Lipstick Traces

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PUNK SCHOCKIERT

nicht mehr durch Rüpelhaftigkeit, Misogynie, Rassismus, Homophobie, weder durch seinen Drang nach Endlösungen für Fragen, die er kaum gestellt hat, noch dadurch, dass die Negation jede Heuchelei und jeden Schwindel sanktioniert. »Die Punk-Attitüde«, schrieb Lester Bangs 1979, sei »durchsetzt von Selbsthass, der immer reflexiv ist, und immer, wenn man zu dem Schluss kommt, das Leben sei Mist und die Gattung Mensch größtenteils ein Haufen Scheiße, hat man den idealen Nährboden für Faschismus«. 1977 in London gab es eine Zeit, da galt Jack the Ripper als der Punk schlechthin, und alles von Schlägereien bis Vernichtungslagern gehörte irgendwie dazu; als die Eaters »Get Raped« schäumten, schien das ebenso wahr zu sein wie die verschmitzte Gleichsetzung von Ladendiebstahl und Flirt durch die Buzzcocks in »Breakdown«. All diese Dinge wurden kurzzeitig legitimiert durch eine Bewegung, die alles vereinnahmte, was von der Gesellschaft offiziell abgelehnt und stigmatisiert wurde.

Heute, so viele Jahre später, schockiert Punk dadurch, dass jede gute Punk-Platte immer noch wie das Größte klingt, was man je gehört hat. »A Boring Life«, »One Chord Wonders«, »Oh Bondage Up Yours« von den X-Ray Spex, die Singles der Sex Pistols, »Complete Control« von den Clash – die Kraft dieser kleinen Plastikteile, die Spannung zwischen den sie treibenden Sehnsüchten und dem Fatalismus, der darauf wartete, jeden Beat abzublocken, das Lachen und die Überraschung in den Stimmen, das alles schockiert heute, weil jedes Stück während seiner zwei oder drei Minuten absolut ist. Man kann keine Platte über die andere stellen, nicht beim Zuhören; jede einzelne ist das Ende der Welt, die Schöpfung der Welt, in sich vollendet. Jede zwischen 1976 und 1977 in London gemachte gute Punk-Platte kann einen überzeugen, nie etwas Besseres gehört zu haben, weil sie überzeugen kann, dass man nie etwas anderes zu hören braucht, solange man lebt. Jede Platte scheint alles zu sagen, was es zu sagen gibt. Solange der Sound anhält, dringt kein anderes Geräusch durch, nicht einmal die Erinnerung an andere Musik.

Um John Peel zu zitieren, es war wie in den fünfziger Jahren, als eine Überraschung nach der anderen aus dem Radio drang … und doch gab es einen Unterschied. Zwar mochten die Sänger, die fünfzehntausend Doowop-Platten machten, Amateure sein, aber unterstützt wurden sie von professionellen Musikern; selbst wenn sie keine Ahnung hatten, welche gesellschaftlichen Fakten die Platten zerstören würden, wussten sie doch, welche Akkorde als nächstes an der Reihe waren. Die Punks, die 1977 Platten machten, wussten nicht, welche Akkorde als nächstes an der Reihe waren … und sie stürzten sich auf gesellschaftliche Fakten. Das Bewusstsein, dass sich ein gesellschaftliches Faktum durch einen gebrochenen Akkord ansprechen ließ, schuf Musik, die dein Bewusstsein davon veränderte, was Musik bewirken konnte, somit veränderte sie dein Bewusstsein von dem gesellschaftlichen Faktum: Es war zerstörbar. Das war das Neue daran – im Rock ’n’ Roll der fünfziger Jahre hatte es keinerlei Endzeitstimmung gegeben.

In den besten Punk-Singles herrscht das Gefühl vor, was gesagt werden muss, müsse sehr schnell gesagt werden, weil die erforderliche Energie und der Wille, es zu sagen, sich nicht lange beibehalten ließen. Die Energie vergeht, der Wille zerbricht … die Idee verschwindet wieder im Erdboden, die Zuhörer stehen auf, ziehen ihre Jacken an und gehen nach Hause. So wie ihr Rhythmus war die Stimme der Punk-Musik immer unnatürlich: jenseits der Persönlichkeit bis zur Anonymität beschleunigt, eingezwängt, reduziert, künstlich. Aus mehr als einem Grund lenkte sie die Aufmerksamkeit auf ihre eigene Künstlichkeit: als Ablehnung des Mainstream-Pop-Humanismus zugunsten von Wut und Angst, als Reflex der Furcht, nicht verstanden zu werden. Doch unnatürlich war die Stimme vor allem aus ihrer Furcht heraus, die Gelegenheit zu sprechen zu verlieren – eine Gelegenheit, wie jeder gute Punk-Sänger begriff, die nicht nur mit Sicherheit vergehen würde, sondern vielleicht sogar unverdient war.



Eine andere Version der Punk-Story, von rechts nach links zu lesen, 1986

»ALLES NEUE braucht eine Weile, bevor es sich im ganzen Land verbreitet. Dann kriegt man die J.-C.-Penney-Versionen der Moden, die von den stilistisch führenden Leuten getragen werden. Bei all dem in der Welt der Jugend gibt es eine interessante Prämisse, man nimmt die Ausgeflippten, die Avantgarde, die stilistisch Führenden, die Spinner. Und wenn man sorgfältig genug feststellt, wie sie rumlaufen, ist ein echter Trend, kann man schließlich rausfinden, was die Leute in der Mitte, was ich nicht unbedingt geographisch meine, obwohl das im Fall unseres Landes so ziemlich die Mitte ist, in den nächsten paar Monaten tun werden.«

Dick Clark, in: Lester Bangs, »Screwing the System with Dick Clark«, Creem, November 1973

In dem Risikohaften, das im Punk mitschwingt, liegt ein Misstrauen gegen den Punk-Moment: der Wille, alles zu sagen, verbunden mit dem Verdacht, das alles könnte eventuell gar nichts wert sein. Keiner wusste, woher die Gelegenheit gekommen war, und keiner wusste, was aus ihr werden würde. Rock ’n’ Roll hatte in den fünfziger Jahren gerade erst seinen Namen angesagt, als Danny and the Juniors schon verkündeten, dass diese Musik niemals untergehen werde: »Rock and Roll Is Here to Stay«; im Punk gab es keinen vergleichbaren Song. Punk war nichts Bleibendes. Punk war keine Gelegenheit zur Vermarktung, ganz gleich, wie viele kommerzielle Pläne Malcolm McLaren schmiedete, ganz gleich, wie viele ehemalige Fans der Sex Pistols später in der internationalen New-Wave-Szene ruhm- und erfolgreich wurden. »New Wave« war kein Codebegriff für Punk ohne Schock, sondern für Punk ohne Inhalt. Punk war kein Musikgenre, er war ein Augenblick, der als ihre eigene Zerstörung antizipierende Sprache Gestalt annahm und sie somit manchmal suchte, nach einer Aussage suchte, die man nicht in Worten oder Akkorden formulieren musste. Er war nicht Geschichte. Er war eine Gelegenheit, zur späteren Beurteilung von allem Darauffolgenden dienende Randereignisse zu schaffen, Ereignisse, die alles, was folgte, unzulänglich erscheinen lassen sollten – auch das war die Bedeutung von No-future, der Nicht-Zukunft.

VIEL WAR

die Rede von Einflüssen auf den Punk wie etwa Chuck Berry, wie die Kinks und die Who, wie die amerikanischen Garagenbands, wie die Velvet Underground, die Stooges, die New York Dolls; von britischen Vorläufern wie David Bowie, Roxy Music, Mott the Hoople; von der »arty« ironischen New-Yorker-Szene, die 1974 entstand, mit den Ramones als Hauptvertretern. »Beat on the brat / With a baseball bat« – was könnte punkiger sein? Nicht dort stehenbleiben … doch die Ramones blieben jahrelang dort stehen. Stimmt, die Sex Pistols gaben »No Fun« von den Stooges als Zugabe, mordeten als Söhne ihre Dolls-Väter mit »New York«, und Velvet-Underground-Coverversionen waren ein Markenzeichen des Punk, aber das ist bloß Arithmetik. Wenn am Punk etwas anderes interessiert als seine Funktion als Musikgenre, ist es sinnlos, ihn als solches zu behandeln.

Was die Algebra betrifft, könnte man genauso gut sagen, Punk leite sich von zwei Zeilen aus dem Song »Tale in Hard Time« ab, den Richard Thompson 1968 für Fairport Convention schrieb, eine vorwiegend ruhige, nachdenkliche britische Folkrock-Gruppe: »Take the sun from my heart / Let me learn to despise.« Ob auch nur ein einziger Punk diese Worte je gehört hat, ist irrelevant, so irrelevant wie es ist, ob auch nur ein einziger Punker je ein einziges Wort jener Autoren gelesen hat, deren Abenteuer den größten Teil dieses Buches füllen. Die besten Punks spielten diese Worte. Indem sie aus ihrer eigenen Geschichte, aus ihrem eigenen blinden Erbe die in Thompsons Appell enthaltene Wahrheit zogen, verstanden die ersten Punks besagten Appell als eine Wette. Sehr wahrscheinlich würde man die Zukunft nicht als Überlebender, sondern als Wrack erleben, als abgerissener alter Mann im Regen. Dafür standen die Chancen nicht schlecht; und 1985 in Los Angeles, als »Punk« immer noch das einzig Neue war, was der Rock ’n’ Roll zu sagen hatte, fasste eine zwei Jahre zuvor gegründete und beinahe gleichzeitig wieder aufgelöste Band namens God and the State die Story auf ihrer einzigen, posthum veröffentlichten Platte zusammen, einer Sammlung von Demos mit dem Titel Ruins: The Complete Works of God and the State.

Da war sie, die antike Tonscherbe des Punk. Der Begleittext zu der Platte besagte, die Bandmitglieder seien an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit zusammengekommen und hätten sich wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Wer auch immer in L.A. verblieben war, um das Album rauszubringen, schrieb auf die Hülle: »Die Platte wurde in zehn Stunden produziert, für etwa 200 Dollar. Die Songs enthalten haufenweise Witze, doch einige Hörer halten sie nicht für lustig, und andere halten sie nicht einmal für Witze, eher für Symptome geistigen Verfalls. Beabsichtigt war eine Botschaft der Hoffnung, nämlich dass man in sich selbst Kraft findet, um gegen die Dominanz der und Korrumpierung durch Macht zu bestehen; doch einige halten die Songs für ebenso zynisch und glatt wie die gewieften Leute, die in manchen von ihnen angeprangert werden.« Das könnte sehr wohl die beste Beschreibung der Möchtegern-Geheimgesellschaft des Punk sein, wenn man von folgenden Worten in Jean-Pierre Gorins Film Routine Pleasures absieht, der von einem Modelleisenbahner-Verein handelt: »Wir alle sind ein wenig wie Kleindarsteller in einem Film von Preston Sturges, bereit, vor einer Kleinstadt-Jury mit Worten auszusagen, deren Bedeutung allen außer uns selbst entgeht.«

 

IM »WINTERLAND«

am 14. Januar 1978 war Punk keine Geheimgesellschaft. Als sich das Publikum einer bereits legendären Band gegenübersah, dem eigentlichen »Ding«, wurde »Punk« zu einer mehrfach gebrochenen symbolischen Handlung. Man hatte gehört, dass in England das Publikum Punk-Künstler »anrotzte«, anspuckte; in San Francisco wurden die Sex Pistols von einem wahren Vorhang aus Spucke empfangen. Man hatte gehört, dass es in England bei Punkkonzerten zu Gewalttätigkeiten kam (es war die Rede davon, eine Frau habe durch ein zerschmettertes Bierglas ein Auge verloren; dafür sei Sid Vicious verantwortlich gewesen, was er bestritt, aber nicht, dass er einen Journalisten mit einer Kette verdroschen hatte); in San Francisco drosch sich ein Mann in einem Football-Helm seinen Weg durch die Zuhörer, prügelte einen Querschnittgelähmten aus seinem Rollstuhl und wurde selbst zu Boden geschlagen. Hatte nicht Johnny Rotten behauptet, er wolle Passanten vernichten, »to destroy passersby«? Es war, zu diesem Zeitpunkt, ein Akt, der kollektive Versuch zu beweisen, dass die physische Repräsentation einer ästhetischen Repräsentation Realität erzeugen konnte, oder zumindest Blut.

NICHT LANGE;

kaum betraten die Sex Pistols die Bühne, wurde alles anders. Wie Quasimodo unter drückender Luft zusammengesackt, durchschnitt Johnny Rotten mit einer Halsdrehung die Neugier der Menge. Wie ein in einem Windkanal gefangener Mann klammerte er sich an den Mikrofonständer; Eis, Pappbecher, Münzen, Bücher, Mützen und Schuhe flogen an ihm vorbei, als würden sie von einem Vakuum angesogen. Er beschwerte sich über die Qualität der »Geschenke«; ein perfekt gerollter Schirm landete zu seinen Füßen. »Schon besser«, sagte er.

Sid Vicious diente als Köder für die Menge; zwei »Fans« kletterten auf die Bühne und schlugen ihm die Nase blutig. Die Verkörperung einer Verkörperung, sogar mit seinem eigenen geronnenen Blut befleckt, den Arm verbunden wegen einer Stichwunde, die er sich selbst zugefügt hatte, war er merkwürdigerweise eigentlich kaum anwesend; in Wirklichkeit passierte das gar nicht. Seit Jahrzehnten endeten Schundromane aus dem Rockmilieu mit einer dem ethnologischen Standardwerk Der goldene Zweig entnommenen Szene, nämlich mit der rituellen Verspeisung des Stars durch seine Anhänger, und Sid Vicious flehte geradezu darum, um die absolute Bestätigung seines Star-Status. Ein paar Meter entfernt verspeiste Johnny Rotten die von dem Publikum mitgebrachten Erwartungen.

Paul Cook verschanzte sich hinter seinem Schlagzeug, Steve Jones hörte sich an, als spielte er eine Gitarrenfabrik, keine Gitarre, unvorstellbar, dass nur drei Instrumente auf der Bühne waren. Die Bühne war voller Geister; Song für Song wetzte sich Johnny Rotten die Zähne spitz.

VERGLEICHEN KANN ICH

das von diesem Auftritt hervorgerufene Gefühl nur mit dem 1967 in England hergestellten Hammer-Film Quatermass and the Pit, der in Deutschland unter dem schönen Titel Das grüne Blut der Dämonen lief.

Ort und Zeit ist »Swinging London«, wo der Umbau einer U-Bahn-Station ein großes, langes, metallenes Objekt zutage befördert hat: ein Raumschiff, wie jeder Kinobesucher der Polizei und den Bürokraten verraten könnte, die natürlich keinen blassen Schimmer haben. Neben dem Objekt finden sich die versteinerten Überbleibsel von Affenmenschen, in seinem Inneren die ausgezeichnet erhaltenen Leichen menschengroßer Insekten. Man ruft den Wissenschaftler Quatermass zur Hilfe.

Der zählt zwei und zwei zusammen und kommt zu dem Schluss, dass vor fünf Millionen Jahren Marsianer – die Insekten – angesichts der bevorstehenden Auslöschung allen Lebens auf ihrem Heimatplaneten eine kleine Gruppe Wissenschaftler zur Erde schickten. Deren Ziel war, das marsianische Wesen in eine fremde Lebensform einzupflanzen (eine hübsche Vorwegnahme der Theorie vom egoistischen Gen), ein Zuhause für die Seele der Marsianer zu finden.

Die Marsianer waren, wie Quatermass nach und nach erfährt, von Natur aus vom Ausrotten besessen; der Tod ihres Planeten war ihr eigenes Werk. Ja, es war sogar ihr Meisterstück, und um sich auf der Erde zu halten, müssen sie diese zerstören. Die marsianischen Wissenschaftler wählen die vielversprechendsten irdischen Lebewesen aus – Australopithecinen, die vor vielleicht acht Millionen Jahren auftraten und von den meisten Paläoanthropologen für direkte Vorfahren unserer eigenen Gattung gehalten werden – und bringen durch genetische Eingriffe eine kleine Gruppe auf den Weg zur planetaren Vorherrschaft. Ausgestattet mit den marsianischen Eigenschaften Erkenntnis und Blutgier (letztere war 1967 eine Reverenz an Robert Ardreys damals modische Theorien über den Ursprung des Menschen), folgten die Australopithecinen ihrem eingepflanzten Weg zu Homo sapiens und machten sich die Erde untertan. Sobald die neue Art die zur Beherrschung der Natur nötige Technologie entwickelt hat, wird sich das Schicksal in deren Zerstörung erfüllen.

Doch die Aufpfropfung gelingt nicht perfekt; der Widerspruch zwischen irdischen und marsianischen Genen wird nie völlig ausgeräumt. Zwar ist der Eingriff nicht mehr im Bewusstsein präsent, doch es existiert noch eine phylogenetische Erinnerung. Freud glaubte, dass in der Erinnerung des modernen Menschen irgendwie die Vatermorde, die Freuds Meinung nach die menschliche Gesellschaft begründeten, als tatsächliche Ereignisse verwurzelt seien und dass der Mensch diese Erinnerung unbewusst in ansonsten unerklärlichen immer noch vorhandenen Mythen und Ritualen bewahre. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion behauptete Freud, die Israeliten trügen noch Hunderte von Jahren später die Erinnerung an Moses’ Ermordung durch ihre Vorfahren mit sich herum, auch wenn das Ereignis in mündlichen und schriftlichen Überlieferungen völlig unterdrückt worden sei. In Das grüne Blut der Dämonen wird die Ansicht vertreten, die heutigen Menschen erinnerten sich an Stiefeltern, die sich mit unendlicher Geduld daranmachten, ihre Nachkommen umzubringen … was erkläre, warum die Marsianer mit Hilfe ihrer hochentwickelten Wissenschaft das von ihnen auf der Erde vorgefundene Leben nicht einfach auslöschten. Sie hätten geplant, sich auf der Erde zu verewigen, indem sie deren Geschichte schufen, zu Beginn der Erde schon ihr Ende festlegten. Offenbar gehörte zu den Eigenschaften der Marsianer eine Vorliebe für Prophetie: Drama und Tod waren ihnen gleich wichtig.

Für Quatermass gewinnen alle möglichen Phänomene, die der Wissenschaftler als Überbleibsel einer irrationalen Vergangenheit verworfen hat, eine neue Bedeutung. Während er Bücher über Rituale und Mythen wälzt, versteht er langsam, dass die neue Spezies außer ihrer Beherrschung der Natur, ihrem Marsch in Richtung Herrschaft und Überfluss, dauerhafte Bilder von einer Ur-Verschleppung geschaffen hat. Es sind Versuche, das Fremde auszutreiben, die eingepflanzten Eigenschaften aus dem Körper zu entfernen, sie als Dämonismus zu vergegenständlichen, zu verdinglichen. Doch auch hier liegt ein Widerspruch vor: Nur die fremde Intelligenz gestattet es der Spezies Mensch, sich eines so komplexen Prozesses wie der Verdinglichung zu bedienen, einer Art Fetischisierung der Entfremdung, wobei menschliche Eigenschaften auf von Menschen geschaffene Dinge übertragen werden, die dann unabhängig operieren und schließlich Menschen in Dinge verwandeln, so dass die Verdinglichung in zwei Richtungen funktioniert. Ist sie erst einmal ausgetrieben und als Verkörperung des Dämonischen ausgegrenzt, hinterlässt die Präsenz der Außerirdischen einen Zauber. Quatermass entdeckt, dass die Marsianer nicht nur ihren Namen an der Stelle hinterließen, wo später die U-Bahn-Station gebaut wurde und wo man ihre Überreste fand (hektische Nachforschungen ergaben, dass deren Adresse, »Hobb’s Lane«, früher einmal »Teufelsversteck« bedeutete), wodurch sie – im Mittelalter – zu einem verwunschenen Ort wurde, sondern auch in Gestalt des »Zauberers«, einer Figur, die teils Mensch, teils gehörntes Tier ist und sich an der Wand des Cro-Magnon-Heiligtums von Trois Frères findet, was es in der Steinzeit zu einer Kultstätte machte. »Der Zauberer« wirft seinen Schatten fünfzehntausend Jahre weit in ein ansonsten unerklärliches christliches Gebet: »Der Herr ist an diesem Ort, wie schrecklich ist dieser Ort.« Die Geschichte der Menschheit fängt an, einen Sinn zu ergeben, aber es ist nicht mehr die der Menschheit.

Der Zwischenfall in der U-Bahn-Station weckt die ruhende marsianische Anwesenheit. Das Raumschiff beginnt zu schwingen, die durch die Schwingungen freigelassene Energie erzeugt ein Vakuum. Das Vakuum saugt schlafende Gene an, die ein abstoßendes, lockendes Bild erzeugen: ein leuchtender, gehörnter, London überragender Teufel, der marsianische Antichrist.

Nach fünf Millionen Jahren ist die Gendrift nicht einheitlich. Im zwanzigsten Jahrhundert sind einige Menschen auf Zerstörung gepolt, andere tragen nur ein paar bruchstückhafte Botschaften der Außerirdischen. Einige sprechen auf das Bild der Marsianer an, andere nicht. Für diejenigen, die es tun, werden die uralten Codes zu Sprache, und Erinnerungen an den ursprünglichen marsianischen Genozid gelangen an die Oberfläche. Für diejenigen, die nicht darauf ansprechen, löst sich die Sprache in nichts auf. Die Menschheit zerfällt in zwei Spezies; in London herrscht Anarchie. Männer und Frauen drängen durch die Straßen, alle die zerschmetternd, die sie als Fremde erkennen – alle, die weniger marsianisches Wesen in sich tragen als sie selbst. Das marsianische Bild färbt sich rot. Hobbes verstand unter dem Naturzustand den »Krieg aller gegen alle«; das findet hier statt, und es ist unglaublich gespenstisch.

Quatermass, mehr Mensch als Marsianer, überlebt und erlebt, wie das dämonische Bild bezwungen und die marsianischen Gene wieder eingeschläfert werden – aber erst, nachdem ein Kamerad, mehr Mensch als Quatermass, der, anders als Quatermass, dem Bild in das Gesicht sehen kann, beim Angriff vernichtet wird. Das Bild ist reine phylogenetische Energie; als er einen stählernen Kran direkt hineinmanövriert, hebt Quatermass’ Kamerad das Bild mit Masse auf – ein hübscher einsteinscher Dreh.

Quatermass’ Assistentin, mehr Marsianer als er, kehrt wie von einem Traum erwacht an seine Seite zurück; Minuten vorher hatte sie noch Blut aus seinem Hals gequetscht. Mit einer langen, stummen Einstellung endet der Film … und weil das Schlussbild nicht einfriert, es keine automatische Ironisierung gibt, scheint er überhaupt nicht enden zu wollen. Man sieht Quatermass und seine Assistentin in der Ruinenstadt London; er stützt sich auf eine Mauer. Alles, was er gesehen hat, liegt in seinem Blick, und er versucht zu vergessen, was er gesehen hat, aber die – endlos lange – Einstellung dauert nicht lange genug, dass seine Assistentin ihren verlorenen Blick auf etwas richten könnte.

Heute liegt auf der Hand, dass Das grüne Blut der Dämonen eine Sechziger-Jahre-Version der Atombomben-Mutationen-Filme aus den fünfziger Jahren ist, eine entlastend-allegorische Darstellung von Nazismus und der deutschen Luftangriffe auf London, eine schnelle und unbefangene moderne Fassung der gnostischen Häresie, nach der die Welt zwischen gleich starken guten und bösen Göttern aufgeteilt ist, der Versuch, eine schnelle Mark an Erschütterungen zu verdienen, die zu jeder beliebigen Zeit in der modernen Gesellschaft herumgeistern. Aber so funktioniert der Film nicht. Er wird jedes Mal furchterregender … besonders um zwei Uhr nachts, wenn er am häufigsten im Fernsehen gezeigt wird; wenn, wie Nietzsche schrieb, »der Mensch zulässt, dass man ihn belügt … wenn er träumt und sein moralisches Empfinden nicht einmal versucht, dies zu verhindern«; wenn niemand da ist, mit dem man den Film in den Griff kriegen könnte. Quatermass’ Sieg ist der Sieg rationaler Gewissheit über irrationalen Zweifel; der am Ende von seinem Gesicht ablesbare Zweifel ist nicht der Zweifel, ob er gesiegt hat, sondern der Zweifel, ob er das wollte. Vielleicht wurden in den nächtlichen Fernsehausstrahlungen nicht zufällig gelegentlich die letzten zwanzig Minuten geschnitten: Man strich das Anarchistische, ließ nur das Geheimnis, seine formelle Auflösung und die letzte Einstellung des Films, die so bedeutungslos bleibt.