stones-Konzert in Altamont ein Mann mitten im Publikum vor der Bühne totgestochen und -getreten wurde, empfand ich nur Abscheu und Distanz; die von den Leuten zur Schau getragenen Friedenssymbole waren fast so abscheulich wie die eigentliche Gewalttat. Sie besagten nichts außer der bloßen Tatsache von Symbolisierung; dieselben Leute, die diese Symbole hochhielten, fluchten und schubsten, um ein Plätzchen zu ergattern. Ich ließ mich keinen Moment täuschen, sondern dachte daran, wie erniedrigend das alles war. Auch im Winterland wurde geschubst, aber offenbar nicht aus Wut oder Angst, sondern aus Begeisterung, beinahe als Begrüßungsritual … falls sich André Bretons alter »einfachster surrealistischer Akt«, nämlich mit einer Pistole in eine Masse fremder Menschen zu schießen, oder sich in einem Football-Helm durchzurammen, eine Begrüßung nennen ließ. Nach der Hälfte des Auftritts war aus dem, was in der Menge als Akt begonnen hatte, eine neue Methode der Fortbewegung geworden.

Im Lauf der nächsten Jahre nahm dieser Moment viele Formen an. In Punk-Clubs in Los Angeles, anschließend überall in den USA und auf der ganzen Welt, wurde er zu Slam Dancing und Pit Diving stilisiert. Dieser Moment formte eine Sprache, in der die passiven Neologismen der Inneres-Potential- und Selbsterfahrungs-Therapien (»Danke, dass du deine Wut mit mir geteilt hast«) wieder in reelles Englisch und Deutsch rückübersetzt wurden (»Verpiss dich und stirb«). Er half gewissermaßen mit, den Geist der Krawalle zu bestimmen, die im Sommer 1981 über England hinwegfegten. Konkreter, aus Missachtung jeder Autorität, führte er zu einer enormen Verdreckung der Straßen durch Abfälle. Er erlaubte die Verherrlichung von Rowdytum und das Abstempeln anderer zu Sündenböcken als Ausleben der eigenen Persönlichkeit (in dem 1983 gedrehten Film Suburbia – Rebellen der Vorstadt nähert sich in einem L.A.-Punk-Club ein Skinhead einer Frau, die ein schickes Party-Kleid trägt. »Ich würd dir gern das Hirn aus dem Leib ficken«, sagt er, »aber du siehst nicht aus, als hättest du eins.« Sie versucht, ihn wegzuschubsen; er reißt ihr die Kleider vom Leib und überlässt sie der Menge), und er inspirierte Gudrun Thompson zu »Manners for Muggings« (Der gute Ton des Straßenraubs), das in dem Punk-Blättchen Damage aus San Francisco erschien. Thompson, die ihre Forderung nach neuen Umgangsformen mit Fotos von sich selbst illustrierte, auf denen sie gerade ihren riesigen Freund Stannous Fluoride zusammenschlug, schrieb:

Die Augen sind die verletzlichsten Teile des Körpers. Am besten attackiert man die Augen mit Fingern oder Daumen. Die Finger steif machen, leicht abspreizen, und dann stichst du sie DURCH die Augen des Angreifers. Stich die Finger DURCH SEINEN KOPF … Glaube nie seinem Versprechen, dir würde nichts geschehen, wenn du dich nicht wehrst. Hat er auch nur ein paar Minuten lang die Kontrolle über dein Leben, könnte der Angreifer beschließen, dich auszulöschen. Er hält dich nicht für ein menschliches Wesen mit Daseinsberechtigung … teile diese Einstellung. VERNICHTE IHN, ehe er dich vernichtet.

Empfinde niemals Mitleid mit jemandem, der dich angreift, oder denke, du hättest es dir selbst zuzuschreiben. Wer auch immer es wagt, deine Sicherheit und dein Wohlergehen zu bedrohen, HAT DEN TOD VERDIENT.

Auch ich habe geschubst. Als ich während des Auftritts der Sex Pistols durch die Gänge des Winterland ging, verspürte ich ein Selbstvertrauen und eine Lust, die mir völlig neu waren. Zweiunddreißig Jahre hatten mich nicht gelehrt, was ich an diesem Abend lernte: Wenn man dich schubst, schubs zurück; wenn ein Schubs deine Existenz negiert, negiere den Schubs. Ich empfand zu nichts Distanz, kein Überlegenheitsgefühl. Außerdem empfand ich eine verrückte Bösartigkeit, den Wunsch, andere Leute zu Boden zu schlagen, und mein Blick richtete sich auf den Boden, wo ich kleine Kinder sah (welche Eltern nehmen wohl ihre Kinder an so einen Ort mit, fragte ich mich und dachte an meine eigenen, die zu Hause waren), und ich bekam Lust, sie zu schlagen.

Ich besprach das Konzert für eine Zeitschrift, erwähnte aber nichts von alledem. Ein paar Tage später kam es mir schon unwirklich vor. Als ich Johnny Rotten auf der Bühne gesehen hatte, war ich sicher, dass ich nie wieder etwas Vergleichbares erleben würde, und bis heute habe ich recht behalten.

SOFORT NACH

dem letzten Konzert der einzigen Amerika-Tournee der Sex Pistols nahm Johnny Rotten wieder seinen richtigen Namen an, John Lydon. Im Mai 1534 wurde Johann von Leyden, ein auch als Jan Bockelson bekannter holländischer Ketzer, zum König der deutschen Stadt Münster, des Neuen Jerusalem, ausgerufen – und damit zum König der ganzen Welt.

Vorher im selben Jahr hatte eine Gruppe radikaler Wiedertäufer – eine von vielen radikalen protestantischen Sekten, die darauf aus waren, dekadente kirchliche Rituale durch die wörtliche Umsetzung des Evangeliums zu ersetzen – die Macht in Münster übernommen. Zunächst zwangen sie den Stadtrat lediglich, ein Gesetz zu verabschieden, das »Gewissensfreiheit« garantierte und somit Ketzerei legalisierte, selbst in der Blütezeit der Reformation ein unvorstellbarer Akt. Die Wiedertäufer vertrieben rasch die lutheranische Bevölkerungsmehrheit, siedelten Gleichgesinnte in der Stadt an und errichteten unter der Führung des Bäckers Jan Matthys eine Theokratie. 1957 schrieb Norman Cohn in Das Ringen um das Tausendjährige Reich (ein Buch, das in Frankreich unter dem Titel Fanatiques de l’apocalypse erschien und von den Situationisten sorgfältig geplündert wurde), Münster sei gesäubert und als eine Gemeinschaft der Kinder Gottes neugegründet worden, durch Liebe verbunden, um ohne Sünde zu leben.

Alles Eigentum wurde enteignet, Geld abgeschafft. Man sorgte dafür, dass die Türen aller Häuser Tag und Nacht offenstanden. Auf einem riesigen Scheiterhaufen wurden alle Bücher außer der Bibel verbrannt. »Die Ärmsten unter uns«, stand in einer Münsteraner Flugschrift, mit der man das umliegende Land bekehren wollte, »die als so elegant gekleidet umher wie die höchsten und vornehmsten Leute.« »Alle Dinge sollten Gemeineigentum sein«, sagte Johann von Leyden später. »Es sollte keinen Privatbesitz geben, und keiner sollte irgendwelche Arbeit verrichten, sondern bloß Gott vertrauen.« Ausnahmslos setzte man die neuen Gebote mit Hinrichtungsdrohungen durch.

AFRIKA BAMBAATAA: »Who wants to be / A president or king?«

JOHN LYDON: »Me!«

»World Destruction«, Time Zone, 1984

Vor den Stadtmauern hingegen wurde das Wiedertäufertum – von dem heute noch Elemente in gewissen Glaubensgemeinschaften der Pfingstbewegung überdauert haben – zum Kapitalverbrechen erklärt. Hunderte, womöglich Tausende wurden gefoltert und hingerichtet. Der zuständige Bischof stellte eine Söldnerarmee zusammen und belagerte Münster; bei einem gottgewollten Ausfall gegen die bischöfliche Streitmacht kam Jan Matthys ums Leben, und Johann von Leyden nahm seinen Platz ein.

Er lief nackt durch die Stadt, dann schwieg er drei Tage lang. Während dieser Zeit verkündete Gott eine neue Ordnung. Matthys’ soziale Revolution galt plötzlich als abstrus. Johann von Leyden wollte die Revolution bis in die kleinsten Einzelheiten des Alltagslebens durchsetzen, jegliche Sünde sollte nur noch mit dem Tod gesühnt werden: Diebstahl, Habsucht, Streitsucht, die Aufsässigkeit von Kindern, die Widerworte von Ehefrauen.

Vielweiberei wurde Pflicht. Es wurde zum Kapitalverbrechen erklärt, dass Frauen im gebärfähigen Alter ledig blieben oder die unter dem Dach eines Mannes versammelten neuen Ehefrauen sich stritten. Die Straßen erhielten neue Namen, und Johann von Leyden bestimmte die Namen von Neugeborenen. Spektakel wurden veranstaltet … Fressgelage, gefolgt von Enthauptungen. Im längst geplünderten Dom hielt man schwarze Messen ab.

Immer noch belagert, auch wenn sie sich heftig verteidigten und so Nachschubwege sicherten, rationierte man den Bürgern von Münster die Lebensmittel. Johann von Leyden fastete und kleidete sich in Gold und Seide. Die Brüder des Freien Geistes, die seit dem frühen dreizehnten Jahrhundert die sozialen Ketzereien von »Alle Dinge Gemeineigentum« und »Arbeitet nie« in Europa verbreitet hatten, hatten geglaubt, dass für die wahrhaft freien Geister kein Verbrechen ein Verbrechen und keine Sünde eine Sünde sei, ja, dass Gottes Segen durch Ausübung der größten »Sünden« zu erlangen sei, denn nur so lasse sich beweisen, dass man sich gar nicht beflecken könne. Johann von Leyden teilte seiner Stadt mit, ihm sei Luxus und Wohlleben erlaubt, weil er »für die Welt und das Fleisch tot« sei … was bald auch für alle anderen gelten sollte.

Münstermash

Im Januar 1535 formierte der Bischof seine Kräfte neu und riegelte die Stadt von der Außenwelt ab. Im April hatte man jedes Tier verspeist, auch die letzte Ratte und Maus; dann kamen Gras, dann Moos an die Reihe, dann Schuhe und Kalk und schließlich menschliche Leichen. Johann von Leyden verkündete, Gott werde, wie in der Bibel verheißen, Steine zu Brot machen; die Menschen versuchten, Pflastersteine zu essen. Zweifelnde wurden mit ewiger Verdammnis verflucht, dann ließ man sie gehen; gesunde, kräftige Männer wurden von den Soldaten des Bischofs sofort getötet. Frauen, Kinder und alte Männer ließ man, als hätten sie die Pest, zwischen den Befestigungen und den Stadtmauern verhungern. Um den Tod bettelnd und heulend krochen sie auf Händen und Knien herum und gruben nach Wurzeln; sie aßen Erde. In Münster wuchs der Widerstand gegen Johann von Leyden, und er nahm die Hinrichtungen selbst vor. Die Leichen wurden zerstückelt und die Stücke an Pfähle genagelt.

 

Im Juni 1535 wurde die Stadt verraten und eingenommen. Abgesehen von Johann von Leyden und zwei Vertrauten, brachte man alle Männer um. Johann von Leyden, schreibt Cohn, »wurde auf des Bischofs Befehl eine Zeit lang an einer Kette wie ein Tanzbär im ganzen Bistum zur Schau gestellt«. Im Januar 1536 brachte man ihn und seine beiden noch lebenden Anhänger nach Münster zurück, wo sie »öffentlich mit glühenden Eisen zu Tode gemartert wurden. Der Exkönig gab trotz seiner Qualen keinen Laut von sich und zuckte mit keinem Muskel. Nach der Hinrichtung hängte man die drei Leichen in Käfigen, die noch heute zu sehen sind, an einem Kirchturm inmitten der Stadt auf.«

So viel zu einem wahren Christen, einem wahren Antichrist. Zwar ist es trügerisch, Motive an bloßen Namenszufälligkeiten festzumachen, aber ohne Glück kommt man nicht weit. John Lydon wurde katholisch erzogen; als 1980 zwei »wiedergeborene« Rockkritiker (von denen einer später über christliche Rundfunkstationen Rockmusik als Teufelsmusik verdammte) von ihm wissen wollten, ob er wegen seiner Gotteslästerungen Gewissensbisse habe, sagte Lydon, das träfe zu, rückte aber von nichts ab. Nik Cohn, einer der ersten Rockkritiker, ist der Sohn Norman Cohns; als er 1968 Pop from the Beginning schrieb, das erste gute Buch über das Thema, leugnete er alle Ansprüche auf Bedeutung, die diese Musikgattung erheben mochte, und betonte stattdessen eine pure, sinnliche Anarchie, wie sie sich in der – den deutschen Titel des Buches abgebenden – Parole Little Richards äußert (der zur Zeit der Sex Pistols seinen Lebensunterhalt als Laienprediger verdiente und Rock ’n’ Roll als Teufelsmusik verdammte): A WOP BOP A LOO BOP, A LOP BAM BOOM.

Nik Cohn interessierte sich wahrscheinlich nicht dafür, dass sich Little Richards Glossolalie Tausende von Jahren bis zu gnostischen Gesängen zurückverfolgen ließ, die sich durch die Zeit bewegten, bis sie zu der Sorte von Gebeten wurden, die Mystiker wie Johann von Leyden verwandten, von wo aus sie den Weg in Pfingstgemeinden fanden, wo wiederum Little Richard die Sprache von »Tutti Frutti« lernte. Nik Cohn interessierte sich womöglich nicht dafür, dass eine Version dieser Story, von seinem Vater erzählt, für das Geld sorgte, mit dem er, Nik, Platten von Little Richard kaufte. Cohn junior verstand Little Richards Silbensalat als Angriff auf Sinn schlechthin, als Mittel, eine vollständige Befreiung von ihm zu erreichen. Er behauptete, jeder, der anderer Meinung war, der glaubte, Rock ’n’ Roll könne komplexere Aussagen als Ja oder Nein vertreten oder kompliziertere Geschichten als »Ich will« oder »Lass mich in Ruhe« vortragen, würde von der Gattung selbst vernichtet werden … bestraft, weil er sie verraten hatte. Vielleicht hatte man einen Hit, sagte er, und schon nahm man die Reaktion auf diesen Sound als Beweis, dass man etwas zu sagen habe, aber das stimme nicht. Rock ’n’ Roll habe gar nichts zu sagen, er mache nur einen göttlichen Lärm … und wer etwas anderes behaupte, werde als abgerissener alter Mann mit Blechpfeife enden, der im Regen stehend versuche, sich Gehör zu verschaffen, jemand zum Zuhören zu bewegen, noch einen Hit zu machen.

Natürlich, sagte Cohn – der behauptete, Rock ’n’ Roll sei die Musikform, die den Moment erschaffe und ihn dadurch transzendiere –, wolle das auch jeder andere. Als ich eines Tages aus dem Supermarkt kam, sah ich vier Schwarze Mitte Fünfzig, die Doo-wop-Harmonien aus »Earth Angel« sangen, während sie Kisten auf einen Lkw wuchteten, und mir kam der Gedanke: Ob das früher mal die Penguins waren? Was sollten die Penguins sonst tun, dreißig Jahre nach ihrem einzigen Hit? Es war unwichtig; wenn sich der Sound drei Jahrzehnte lang gehalten hatte, nicht als Erinnerung, sondern als sich selbst auffrischender Moment, war es unwichtig. Das sind die abgerissenen alten Männer mit ihren Blechpfeifen, genau wie alle anderen, die sie hören können.

ZU DER ZEIT,

als John Lydon seine Gotteslästerungen auffrischte, war die Sex-Pistols-Explosion nur noch Erinnerung; sie waren schon lange vorher explodiert, aber die Bruchstücke zuckten immer noch. In einem Nachtclub in San Francisco bearbeitet die Berliner Band Einstürzende Neubauten, sie machte sich mit der LP Strategien gegen Architekturen einen Namen, vor dem Hintergrund düsterer Synthesizertöne mit Industriewerkzeugen Industriewerkstoffe; das ist die Show. »Ganz gleich, was es war«, schrieb der örtliche Kritiker, normalerweise solchen Auftritten gegenüber nicht gerade aufgeschlossen, »langweilig war es nicht.« Bei derselben Veranstaltung tritt der Aktions-Bildhauer Mark Pauline auf, der zuerst mit seiner heimlichen Verfremdung von Reklametafeln vor Ort Aufmerksamkeit erregte, dessen Survival Research Laboratories heute zu der Hintergrundmusik alter Crystals-Platten und neuer Veröffentlichungen der Züricher Frauen-Punk-band Liliput aus Metall und Tierleichen Höllenmaschinen herstellen und der berühmt, ja sogar berüchtigt ist, weil er den größten Teil einer Hand verlor, als er mit einem seiner Geräte experimentierte (später trennte man von seinen Füßen Zehen ab und nähte sie als Ersatzfinger an die kaputte Hand an).

In der New York Times steht eine Bekanntmachung:

Sprache und Geräusche spielen bei den ersten beiden

»Poets-at-the-Public«-Programmen in diesem Jahr die Hauptrolle.

Morgen lesen Autoren aus ihren neuesten Werken, die die Grenzen der Sprache erkunden und daher »Language«-Autoren genannt werden … Die »Noise Music«-Bewegung, ein Produkt der Kunstgemeinde in Downtown New York, wird durch die Band Sonic Youth und David Rosenblooms Experimental Chorus and Orchestra vertreten, der einen Teil von Mr. Rosenblooms »Departure« uraufführen wird.

»Departure« bezieht seinen Text aus dem Gnostischen Evangelium des Thomas, zweites Jahrhundert.

Ein »Rock der achtziger Jahre« präsentierender Mainstream-Radiosender spielt »Institutionalized«, einen eindringlichen Punkgesang der südkalifornischen Band Suicidal Tendencies … spielt das Stück neben den gerade erfolgreichen kalt-romantischen Synthesizerballaden und »novelty records«, Kuriositäten, als eine weitere Kuriosität, weil man »Punk« inzwischen für eine Kuriosität hält, für eine sterile Anomalie. Es ist eine fesselnde Platte, aber sie wurde gefesselt – im Rock der achtziger Jahre als Kuriosität abgestempelt, verweigerte man ihr die Möglichkeit, ihren eigenen Kontext zu suchen, eine Verbindung mit etwas anderem als sich selbst einzugehen.

Ein Halbwüchsiger liegt im Bett und denkt nach. Seine Mutter betritt den Raum: Was ist los mit dir? Nichts, Mom … bringst du mir eine Pepsi? Du hast Drogen genommen, ich wusste es! Nein, Mom, ich hab keine Drogen genommen … krieg ich jetzt ’ne Pepsi? Dein Vater und ich haben darüber gesprochen und beschlossen, dass du dort unterkommen solltest, wo man dir die erforderliche Hilfe zuteil werden lässt … Während hinter ihm die Band rumpelt, fängt der Jugendliche jeden Vers in normalem wohlgeformtem Englisch an, gesprochen, nicht gesungen, aber gegen Ende des Verses wird jedes Wort unglaublich beschleunigt, nicht mit Hilfe von Elektronik, sondern durch Atembeherrschung, ein dichtes und zerhacktes Jaulen, jenseits von Sprache, wenn auch nicht von Rhythmus … irgendwie hält die Band Schritt.

WAS SIND SIE JETZT? Ändern Popstars ihre Meinungen? Wir vergleichen einige Äußerungen von früher und heute. Johnny Rotten, 1977: »Wenn ich glücklich wär, würd mich keiner mögen.« Heute: Malt isoliert vor sich hin. Zitat: »Alles ist furchtbar schiefgelaufen. Ich habe meinen ganzen Hass verbraucht.«

The Assassin, Liverpooler Fanzine, September 1988

Einen Tick neben »Institutionalized« auf der Senderskala spielt eine Rundfunkstation Billy Joels unbeholfenes, hübsches »The Longest Time«, einen in der Vokalmusik der frühen fünfziger Jahre wurzelnden A-capella-Tribut an das Doo-wop-Revival, mit Vorbildern wie »In the Still of the Nite« von den Five Satins oder »Earth Angel« der Penguins; letzteres wurde 1964 in New York und New Jersey als Protest gegen die »Britische Invasion« der Beatles-Ära aufgeführt. Zwanzig Jahre nach diesem kaum registrierten Ereignis wird »The Longest Time« als erste A-capella-Aufnahme ein landesweiter Hit. Auf dem Videoclip des Songs sieht man vierzigjährige Geschäftsleute – übergewichtig, Anzüge mit Westen, Silber im Haar –, die sich in ihre Blue Jeans tragenden, die High-School besuchenden Ebenbilder mit Schmalztolle verwandeln, wie sie auf dem Jungenklo mehrstimmig Gesänge vortragen, einen schwarzen Hausmeister von oben herab behandeln, sich dann in Geschäftsleute zurückverwandeln und über die Schulflure schlendern, als wären sie immer noch freie Menschen. Diese alten Männer sind nicht heruntergekommen, sie sind nicht einmal alt. Jugend hört nie auf, macht uns das Video weis und geht zum Anfang der Zeit zurück, womit in diesem Fall der Anfang des Rock ’n’ Roll gemeint ist: »Das kann mir keiner nehmen.« Nichts hat sich geändert, nichts wird sich je ändern.

In einem der zahllosen Paradoxa seines Auftritts verkündete Johnny Rotten, was als Jugendrevolte verstanden wurde, während er den Status von Jugend als solcher ablehnte: Als ein Antichrist erklärte er sich für das gesamte gesellschaftliche Leben zuständig. Heute hat es im Popmilieu, in der Symbolfabrik, den Anschein, als hätte es ihn nie gegeben. Es ist das Jahr des Michael Jackson, ein langes Jahr … ein Jahr, so könnte man, während es sich ausbreitet, meinen, das nie enden wird.

Es begann am 16. Mai 1983 mit der Ausstrahlung einer Fernsehsondersendung zum fünfundzwanzigsten Bestehen der Plattenfirma Motown Records. Als elfjähriger Leadsänger der Jackson 5, bestehend aus Brüdern, die das teenagerhafte Schmachten von Frankie Lymon mit der eigenwilligen Dynamik von Sly and the Family Stone verbanden, hatte Michael Jackson 1969 und 1970 seine ersten epochalen Hits für Motown Records gelandet; jetzt war er wieder da, um seinen Tribut zu zollen, um mitzufeiern. Schlank, gutaussehend, erwachsen, aber immer noch ein Kind, ein Afroamerikaner mit den chirurgisch geschaffenen Gesichtszügen eines Weißen, androgyn, ein Wechselbalg, der mit einem Senken der Schulter Bedrohung signalisierte, Trost durch ein Lächeln, der einen Song von seinem neuen Album Thriller sang, nach vorn zu treten und gleichzeitig irgendwie zurückzugleiten schien, der sich auf der Studiobühne bewegte, nicht als gehörte sie ihm, nicht als sei sie für ihn gebaut worden, sondern als habe allein seine Präsenz ihre Existenz bewirkt, schockierte er die Nation.

Von Thriller, dieser prickelnden, genial konstruierten Version der Popmusik, wurden zehn, dann zwanzig, dreißig, vierzig Millionen Exemplare verkauft. Ein Song nach dem anderen wurde aus Thriller ausgekoppelt und drang in die Top Ten vor. Von dem Video des Titelstücks, für 500 000 Dollar produziert und zum Preis von dreißig Dollar angeboten, wurden 750 000 Stück verkauft. Im elterlichen Haus versteckt, nur von Familie, Haustieren und Schaufensterpuppen umgeben, jedes Interview verweigernd, ein Gespenst aus eigenem Willen, wurde Michael Jackson zur mit Abstand berühmtesten Person auf der Welt.