Lipstick Traces

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1982 STRENGTE

Elizabeth Taylor einen Prozess an, um die Ausstrahlung eines nicht autorisierten Fernsehfilms über ihr Leben zu verhindern. »Ich bin meine eigene Industrie«, erklärte sie. »Ich bin meine eigene Ware.« Hundertfünfzehn Jahre zuvor hatte Karl Marx in »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«, der am bizarrsten überschriebenen Passage von Das Kapital, diese bizarre Beschwörungsformel vorweggenommen. Er schrieb:

Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voller metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken … Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.

Das ist reine Poesie, aber die mystischen Anklänge dienten nicht nur dazu, den Text lebendiger zu machen. Marx spielte auf die Spiritisten an, die zu seiner Zeit von Boston über Paris bis Petrograd um Tische saßen, sich an den Händen hielten und darauf warteten, dass die Geister Verstorbener sich bemerkbar machten, an den Tischen rüttelten, die Tische zum Tanzen brachten. Die Spiritisten hatten nichts mit Waren zu tun, aber die Ware hatte alles mit Zauberei zu tun … eine Zauberei, bei der die technische Vorstellung von Transformation vor den metaphysischen Feinheiten und theologischen Spitzfindigkeiten der Transsubstantiation zurückwich. Und doch, auch wenn Marx 1867 möglicherweise einen postindustriellen Taylorismus voraussah, so ist kaum vorstellbar, dass er für den Jacksonismus bereit gewesen wäre.

Die Ware war das Agens der Verdinglichung: Jackson schuf ihr einen eigenen Himmel, und alle griffen danach. Es war herrlich, im Jahr Michael Jacksons morgens aufzustehen, die Zeitung aufzuschlagen und den Tanz zu verfolgen; zu erfahren, dass unter den Zeugen Jehovas (die, wie jedermann wusste, Jackson zu ihren Anhängern zählten und die, wie man erfuhr, an die Rückkehr des Erzengels Michael glaubten) heimlich, still und leise ein Michael-Jackson-Kult entstanden war; zu erfahren, ein Jugendlicher habe Selbstmord begangen, weil seine Eltern ihm das Geld für eine Gesichtsoperation verweigert hatten, nach der er Michael Jackson ähnlicher gesehen hätte; oder zu lesen, in Mexiko tätige amerikanische Firmen hätten »begonnen, Lebens- und Verkehrsmittel zu subventionieren und den Arbeitern mehr als den mexikanischen Mindestlohn von 4,80 Dollar am Tag zu zahlen. Ein Betrieb trägt sich mit dem Gedanken, schon lange bei der Firma beschäftigten Arbeitern mit wenig Fehlzeiten Uhren zu schenken. Ein anderer Vorschlag lautet, Michael-Jackson-Schallplatten zu verteilen.« Doch das waren bloß Appetithäppchen. Plötzlich war es Zeit, das Gespenst Fleisch und Blut werden zu lassen, Zeit für eine Tournee, bei dreißig Dollar Eintritt pro Nase.

Jetzt wurden die Nachrichten unsentimental, und es gab ständig neue: Jacksons so lange vernachlässigter Vater und seine Brüder zwangen ihn, sich einer Öffentlichkeit zu stellen, der er lieber ausgewichen wäre; diverse Möchtegern-Promoter stritten sich um das Recht, Jacksons Forderung nach einer garantierten Gage von vierzig Millionen Dollar zu erfüllen; die Spannung, welche Städte besucht und welche übergangen werden würden; und schließlich die Auflage, dass jeder, der ein Michael-Jackson-Konzert besuchen wollte, auf dem Postweg für hundertzwanzig Dollar nicht weniger als vier Tickets erwerben musste, ohne dass damit der Eintritt garantiert war, da man mit zehn Vorbestellungen für jedes verfügbare Ticket rechnete. Das bedeutete, dass die Verlierer zwar irgendwann ihr Geld zurückbekamen (abzüglich einer Bearbeitungsgebühr), das jedoch in der Zwischenzeit festgehalten und in Drei-Monats-Schuldverschreibungen investiert wurde; die anfallenden Zinsen fielen an die Jacksons. Das war richtiges Leben, Dollar und Cents. Es war auch eine Version von dem, was Ulrike Meinhof Konsumterror genannt hatte – ein Teil des gesellschaftlichen Lebens zu sein. Im ganzen Land bekamen die Leute erwartungsfroh Angst vor Tickets, die sie sich nicht leisten konnten, vor Tickets, die sie vielleicht nicht bekommen würden, auch wenn sie sich diese leisten konnten, vor Tickets, die sie auf alles oder nichts festlegten, vor Tickets, die – als der demütigend-aufregende Vorgang begann – noch nicht einmal zum Verkauf standen.

EINE FRAU aus Illinois hat einer Vaterschaftsklage über 150 Millionen Dollar gegen Michael Jackson eingereicht und behauptet, er sei der Vater ihrer drei Kinder, wie sie gestern bekanntgab.

»Michael ist der Vater, Michael hat mich geschwängert, und Michael soll dafür bezahlen«, sagte Billie Jean Jackson, 39, am Telefon aus dem Haus einer Freundin in Hanover Park, einem Vorort von Chicago …

Das Amt für Kinder- und Familienfürsorge des Staates Illinois nahm die Kinder 1985 in Obhut und warf der Mutter Verletzung der Aufsichtspflicht vor. Die Kinder leben bei Verwandten mütterlicherseits in New York.

Die zuständigen Beamten verweigerten Auskünfte zu dem Fall, doch wie verlautete, habe die frühere Lavon Powlis, die ihren Namen rechtskräftig in Billie Jean Jackson änderte, schon früher behauptet, andere Prominente hätten ihre Kinder gezeugt. Allerdings sei es bisher noch nie zu einer Vaterschaftsklage gekommen.

San Francisco Chronicle, 20. August 1987

Bis zum 6. Juli 1984, als die Jacksons in Kansas City, Missouri, den ersten Auftritt ihrer »Victory Tour« absolvierten (dreißig Jahre und einen Tag nachdem Elvis Presley in Memphis, Tennessee, seine erste Platte aufnahm), hatte der Jacksonismus ein so perfektes System der Warenverwertung erzeugt, dass buchstäblich alles, was zu ihm zugelassen wurde, sofort zu einer neuen Ware wurde. Die Leute konsumierten nicht mehr, was man gemeinhin unter Waren versteht (Schallplatten, Videos, Poster, Bücher, Zeitschriften, Schlüsselanhänger, Ohrringe, Halsketten, Anstecker, Buttons, Perücken, Stimmenänderungsgeräte, Pepsis, T-Shirts, Unterwäsche, Hüte, Schals, Handschuhe, Jacken … und warum wurden eigentlich keine Hosen namens Billie Jeans auf den Markt geworfen?); sie konsumierten ihre eigenen Konsumgesten. Anders gesagt, sie konsumierten keinen tayloristischen Michael Jackson oder irgendein copyrightgeschütztes Faksimile, sondern sich selbst. Das war die Transsubstantiation, unterwegs auf einem Möbiusstreifen des reinsten Kapitalismus.

Der Jacksonismus schuf das Bild einer Pop-Explosion, ein Ereignis, in dem die Popmusik politische, wirtschaftliche, geographische und rassische Barrieren überwindet, in dem eine neue Welt suggeriert wird, wo neue Auftritte kurzzeitig die hegemonischen Abgrenzungen des gesellschaftlichen Lebens überwinden. Wesentlicher Bestandteil eines solchen Ereignisses ist nicht nur eine Lawine organisierter Publicity, sondern auch das epidemische Auftreten von Gerüchten an der Basis, ein so starkes Gefühl des alltäglich Neuen, dass die Vergangenheit unwichtig und die Zukunft bereits Gegenwart zu sein scheint. Das alles traf auf den Jacksonismus zu. Michael Jackson besetzte das Zentrum des amerikanischen kulturellen Lebens; das war noch keinem anderen schwarzen Künstler gelungen.

Doch eine Pop-Explosion verbindet nicht nur Menschen, die sonst durch Klasse, Ort, Hautfarbe und Geld getrennt sind, sie trennt auch. Konfrontiert mit so interessanten und beunruhigenden Künstlern wie Elvis Presley, den Beatles oder den Sex Pistols, mit Menschen, die die Möglichkeit einer neuen Art zu leben eröffnen, sprechen einige darauf an, andere nicht – was, wenn auch nur für einen Moment, zu einem zentralen gesellschaftlichen Fakt wird. Es wurde klar, dass Michael Jacksons Explosion etwas Neues war.

Es war die erste Pop-Explosion, die nicht nach der subjektiven Qualität der von ihr verursachten Reaktion beurteilt wurde, sondern nach der Anzahl der von ihr bewirkten objektiven wirtschaftlichen Veränderungen. Daher hatte Michael Jackson völlig recht, als er auf dem Höhepunkt seines Jahres verkündete, seine größte Leistung sei eine Auszeichnung des Guinness Buchs der Rekorde, laut der Thriller mehr Top-Ten-Singles (sieben) hervorgebracht habe als jede andere LP – und nicht, wie man hätte erwarten können, »dass ich den Menschen eine neue Art zu gehen und eine neue Art zu reden gegeben habe« oder »bewiesen zu haben, dass Musik eine universelle Sprache ist« oder auch »bewiesen zu haben, dass deine Träume mit Gottes Hilfe wahr werden«. So etwas zu sagen hätte angedeutet, dass in einer Pop-Explosion etwas Wertvolles auf dem Spiel steht, dass nämlich solch ein Ereignis als wertvollstes ästhetisches und gesellschaftliches Geschenk das unentrinnbare Gefühl anzubieten hat, das Schicksal der Welt hinge davon ab, wie ein Auftritt ablief. Doch genau das geschah nicht. Die Pop-Explosionen von Elvis, den Beatles oder den Sex Pistols hatten gesellschaftliche Schranken angegriffen oder unterlaufen; Thriller überwucherte sie wie eine Schlingpflanze. Da Thriller diese Schranken nie durchbrach, sondern sie nur kurzzeitig unsichtbar machte, wurden sie in Kansas City einmal mehr unleugbar.

Michael Jacksons größte Fans waren schwarze Jungen und Mädchen unter fünfzehn. Früher hatten er und seine Brüder vor fast ausschließlich schwarzem Publikum gespielt. Dreißig Prozent der Einwohner von Kansas City sind schwarz, die Rassenintegration scheint in der Stadt verwirklicht zu sein: In sämtlichen öffentlichen Einrichtungen sind Kunden wie Personal schwarz und weiß. Als der Welt berühmteste schwarze Familie im Arrowhead-Stadion von Kansas City auftrat, bestand die wartende Menge fast ausschließlich aus Weißen. Folgte man der Logik der Ware, die sich dorthin begibt, wo das Geld ist, das einen dorthin bringt, ob man will oder nicht, trennten die Vorgaben des Jacksonismus – der darauf bestand, mittels Tauschhandel Wert zu schaffen, die dreißig Dollar teuren Tickets im Viererpack zu erwerben – nicht das Publikum der jacksonistischen Pop-Explosion von denen, die nicht daran teilhaben wollten; diese Vorgaben trennten vielmehr diejenigen voneinander, die tatsächlich daran teilhaben wollten. Die Armen, die gerade noch das Geld aufbrachten, eine Thriller-LP zu kaufen, blieben draußen. Einige arme Leute verzichteten auf Lebensmittel, Kleidung oder ärztliche Behandlung, um die hundertzwanzig Dollar zusammenzukratzen – für viele mehr als eine Monatsmiete –, doch da der Ticketversand per Post erfolgte und die Konzertveranstalter Fans nach Postleitzahlen auswählen konnten, waren sie weg vom Fenster. Die jacksonistische Pop-Explosion war offiziell, was nicht bloß bedeutete, dass sie vom Präsidenten der Vereinigten Staaten autorisiert wurde. Sie wurde zudem als Version der offiziellen gesellschaftlichen Realität verbreitet, von Washington als Ideologie und von Madison Avenue als Sprache geschaffen … eine ideologische Sprache, in der 1984 von politischer Spaltung und sozialer Kluft die Rede war, eine Verherrlichung des neuen amerikanischen Faktums, laut dem man nicht existierte, wenn man es nicht an die Spitze geschafft hatte. »Siegen ist alles«, verkündete eine Nestlé-Anzeige, auf der eine Art Olympiamedaille aus Schokolade zu sehen war. »Wir haben nur einen einzigen Ehrgeiz«, sagte Lee Iacocca über Chrysler. »Die Besten zu sein. Gibt es etwas anderes?« Und so hieß die Tournee »Victory Tour«, nachdem zunächst ein apokalyptischerer Titel geplant war: »Final Victory«, Endsieg.

 

ES WURDE NICHTS DRAUS.

Ein paar Tage vor der ersten Show schrieb LaDonna Jones, ein elfjähriges Mädchen aus Lewisville, Texas, an ihre Lokalzeitung einen offenen Brief an Michael Jackson, und dieser Brief wurde landesweit nachgedruckt. Es sei nicht fair, schrieb sie. Mehr war nicht nötig. Alles war aus. Der Tournee-Manager schickte LaDonna Gratistickets, doch es war zu spät. Versteckt hinter einer Uniform, die wahrscheinlich doppelt so viel wog wie er selbst (Sonnenbrille, Militärjacke, Hose bis knapp über die Knöchel, schnürsenkellose Schuhe, eine Uniform, die in der jacksonistischen Pop-Explosion nicht die Nachahmer fand, wie sie Elvis, den Beatles oder den Sex Pistols vergönnt waren, Nachahmer, die schließlich selbst Gruppen gründeten, um herauszufinden, was sie zu sagen hatten, sondern nur Imitatoren, junge Männer, die aus Mietlimousinen stiegen oder auf Bühnen stürmten, um von Leuten, die wussten, dass sie Kopien waren, mit gebührendem Kreischen begrüßt zu werden), kämpfte Jackson gegen das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern an, verurteilte seinen eigenen Ticket-Verkaufsplan, versprach, Geld zu verschenken, aber gegen ein Märchen kommt keiner an.

Gemessen an ihren Ansprüchen, war die Tournee gestorben. Die eigentliche Show war vom ersten Abend an tot: ein mit Lasern und Lautsprechertürmen aufgeblähter, steifer, unpersönlicher, zu Tode geprobter Dinner-Club-Auftritt, der Menschen, die beim Passieren der Eingänge noch gejuchzt hatten, zu höflichem Beifall animierte. In Kansas City stand die Ware wieder einmal auf dem Kopf: Michael Jackson, der sein Jahr als Tänzer begonnen hatte, verwandelte sich in ein Stück Holz.

Im Verlauf der Tournee waren dann einige Konzerte nicht mal ausverkauft, andere wurden mangels Interesse abgesagt. Als die Veranstalter am Ende zusammenrechneten, fehlten schließlich achtzehn Millionen Dollar in der Kasse. Verglichen mit dem grellen Leuchten vor dem ersten Konzert, wurde die Tournee im Dunkeln fortgesetzt … nicht heimlich, still und leise, vielmehr fiel sie der Vergessenheit anheim; nimmt man den Himmel des Spektakels als Maßstab, fand die Tournee in der Hölle statt. Sie endete Monate später in Los Angeles, unbeachtet, abgesehen von den Anwesenden, die wiederum von Michael Jackson und seinen Brüdern nicht beachtet wurden, die ihre Gesten und ihre Sprüche aus Kansas City Griff für Griff und Wort für Wort wiederholten, als wäre nichts geschehen, als wären sie nie irgendwo gewesen, als wäre überall nirgendwo.

Es gab Nachklänge; das lange Jahr war noch nicht ganz vorbei. Michael Jackson war zwar kein Gott mehr, blieb aber ein Prominenter. Da Prominenz verpflichtet, schrieb er mit Lionel Richie die Hymne »We Are the World«, mit der man Spenden für die afrikanische Hungerhilfe eintreiben wollte, und auf seine Art war der Song ein Meisterwerk. Unter Beteiligung eines großen Chors von Superstars der Popmusik aufgenommen, überging er seine mutmaßlichen Objekte, die Menschen in Afrika, und landete wieder bei denen, die ihn gemacht hatten. Sie waren die Welt. Sie streckten die Hände aus: Die Platte vollführte einen Kreis, der alle Unterschiede zwischen Künstler und Zuschauer eliminierte, beide angesichts des objektiv Guten objektivierte. Mit Thriller konnte man einfach dadurch Anschluss an das gesellschaftliche Leben gewinnen, dass man sich dazu bekannte; bei »We Are the World« konnte man Teil der ganzen Welt werden, indem man einfach die Platte kaufte. Während die Platte lief, hörten die Menschen in Afrika auf zu sterben. »Wie Gott uns zeigte«, schrieben Jackson und Richie, wahrscheinlich ohne an Johann von Leyden zu denken, »indem er Steine in Brot verwandelte.«

Lange nach Verblassen der Victory-Tour hielt sich »You’re a Whole New Generation« im Äther, die Radioversion von Jacksons »Billie-Jean«-Pepsi-Werbung. Der glänzend produzierte Song über Angst und Schuld, in dem Stimmen durch dezente Geräuschschichten flirren, war Michael Jacksons verführerischster Song. Seine Bereitschaft, sofort einen Werbejingle daraus zu machen, wirkte auf die, denen er gefiel, zunächst wie ein Schlag ins Gesicht. Doch Monate später, als »You’re a Whole New Generation« durch seine ständige Ausstrahlung als Radiowerbung nicht nur an die Stelle des Originals trat, sondern es beinahe ausradierte, konnte man den Werbesong als völlig neues Stück Musik betrachten. Er war härter: Der Rhythmus war rauer, die Produktion nicht elliptisch, sondern direkt, Jacksons Stimme nicht flehend oder verwirrt, sondern grimmig. Als er die Zeile »That choice is up to you« sang, um zu unterstreichen, der Konsument habe die Wahl zwischen Pepsi und Coke, klang das ganz nach einer moralischen Entscheidung. Alles in allem vermittelte er Vollständigkeit, wo »Billie Jean« fragmentarisch war, Wut statt Zurückhaltung, Gewissheit anstelle von Zweifel. Das machte die unterschwellige Botschaft, wohl ein Versprecher, nur noch beunruhigender. »You’re a whole new generation«, sang Jackson beim Ausblenden, »you’re lovin’ what they do …« Moment mal: »… was sie tun«? Wer waren diese »they«?

EINE NEGATION

des Spektakels ist Panik, Menschen, die auf sich selbst zurückgeworfen sind, »eine Nervosität, die man miterlebt haben muss, um sie zu begreifen. Es darf nur jemand auf der Straße ein lautes Wort rufen, sogleich flüchtet die Menge in die Eingänge der Häuser, es ist ein Laufen ums Leben, gleich kann das Maschinengewehrfeuer aus einer versteckten Luke hämmern, oder eine Handgranate fällt von einem Dach und ihre Splitter reißen dir den Bauch auf. Die Straße ist überfüllt mit fliegenden Händlern. Es ist ein Jahrmarkt von Händlern, wie man ihn nur auf Kirmessen und Volksfesten sehen kann. Die Kerle mit den heißen Würsten, die einen heizbaren Blechkasten schleppen müssen, können nur mit Mühe und unbeholfen in die Hauseingänge hinein. Halb lachen sie, halb hat sie die Todesangst gepackt. Das Maschinengewehrfeuer kann gleich die Straße herabballern und der ganzen Herrlichkeit ein vorzeitiges Ende machen. Es liegt die Atmosphäre eines großen Geschehens über der Stadt …«

Die Rede ist von Berlin im Januar 1919 während des Spartakusaufstandes, allerdings hätte es auch San Francisco im Januar 1978 sein können, im Winterland, wo Johnny Rotten gerade »Bodies« singt; das gleiche Feeling. Die Beschreibung stammt aus Richard Huelsenbecks Pamphlet Deutschland muß untergehen!, untertitelt »Memoiren eines alten dadaistischen Revolutionärs«, dabei war Huelsenbeck noch keine dreißig. Sein Freund George Grosz besorgte die Illustrationen, Karikaturen der drei Säulen der deutschen herrschenden Klasse – Priester, Geschäftsmann, Militarist – als monströse Kretins. »Künstlerisch waren wir alle ›Dadaisten‹«, schrieb Grosz 1946 in seiner Autobiographie Ein kleines Ja und ein großes Nein; sogar schon vor Dada hatte er aus Hass auf Deutschland seinen Namen amerikanisiert, doch nun, als Emigrant, als neuer Amerikaner, der versuchte, eine Gesellschaft zu akzeptieren, die für den Abscheu, die treibende Kraft hinter seiner Arbeit, keine Worte zu haben schien, wollte er alles hinter sich lassen, setzte er das Wort in Anführungszeichen, denn, wenn es »überhaupt etwas zum Ausdruck brachte, so war es eine schon lange gärende Unruhe, Unzufriedenheit und Spottlust. Jede Niederlage, jeder Umbruch zu einer neuen Zeit gebiert derlei Bewegungen. In einer anderen Epoche hätten wir ebenso gut Flagellanten sein können.«

Auf der Bühne, eine Frau mit Obszönitäten beschimpfend, die ihren abgetriebenen Fötus in die Gosse geworfen hat (»Sie will kein Baby, das so aussieht!«), dann sich selbst, den Vater (»Ich will kein Baby, das so aussieht!«), dann selbst zum Fötus werdend, der sich aus dem Schleim meldet (»MAMMI!«), bis er seine Erzählung schließlich in Flüchen auflöst, so wüst, dass sie sich nur noch gegen sich selbst wenden (»Fuck this and fuck that and fuck it all and fuck the brat«, es ist entsetzlich, mit dem Lärm quillt eine Flutwelle von Schmutz aus dem Gully, der man nicht entkommen kann), ist Johnny Rotten ein Flagellant, in seiner Kehle steckt der ganze Hass des Flagellanten auf seinen Körper. »Ich schrieb und malte aus einem Widerspruchsgeist heraus«, schrieb Grosz, »und mit meinem Werk versuchte ich der Welt mitzuteilen, dass sie schrecklich, krank und unehrlich ist«, aber Johnny Rotten versuchte es nicht: Es geschah wirklich. Und auch wenn er noch so kühl und distanziert wirkt, auch Huelsenbeck hat einen Kadaver im Mund.

Ende Oktober 1918 endete in Deutschland der Weltkrieg; Matrosen meuterten. Tage später brach überall im Land die Novemberrevolution aus, und Kaiser Wilhelms Kriegsregierung dankte ab. Spontan organisierte selbstverantwortliche Räte aus Arbeitern, Soldaten, Intellektuellen und Berufsrevolutionären füllten die plötzlich entstandenen Lücken im öffentlichen Leben. Wer vorher nur heimlich Flüche gemurmelt hatte, stellte jetzt Fragen, nannte laut seinen Namen, trat vor die Menge, sagte seltsame Dinge. Für einige sah es so aus, als wären die Räte bereit, ganz von vorn anzufangen … besonders im Nachhinein sah es so aus, nachdem die Räte von der scheinlegalen Regierung des Sozialdemokraten Friedrich Ebert beiseitegeschoben wurden, als die sich daranmachte, ihnen administrativ alle Möglichkeiten zu nehmen. Daher riefen am 5. Januar 1919 die Führer der links von Lenin angesiedelten libertären kommunistischen Spartakisten zu einer neuen Revolte auf, um die Novemberrevolution vor der Geschichte zu retten; sie dauerte sechs Tage.

Für Huelsenbeck war der Aufstand genau das, was der Berliner Club Dada – Grosz, Walter Mehring, Johannes Baader, John Heartfield, Raoul Hausmann – im Frühling und Sommer des Jahres 1918 im Kleinen prophezeit hatte. »WUNDER DER WUNDER!« stand in einer ihrer Flugschriften: »Die dadaistische Welt realisiert in einem Augenblick!« Sie unterschrieben mit »internationaler Rhythmus«. Ohnehin unverständliche Gedichte untermalten sie mit verrückten Gesten, sangen drei Lieder gleichzeitig, begleitet von purem Krach, schleuderten dem zahlenden Publikum Beleidigungen entgegen, lösten die Ideologien der Rechten wie der Linken in Buchstabensalat auf und versuchten so, die Zuschauer zum Zurückschlagen zu bewegen, zu erreichen, dass die angehaltene Uhr zwölf schlug, zu beweisen, dass die Zeit abgelaufen war. Die Bühne auf und ab marschierend, Huelsenbeck und Hausmann ein Monokel in die linke Augenhöhle gedrückt, Grosz das Gesicht dick mit Schminke bedeckt, versuchten sie eine alte verwaiste Metapher einzulösen, so als wäre sie überhaupt keine Metapher. »Die Kritik«, die sich mit den Zuständen in Deutschland befasse, schrieb der fünfundzwanzigjährige Karl Marx 1843–44 in »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«,

 

ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen. Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert … man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.

Dies war das Programm von Dada Berlin. 1920, im Rückblick auf die spartakistische Revolte, betrachtete Huelsenbeck diese Abende auf der Bühne in gemieteten Sälen, wo der »Tanz der versteinerten Verhältnisse« zuerst von dem Schlagerhit »Ihre eigene Melodie« begleitet wurde: »Das ist insofern etwas Neues«, schrieb er 1920 in En avant dada, einem anderen Pamphlet, »als zum ersten Mal aus der Frage: Was ist die deutsche Kultur? (Antwort: Dreck) die Konsequenz gezogen worden ist, nun mit allen Mitteln der Satire, des Bluffs, der Ironie, am Ende aber auch mit Gewalt gegen diese Kultur vorzugehen. Und zwar in gemeinsamer großer Aktion.« Diese Verbindung stellte kein anderer her: aus Dada die Revolution. Huelsenbeck schrieb darüber, als stünde das Ergebnis noch nicht fest:

Es liegt die Atmosphäre eines großen Geschehens über der Stadt. Man sieht, sie werden nur Menschen, wenn ihnen der Tod im Nacken sitzt, sie wissen ihre primitiven Bedürfnisse nur primitiv auszudrücken, wenn der Tod ihre Ärmel streift. Es ist eine Freude zu leben. Das Bürgerschwein, das während des ganzen vierjährigen Mordens nur seinen Bauch gepflegt hat, kann sich der Situation nicht mehr entziehen, es steht mit prallen Beinen mitten in der Hölle. Und die Hölle rast: es ist eine Lust zu leben. Leben ist Qual, Leben ist Angst, Hast und Gemeinheit; nie hat man es mehr erfahren: darum sei das Leben gelobt. Die Kerle werden durch ihre Nervosität fast zu edlen Bestien, ihre Augen, die stets erloschen wie Kieselsteine in den Höhlen gelegen haben, werden aufmerksam und rege. Sie werden alle zu Schülern des großen Weltgeschehens, sie begreifen dunkel, daß sich etwas abwickelt, daß etwas passiert außerhalb der engen sozusagen von Gott gegebenen Privat- und Familienzirkel. An Ecken, auf dem Fahrdamm, überall, wo der Zufall einen freien Fleck ließ, hacken sie mit giftigen Reden aufeinander los: Ein Publikum bildet sich rasch um jeden Dialog. Hier, meine Herren, werden Dramen agiert. Wir befinden uns in homerischen Zuständen.

Dass »gegen eine Idee, und wäre es eine falsche«, schrieb Huelsenbeck in Deutschland muß untergehen!, »alle Schusswaffen machtlos sind«; ganz unwichtig, ob die spartakistische Erhebung niedergeschlagen wurde, Liebknecht und Luxemburg ermordet, ihre Leichen wie Abfall weggeworfen wurden. »Selbst eine falsche«: Diese Idee war die Essenz von Dada, und als im Winterland der Auftritt inszeniert wurde, um die Lüge ihrer selbst zu überführen, schien diese Idee die Essenz der Sex Pistols zu sein. »FUCKING BLOODY MESS!« schrie Johnny Rotten den Fötus an, dann als Fötus, dann als Elefantenmensch, »ich bin kein Tier!« – was man dachte, war unwichtig. Der Song handelte nicht von Abtreibung. Es war ein unwiderstehlicher Augenblick der Folter, Angst, des Hasses und der Vulgarität. Man versetzte sich in den Körper, und der Körper wurde in Stücke gerissen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?