Lipstick Traces

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

DIE SEX PISTOLS

nannten ihren letzten Auftritt den schlechtesten ihrer Laufbahn, aber für die Fünftausend im proppevollen Winterland Ballroom in San Francisco am 14. Januar 1978 war dieser Auftritt der Tag des Jüngsten Gerichts … und zwar nicht etwa, weil viele die Zettel gelesen hätten, die Evangelisten vor dem Gebäude verteilten: »In jedem von uns steckt ein Johnny Rotten, und der muss nicht befreit werden – man muss ihn kreuzigen!»

Für Johnny Rotten wäre das ein alter Hut gewesen; auf einem seiner Publicity-Fotos sieht man ihn an ein Kreuz genagelt. In London war die von den Sex Pistols und ihren ersten Anhängern geschaffene Subkultur bereits von denjenigen für tot erklärt worden, die sich mit solchen Erklärungen beschäftigen: eine ehemals geheime, durch Schlagzeilen und Tourismus Gemeingut gewordene Gesellschaft. Oder war Punk anfangs tatsächlich eine Art Geheimgesellschaft, die sich nicht der Wahrung eines Geheimnisses, sondern der Suche danach verschrieben hatte, eine Gesellschaft, die auf der blinden Überzeugung beruhte, es gebe ein Geheimnis zu entdecken? Wurde die Story reif für ihre eigenen Fußnoten, als das Geheimnis erst einmal aufgedeckt schien, als Punk zu einer Ideologie des Protestes und der Selbstdarstellung geworden war – als die Leute wussten, was sie zu erwarten hatten, als sie begriffen, was sie bekamen, wenn sie ihr Geld hinblätterten, oder was sie alles tun würden, um es zu verdienen?

In den USA hatten sich landesweit erste Enklaven gebildet (Nachtclubs, Fanzines, Plattenläden, ein halbes Dutzend Oberschüler hier, ein Künstlertrio dort, ein Mädchen, das sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, um ihre neue Frisur im Spiegel anzustarren), wenn auch vielleicht weniger aufgrund des Reizes, zehn Dollar teure Importexemplare der verbotenen »Anarchy«-Single zu hören, als aufgrund von Zeitungs- und Fernsehberichten über Londoner Jugendliche, die ihre Gesichter mittels Haushaltsgegenständen entstellten. Echte Entdeckungen fanden statt, aus dem Nichts (»Die ursprüngliche Szene«, berichtete ein Mitgründer des Punkmilieus von Los Angeles, »bestand aus Leuten, die Risiken eingingen und auf obskure Informationsfetzen hin handelten«); für einige sollten diese Entdeckungen, eine neue Art zu gehen und eine neue Art zu reden, noch auf Jahre hinaus die Widersprüche des Alltagslebens anschaulicher und das Leben interessanter machen, als es sonst gewesen wäre.


Atelier-populaire-Plakat, Mai 1968


Sex-Pistols-Werbezettel von Jamie Reid, 1977

»Jetzt ist die Zeit für Publikumsbeteiligung«, sagte Joe Strummer von den Clash Ende 1976 von der Bühne herab. »Ihr erzählt mir jetzt alle, warum ihr hier seid.« Während sie darauf warteten, dass die Sex Pistols im Winterland auf die Bühne kamen, fragten sich vielleicht eine Menge Leute, warum sie da waren … fragten sich, warum sie so wirre und wilde Erwartungen hegten. Von allen in diesem Augenblick codierten Geschichten war wenigstens eine musikalisch; mit allen geheimen Inhalten der Musik verglichen, war diese Story beinahe lautlos, doch ich werde sie als erste erzählen.

»HAST DU

die Sex Pistols gesehen?« flüsterte Joe Strummer eines Abends Ende 1976 Graham Parker zu, als gebe er ein so unwahrscheinliches Gerücht weiter, dass er sich nicht traute, lauter zu reden. Sie gehörten der Londoner Pub-Rock-Szene an (Parker eiferte Wilson Pickett und den Temptations nach, Strummers Vorbilder hießen Chuck Berry und Gene Vincent) – ein weiterer vergeblicher Versuch, die bombastische Musik der siebziger Jahre zu den Wurzeln zurückzuführen. »Nein«, antwortete Parker. »Die Sex Pistols?« »Völlig neues Ding, Mann«, sagte Strummer, »völlig neues Ding.«

Umgehend verließ Strummer seine Rock-Revival-Band und gründete die Clash: »Gestern hielt ich mich für eine Niete«, begründete er später gegenüber Freunden seinen Entschluss. »Dann sah ich die Sex Pistols und wurde zum König.« Eine gute Geschichte, zu gut, um wahr zu sein, doch in der Musik wurde sie wahr, und ganz besonders in der Musik der Slits. Sie waren die erste reine Frauen-Punkband: vier Teenager, die nicht die leiseste Ahnung hatten, wie man irgendetwas machte, außer auf die Bühne klettern und schreien. Sie riefen »Fuck you«, und das hieß: »Warum nicht?« Es war, schrieb Jon Savage viel später, der Sound von Menschen, die ihre eigene Power entdeckten.

EIGENTLICH

hinterließen die Slits nichts außer einem vor Sprachlosigkeit brüllenden Gegenstand: eine LP ohne Titel in der unbedruckten Hülle einer Raubpressung. Ich stelle mir gern vor, dass die Platte »Once Upon a Time in a Living Room« heißt, bin mir aber nicht ganz sicher; auf dem Label stehen beliebig hingekritzelte Sätze statt Titel, die Namen der Songs muss man sich aus diversen Vorschlägen auswählen. Nehmen wir »A Boring Life« – sobald die Musik einsetzt, habe ich nie versucht, auch nur ein Wort zu verstehen.

Eine Slit kichert; eine zweite fragt: »You ready?«, eine andere antwortet: »Ready?«, als würde ihr das nie gelingen, dann gibt die vierte das Kichern zurück wie Alice, als sie in den Kaninchenbau hinabtaucht: »Ah, ah, OH NOOOOO …« Es ist das letzte Geräusch, das man am höchsten Punkt einer Achterbahn hört, und in der folgenden Totenstille hat man Zeit, an Elvis in Sam Phillips’ Sun Studios zu denken, wie er 1955 »Milkcow Blues Boogie« mit einem kleinen einstudierten Vorspann einleitete (»Hold it, fellas! That don’t move me! Let’s get real, real gone for a change!«), nur ist der Slits-Vorspann zu belanglos, um einstudiert zu sein, geschweige denn irgendwohin zu führen, und dann zerbricht die Stille unter kompromisslosem Lärm. Dieses komprimierte Drama – Verlegenheit und Erwartung, Zaudern und Panik, Stille und Lärm – macht den gesamten Punk aus.

Die Slits waren Ari Up, Sängerin, Palmolive, Drums, Viv Albertine, Gitarre, und Tessa, Bass. Der Rolling Stone Rock Almanac notiert unter dem Datum 11. März 1977: »Die Slits treten zum ersten Mal live auf, als Vorgruppe der Clash im Londoner Roxy … [Sie] haben an dem doppelten Fluch ihres Geschlechts und ihres Stils zu tragen, der das Konzept des aufgeklärten Dilettantismus auf die Spitze treibt … Die Slits reagieren auf den Vorwurf der Unfähigkeit damit, dass sie einzelne Zuhörer zum Musizieren auf die Bühne bitten, während die vier Frauen im Zuschauerraum tanzen.« Dabei fällt einem eine Zeile einer alten jamaikanischen Single ein … aus Prince Busters »Barrister Pardon«, dem letzten Teil seiner Judge-Dread-Trilogie, die von einem Rächer handelt, der aus Äthiopien kam, um die Slums in Kingston von ihren Rude-Boy-Hooligans zu befreien. Auf drei Singles verurteilt er jugendliche Mörder zu Hunderten von Jahren Gefängnis, bringt ihre Anwälte hinter Gitter, wenn sie die Frechheit besitzen, in Berufung zu gehen, lässt jeden im Gerichtssaal in Tränen ausbrechen, lässt alle frei, hopst von der Richterbank und tanzt mit der Menge den Cakewalk: »I am the judge, but I know how to dance.« In »A Boring Life« verhandelten die Slits alle anderen Versionen von Rock ’n’ Roll: »Milkcow Blues Boogie«, »Barrister Pardon«, die minderwertigen offiziellen Platten, die sie selbst herausbrachten, als ihr Moment vorüber war.

Es war unvergleichlich. Schreien und Kreischen, aus wildem Gitarrengedresche findet die Gruppe einen Beat, schafft einen Rhythmus, beginnt, ihn zu formen; der Rhythmus macht sich selbständig, und die Band jagt ihn, überholt ihn und rast weiter. Quietschen, Kreischen, Knurren und Jaulen – direkte weibliche Geräusche, wie sie die Popmusik noch nie erlebt hatte – brausen durch die Luft, während die Slits Hand in Hand durch ein selbstgeschaffenes Gewitter marschieren. Es ist ein vergnügter, rachsüchtiger Auftritt, ein bis an die Zähne bewaffnetes Kinderlied. Sie gehen keinem musikalischen Wagnis aus dem Weg, und für diese Frauen war schon der einfachste Akkord ein Wagnis: Ihr Dilettantismus war nicht aufgeklärt.


Slits-Werbezettel, 1978

»No more rock ’n’ roll for you / No more rock ’n’ roll for me«, lautet ein betrunkener Seufzer an anderer Stelle auf der Platte, eine Parallele zu dem »No future«-Refrain der Sex Pistols … es sang irgendein nicht genannter Mann, vielleicht der Typ, der das Tonbandgerät bediente, aber damit bestätigten die Slits, dass sie ihre Musik jedenfalls nicht Rock ’n’ Roll nannten. Es war Musik, die ihren Namen ablehnte, womit sie auch ihre Geschichte ablehnte; von diesem Augenblick an wusste keiner mehr, was Rock ’n’ Roll war, so dass unter der Bezeichnung fast alles möglich oder unmöglich wurde: Beliebiger Lärm war Rock ’n’ Roll, die Beatles aber nicht. Von den vergessenen Produktionen einiger weniger Kult-Propheten abgesehen – amerikanischer Ikonen wie Captain Beefheart, Garagenbands der mittsechziger Jahre wie Count Five oder die Shadows of Knight, die Velvet Underground und die Stooges Ende der Sechziger, die New York Dolls sowie Jonathan Richman and the Modern Lovers in den frühen siebziger Jahren, außerdem die Reggae-Stimme des gnostischen Exils –, lehnte Punk sofort die Musik vor ihm ab; Punk verweigerte jedem die Anerkennung, der mal einen Hit gelandet hatte oder spielte, als könne er mit einem Instrument umgehen. Indem Punk eine Tradition zerstörte, begründete er eine neue.

 

Selbst in der Rückschau ist es immer noch möglich, diese Version der Rock ’n’ Roll-Story für die ganze Story zu halten – nicht weil die von Punk abgelehnte Musik wertlos war, sondern weil man sich bei dem wenigen, was von der Musik der Slits übrig geblieben ist, vorstellen kann, dass ihr Sound vollständiger und geheimnisvoller herüberkam, als die mit großer Sorgfalt hergestellten Produkte von allen, die vor oder nach ihnen kamen. Ob man »A Boring Life« 1977 hörte, als es aufgenommen wurde, oder zehn Jahre später, es schreibt die Geschichte der Rockmusik um.

MAN SAGT,

in den fünfziger Jahren hätten fünfzehntausend schwarze Vokalgruppen Platten aufgenommen. Ich weiß nicht, ob das stimmt; ich staunte nicht schlecht, als ich das erste Mal auf diese Zahl stieß. Punk machte sie glaubwürdig.

Die Öffentlichkeit hat nur den kleinsten Teil dieser Gruppen wahrgenommen, aber sie alle waren darauf aus, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden; sie waren auf Ruhm und Geld aus und auf das Gefühl, dass hier, wenn auch nur im Phantasie-Utopia einer Drei-Minuten-Schallplatte, Leute hervortraten, die nie zuvor Grund zu der Annahme hatten, irgendwer könne sich dafür interessieren, wie sie klangen oder was sie zu sagen hatten. Es war eine in der Geschichte der populären Kultur noch nicht dagewesene Stimmenflut, und mit anderen Formen frühen Rock ’n’ Rolls – dem raffinierten Rhythm and Blues von Ray Charles oder Clyde McPhatters Drifters, dem Rockabilly von Elvis, Carl Perkins und Jerry Lee Lewis, den irren Ausbrüchen eines Little Richard, den pfiffigen Teen-Hymnen Chuck Berrys, den Überraschungen von Krachmachern wie den Monotones – markierte sie weltweit die Veränderung der populären Musik. »Ich muss mit einem Jungen namens Elvis Presley reden«, erklärte 1956 die Rektorin einer Londoner Gesamtschule, »weil er in jedes Pult der Schule seinen Namen geritzt hat.#

»ES WAR EINFACH herrlich, in einem bereits fortgeschrittenen Alter die Sorte Gefühl wiederzuentdecken, das ich zum ersten Mal als Junge hatte, als ich Little Richard und Elvis hörte. Es war aufregend, aber auch irgendwie beängstigend … man dachte: ›Passiert das wirklich?‹ Man ging zu den Gigs und hatte das Gefühl, an etwas teilzunehmen, das von einem anderen Planeten stammte, es kam einem so erstaunlich vor, dass es überhaupt stattfand.«

John Peel, Diskjockey bei der BBC, 1986; über Punk in London, 1976

Das nächste wichtige Ereignis für den Rock ’n’ Roll – das Auftreten der Beatles in Liverpool und London zwischen 1962 und 1963, beeinflusst durch James Browns schwarzen Rock, durch Motown in Detroit und Stax in Memphis – sorgte nicht für eine solche Kakophonie. Zahllose neue Bands nahmen Platten auf, aber als sie sich erst mal etabliert hatte, setzte sich die neue Musikrichtung bald durch und griff auf den gesamten Westen über; in Verbindung mit der sozialen Revolte der amerikanischen Schwarzen, dann mit der internationalen Rebellion weißer Jugendlicher, wurde der Rock ’n’ Roll dünkelhaft. Als Kunst gepriesen, wurde er befangen. An die Stelle des Geistes, der die Welt überhaupt erst auf den Sound aufmerksam gemacht hatte – jener Eifer, einfach alles zu tun, um Gehör zu finden, der einem bei vielen Singles aus den fünfziger Jahren oder vielen drittklassigen Beatles-Imitationen des Jahres 1964 auffällt –, trat ein Kult der Weisheit, Verantwortung und Virtuosität.

Anfangs hatten ihnen noch Hunderte winziger unabhängiger Labels den Rang abgelaufen, aber ab Mitte der sechziger Jahre verfügten die großen Plattenfirmen über die großen Künstler und schufen ein Zentrum; aus dem Rahmen fallende Musik, ein in den Fünfzigern ganz unvorstellbares Konzept, klang bald nur noch verschroben. Im Jahr 1967, in dem für die Popmusik das Beatles-Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band bestimmend war, regierte den Rock ’n’ Roll eine Ideologie der Bejahung, der Kreativität und Neuerung. Beinahe alles klang hoffnungsvoll, wichtig und neu, doch in Wirklichkeit implodierte die Musik. Beinahe alles orientierte sich zum Zentrum hin, und den Rest stieß das rotierende Zentrum ab. Gegen Ende des Jahrzehnts aufkommende Warnungen wie »A Day in the Life« der Beatles, Let It Bleed von den Rolling Stones, Bob Dylans John Wesley Harding, White Light/White Heat von den Velvet Underground, John Lennons Plastic Ono Band oder There’s a Riot Goin’ On von Sly and the Family Stone samt dem anschließenden desillusionierten, politisierten schwarzen Pop wurden sogar von denen ignoriert, die sie aussprachen. Das Musikgeschäft tendierte zur Rationalisierung; dieser Prozess war 1975 fast abgeschlossen, als Konglomerate der Freizeitindustrie die Plattenverkäufe in den Händen von ein paar Firmen konzentriert hatten, kaum mehr, als es amerikanische Autohersteller gab. »Unterhaltung setzt nicht den Glauben außer Kraft«, schrieb Michael Ventura 1985, »sondern Werte. Man könnte dies sogar die Bedeutung der von uns praktizierten Unterhaltung nennen: die Ablösung außer Kraft gesetzter Werte, mit denen wir nicht mehr leben möchten, aber ohne die zu leben wir uns nicht trauen … Von der Arbeit nach Hause kommen und auf einen Bildschirm starren, auf dem andere intensiver leben als man selbst … so sieht das amerikanische Leben im Großen und Ganzen aus.« Genauso gut hätte Ventura »das moderne Leben« schreiben können. Warner Communications, damals das führende Unternehmen der Freizeitbranche, hatte sich bereits 1977 in seinem Jahresbericht des Problems angenommen:

Unterhaltung ist zur Notwendigkeit geworden. Diese Aussage scheint übertrieben: Kann Unterhaltung in dem Sinn notwendig sein, wie Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf notwendig sind?… Das Problem bei obiger Aussage ist nicht das Wort »notwendig«, sondern das Wort »Unterhaltung«. Noch vor zwanzig Jahren hätte »Unterhaltung« – Zeitvertreib, Amüsement – zur Bezeichnung des überwiegenden Teils von Filmen, Fernseh- und Rundfunkprogrammen, Printmedien und Tonaufnahmen ausgereicht. Doch heute erscheint uns das Wort unzureichend, von den Ereignissen überholt. Heute haben diese Medien eine vielseitigere und wichtigere Rolle zu erfüllen, als lediglich zum angenehmen Zeitvertreib beizutragen. Was ihre mechanischen Verfahren betrifft … [sind] die Medien weitgehend unverändert [geblieben]. Doch was ihren persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen angeht, haben sie sich vollständig gewandelt … Die seit dem 19. Jahrhundert weltweit rasant fortschreitende Industrialisierung stellt, wie viele meinen, eine ernste Herausforderung für die individuelle Identität dar: Eine immer effizientere, standardisierte Welt gefährdet ihre persönliche Freiheit, die Bedeutung und Möglichkeiten, woraus ein Gefühl der Entmündigung des Ichs resultiert.

Das meinte Harold Rosenberg 1956, als er von der »Proletarisierung« sprach; der von der Organisation der modernen Gesellschaft herbeigeführte »Prozess der Entpersönlichung und Passivität«, die Ausweitung »der psychischen Verhältnisse des Fabrikarbeiters im neunzehnten Jahrhundert« auf die gesamte Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. »Davon demoralisiert, dass sie sich selbst fremd sind und ihre Beziehungen zu anderen kaum kontrollieren«, schrieb Rosenberg, »ergeben sich Angehörige jeder Klasse künstlich konstruierten Massen-Egos, die versprechen, ihre Verbindungen zu Vergangenheit und Zukunft wiederherzustellen.« Warner Communications sah 1977 die Lage nicht ganz so schwarz:

Nachdem er der Technik erlaubte, das Problem zu schaffen, hat sich der Mensch nun daran gemacht, es mit Hilfe der Technik zu bereinigen. Seit der exponentiell gesteigerten Verfügbarkeit aller Formen von Kommunikation mussten die »Unterhaltungs«-Medien dazu herhalten, dem einzelnen Erfahrungsmodelle, Gelegenheiten zur Selbsterkenntnis sowie Elemente der Identität zu liefern … Die Übermittlung von Informationen – in vielen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, für viele unterschiedliche Menschen – ist das Geschäft von Warner Communications. Und das phänomenale Wachstum unserer Firma wie auch anderer führender Betriebe der Branche spiegelt eine in der Geschichte noch nie dagewesene Ehe zwischen Kultur und Technik wider und eine damit im Einklang stehende Revolution im menschlichen Sinne des Ichs.

DIE WELT

florierte, obwohl die Jordan Motor Company verschwand, Hersteller des Jordan Playboy, des aufregendsten amerikanischen Automobils der zwanziger Jahre; vermutlich würde die Welt auch ohne fünfzehntausend Platten aufnehmende Doo-Wop-Gruppen über die Runden kommen. In dem riesigen, hierarchisch durchorganisierten Markt schossen die Verkaufszahlen von Schallplatten in die Höhe, auch wenn die boomende Wirtschaft der sechziger Jahre einer irrationalen, schrumpfenden Wirtschaft Platz machte, die sich über traditionelle Werte hinwegsetzte, ob es die Werte des Schwer-Arbeiten-und-Geld-Sparens aus der Vor-Rock-Ära waren oder die bereits traditionellen Sechziger-Jahre-Werte: nicht arbeiten und bloß nichts auslassen. Die Seuche erreichte Großbritannien vor den USA, die sich ein paar Jahre Zeit zum Aufholen ließen. Margaret Drabbles Roman The Ice Age (Die Eiszeit) über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch Englands steckte voller Protagonisten, die die Wirtschaftskrise als Befreiung von Angst begrüßten, und erschien nicht zufällig zur gleichen Zeit wie die Sex Pistols. Beide wollten einen Ansatz für eine Welt, in der die Gesellschaft ihre Versprechen nicht mehr hielt, und wer glaubte, sie würden eingelöst, machte sich rasch zum Narren.

Rechnungen für Krieg oder gesellschaftliche Planungen wurden fällig. Araber mit Öl sprangen auf einmal mit dem Westen so um, wie Westler mit Waffen früher mit Arabern umgesprungen waren, die Arbeitslosigkeit stieg, die Inflation schnellte in die Höhe, das Kapital versiegte. Die in den fünfziger Jahren versprochene Welt (»Was wollen Sie?« stand 1957 in einer britischen Anzeige. »Bessere und preiswertere Lebensmittel? Haufenweise neue Kleider? Ein Traumhaus mit modernstem Komfort und arbeitssparenden Geräten? Ein neues Auto … ein Motorboot … ein eigenes Sportflugzeug? Was auch immer Sie wollen, es kommt auf Sie zu, außerdem mehr Freizeit, um das alles genießen zu können. Mit Elektronik, Automatisierung und Kernenergie treten wir in die neue industrielle Revolution ein, die all unsere Bedürfnisse befriedigen wird … schnell … billig … im Überfluss«), in den sechziger Jahren eine offenbar vor der Tür stehende Welt, wirkte 1975 nur noch wie ein übler Scherz. Weniger auf konkretem Leid als auf enttäuschten Erwartungen beruhend, setzte Panik ein; und Rachsucht. Drabble schrieb:


Die Penguins, eine der 15.000 schwarzen Vokalgruppen, die in den fünfziger Jahren Platten aufnahmen

Überall im Land sahen Familien, die sich die Nachrichten angehört hatten, einander an und sagten: »Du liebe Gü te«, oder »Schöne Bescherung«, oder »Ich geb’s auf«, oder »Na, scheiß drauf«, bevor sie sich für den Abend dem Farbfernseher widmeten, oder einem ausgiebigen Essen, oder einem Ausflug in die Kneipe oder einem Abend des Gesangvereins. Überall im Land machten Menschen andere Menschen für das verantwortlich, was schiefging … die Gewerkschaften, die jetzige Regierung, die Bergarbeiter, die Automobilarbeiter, die Seeleute, die Araber, die Iren, ihre Ehemänner, ihre Ehefrauen, ihren eigenen faulen nutzlosen Nachwuchs, die Gesamtschulpädagogik. Niemand wusste, wer wirklich schuld war, doch den meisten gelang es, sich ziemlich heftig über irgendwen zu beklagen; nur wenige versanken vor Fassungslosigkeit in redliches Schweigen. Die seit zwanzig Jahren über die minimale Erhöhung der Lebenshaltungskosten gemeckert hatten, besaßen natürlich nicht die Würde, zu wünschen, sie hätten noch genug Puste, um in den heißen Brei zu pusten, denn ein Meckerer ist und bleibt nun mal ein Meckerer, und denen, die am meisten gemeckert hatten, als es nichts zu meckern gab, ging es jetzt ganz großartig.