Lipstick Traces

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VERBINDUNGEN

zwischen den Sex Pistols, Dada und dem so hochtrabend Situationistische Internationale genannten Gebilde bis hin zu vergessenen Ketzereien wurden nicht von mir entdeckt. In den frühen Tagen des Londoner Punk fand sich kaum ein Artikel zum Thema, in dem das Wort »Dada« fehlte: Punk sei »wie Dada«, sagten alle, doch keiner erklärte, warum, ganz zu schweigen davon, was das heißen sollte. Anspielungen auf Malcolm McLarens angebliche Kontakte zu der geheimnisvollen »S.I.« wurden in der britischen Pop-Presse als Insiderwissen gehandelt, aber dieses Wissen brachte einen anscheinend nicht weiter.

Dennoch hörte sich das alles interessant an, auch wenn »Dada« für mich allenfalls ein Wort war, das nur vage an eine verflossene Kunstrichtung erinnerte (Paris in den Goldenen Zwanzigern? etwas in der Art); auch wenn ich von der Situationistischen Internationale noch nie gehört hatte. Ich stöberte also herum, und je mehr ich herausfand, desto weniger wusste ich. Alle möglichen Leute hatten diese Verbindungen hergestellt, aber keiner hatte etwas daraus gemacht … und ziemlich bald führte mich mein Versuch, etwas daraus zu machen, vom Katalog der Universitätsbibliothek in Berkeley zum Dada-Gründungsort in Zürich, von Gil J. Wolmans Bohèmewohnung in Paris zu Michèle Bernsteins Pfarrhaus in Südengland, von Alexander Trocchis Junkieabsteige in London zurück zu Büchern, die dreißig Jahre lang in Bibliotheksregalen verstaubt waren, bevor ich sie auslieh. Er führte mich zu Mikrofilmgeräten, auf denen sich die unzweideutigen öffentlichen Äußerungen aus der Zeit meiner Kindheit abspulten; es ist eigenartig, alte Zeitungen zu durchforsten, auf der Suche nach dem bestätigenden Datum für das Fragment einer privaten fixen Idee, die man in eine öffentliche Äußerung zu verwandeln hofft, sich von Anzeigen ablenken zu lassen, die nach all der Zeit so plump und durchsichtig wirken, zu fühlen, ja, die Vergangenheit ist ein anderes Land, eine nette Gegend für einen Besuch, aber man möchte dort nicht leben, um auf die ersten Meldungen über den Sturz der guatemaltekischen Regierung Arbenz zu stoßen, die toten Nachrichten zu lesen, als wären sie eine miese Parodie von CIA-Desinformationen, und anschließend in der aktuellen Tageszeitung die Konsequenzen zu verfolgen: Gesichter, schreibt der Reporter 1984, drei Jahrzehnte nachdem Arbenz in die Mikrofilmarchive einging, die heute von dubiosen Bürgern mittels Bajonetten entfernt und dann an Bäume gehängt werden, bis sie zu Masken getrocknet sind. Die Zeit schreitet fort.

Es war keine heroische Suche; einige der Bücher verdienten es, auch die nächsten dreißig Jahre übersehen zu werden. In erster Linie war es ein Spiel, oder auch ein Jucken, das gekratzt werden wollte: das Aufspüren einer echten Story oder das Verfolgen einer falschen Fährte um des Vergnügens willen, das nur eine falsche Fährte bereitet. Die Recherche bewirkt, dass die Zeit voranschreitet, rückwärts läuft oder stehenbleibt. Zwei Jahre und fünfzehntausend Kilometer später lagen die ersten Nummern von Potlatch vor mir, einem Mitteilungsblatt der Lettristischen Internationale, das Mitte der fünfziger Jahre in Paris verteilt wurde; auf seinen hektographierten Seiten firmierte »Kritik der Architektur« als Schlüssel zur Kritik des Lebens. Hier wurde der große Architekt Le Corbusier als »M. Sing-Sing« und »Erbauer von Slums« verdammt. Seine Strahlende Stadt wurde als autoritäres Experiment sozialen Maschinenbaus verworfen, als Ansammlung »vertikaler Gettos« und turmhoher »Leichenschauhäuser«; die wahre Funktion von Le Corbusiers gefeierten »Wohnmaschinen«, so las man in Potlatch, sei es, Maschinen zu produzieren, die in ihnen wohnten. »Das Dekor bestimmt die Gesten«, schrieb die L.I.; »wir werden leidenschaftliche Häuser bauen.« Von einem Größenwahn beseelt, der im Gegensatz zu ihren verschmierten maschinegeschriebenen Seiten stand, brachte die L.I. Worte zu Papier, die »Anarchy in the U.K.« später in Bob Geldofs Mund legen sollten – das konnte man sich durchaus vorstellen. Doch als mir meine guatemaltekischen Reisen im Mikrofilmraum einfielen, fragte ich mich, ob es für die Geschichte der Sex Pistols etwas bedeutete, dass die Potlatch-Autoren (Gil J. Wolman, Michèle Bernstein und die vier anderen, die damals ihre Namen auf das Papier schrieben) im Sommer 1954 den Sturz des Reformers Arbenz durch die CIA als zentrales gesellschaftliches Ereignis wählten, als Metapher und als Mittler zu der Sprache der »alten Welt«, die sie zerstören wollten, zu der »neuen Zivilisation«, die sie schaffen wollten.

Hier fanden sich hellsichtige Versionen der Nachrichten der folgenden Woche, als Potlatch Saint-Just von der Guillotine zurückholte, um ein »Voraburteil« über Arbenz’ Weigerung abzugeben, Guatemalas Arbeiter gegen den unvermeidlichen Putsch zu bewaffnen (»Wer eine Revolution nur halbherzig macht, schaufelt sein eigenes Grab«). Außerdem fanden sich kryptische Verweise auf die Katharer, Ketzer im Frankreich des dreizehnten Jahrhunderts, sowie die neuesten Erkenntnisse der Teilchenphysik. Hier tauchte auch die erste Notiz eines immer wiederkehrenden situationistischen Themas auf: der Vorstellung vom »Urlaub« als einer Art Teufelskreis von Entfremdung und Unterjochung, ein Symbol der falschen Versprechungen des modernen Lebens, ein Gedanke, der mit CLUB MED – EIN BILLIGER URLAUB IM ELEND ANDERER LEUTE im Paris des Mai 1968 als Graffito auftauchte und sich später, so schien es, in »Holidays in the Sun« verwandelte. »Nach Spanien oder Griechenland kann sich nun auch Guatemala zu den für den Tourismus geeigneten Ländern zählen«, schrieb die L.I. kühl und merkte an, dass die Exekutionskommandos der neuen Regierung bereits die Straßen von Guatemala City säuberten. »Wir hoffen, irgendwann mal hinzufliegen.«

DIE FRAGE

nach einer Ahnenreihe in der Kultur ist müßig. Jede neue Manifestation in der Kultur schreibt die Vergangenheit um, macht aus alten Unpersonen neue Helden und aus alten Helden Leute, die besser nie geboren worden wären. Neue Akteure durchkämmen die Vergangenheit nach Ahnen, schließlich bedeuten Ahnen Legitimität, und Neuheit bedeutet Zweifel – aber zu allen Zeiten tauchen vergessene Akteure aus der Vergangenheit nicht als Ahnen, sondern als Vertraute auf. Im Amerika der zwanziger Jahre war es Herman Melville, in der Rock ’n’ Roll-Ära der sechziger Jahre war es der Mississippi-Bluesman Robert Johnson aus den Dreißigern, in den entropischen siebziger Jahren des Westens war es der sorgfältig absolutistische deutsche Kritiker Walter Benjamin aus den Zwanzigern und Dreißigern. 1976 und 1977 sowie in den folgenden, symbolisch von den Sex Pistols umgestalteten Jahren waren es vielleicht Dadaisten, Lettristen, Situationisten sowie diverse mittelalterliche Ketzer.

Hörte man sich nur die Platten an, war das nicht besonders aufschlussreich. Als ich mir die Verbindungen ansah, die andere hergestellt und vorausgesetzt hatten (überprüfte man eine Angabe, führte sie zu nichts), verstrickte ich mich plötzlich in etwas, bei dem es weniger um kulturelle Ahnenforschung ging oder darum, die Beziehung zwischen den einzelnen Teilen einer Story zu verfolgen, als darum, eine Geschichte zu erfinden. Aus dem Schatten bekannter Ereignisse schälte sich eine unwesentliche Geschichte heraus; jede Manifestation beanspruchte während ihres kurzen Moments die ganze Welt, um dann zu einer zehnstelligen Zahl im Deweyschen Dezimalsystem reduziert zu werden. Wenn diese Story vor dem Hintergrund von Kriegen und Revolutionen auch annähernd stumm war, schien sie doch für dieses Jahrhundert charakteristisch zu sein, eine Geschichte, die immer wieder die Stimme erhebt und sie von neuem verliert; es schien eine Stimme zu sein, die sich nur erheben musste, um wieder verloren zu gehen.

Bei meinem Versuch, dieser Story zu folgen – wobei die Protagonisten immer wieder in die Kleider der anderen schlüpften, bis ich es aufgab, sie zum Stillhalten zu bewegen –, reizten mich ihre Lücken sowie jene Momente, in denen die Story, die ihre Stimme verloren hatte, diese irgendwie wiedergewinnt, und was sich danach entwickelt. Lange bevor ich Potlatch aufspürte, hatte ich eine »Die vergoldete Legende« überschriebene Anzeige dafür aus dem Jahr 1954 entdeckt, eine Seite in Les Lèvres nues, einer belgischen, auf Hochglanzpapier gedruckten neosurrealistischen Zeitschrift. »Das Jahrhundert hat ein paar große Brandstifter gekannt«, stand in der Anzeige. »Heute sind sie entweder tot, oder sie putzen sich vor dem Spiegel heraus … Überall entdeckt die Jugend (wie sie sich selbst nennt) unter dreißig Jahren Staub und Schutt ein paar stumpf gewordene Messer, ein paar entschärfte Bomben; die Jugend schleudert sie, schlotternd vor Angst, auf den willigen Pöbel, der sie mit schmierigem Lachen begrüßt.« Der L.I.-Publizist versprach, Potlatch wisse einen Weg aus dieser Sackgasse, und erwähnte dann, welche Fragmente surrealistischer Messer und Dada-Bomben es noch gebe. Heute scheint mir, als sei die Lettristische Internationale (bloß eine Handvoll junger Leute, die sich ein paar Jahre lang unter diesem Namen zusammenschlossen, um sich gut zu amüsieren, um die Welt zu verändern) selbst eine damals unbeachtete Bombe gewesen, die Jahrzehnte später als »Anarchy in the U.K.« und »Holidays in the Sun« explodierte.

Eine solche Behauptung ist weniger eine These zu dem Thema, wie die Vergangenheit die Gegenwart formt, als ein Hinweis darauf, dass die Verquickung von heute und gestern im Grunde ein Rätsel ist. Potlatch entlehnte nämlich nach eigener Auskunft seinen Namen »der unter nordamerikanischen Indianern geläufigen Bezeichnung einer vorkommerziellen Form von auf dem Austausch aufwendiger Geschenke beruhendem Warenverkehr«; die »unverkäuflichen Waren, die beispielsweise eine kostenlose Druckschrift verteilen kann, sind bislang unveröffentlichte Wünsche und Fragen, und lediglich ihre gründliche Analyse durch andere stellt ein Gegengeschenk dar«. Dieses Buch entstammt dem Wunsch, die geballte Kraft von »Anarchy in the U.K.« als Musik zu begreifen, seine Fruchtbarkeit als Kultur zu verstehen. Vielleicht liegt der Schlüssel zu diesen Fragen nicht darin, dass die Sex Pistols ihre Existenz auf das Geschenk der L.I. zurückführen konnten, sondern dass sie das Geschenk blind zurückgaben, und zwar in einer Form, die die Schenkenden nie erkannt hätten – Ästheten, die entsetzt miterlebt hätten, wie ihre Theorien zu billigen Waren wurden. Wenn »Anarchy in the U.K.« tatsächlich eine alte vergessene Gesellschaftskritik aufnahm, so ist das interessant; doch wenn »Anarchy in the U.K.« als ein Teil eines neuen »Potlatsch«, eines Gesprächs zwischen ein paar tausend Songs, dieser Kritik Leben einhauchte … das wäre weit mehr als interessant.

 

Diese Story, falls es denn eine ist, erzählt sich nicht von allein; als ich ihre Umrisse gesehen hatte, wollte ich die Story so formen, dass jedes Fragment, jede Stimme ein Urteil über alle anderen abgab, auch wenn die Menschen hinter den einzelnen Stimmen noch nie voneinander gehört hatten. Besonders dann; besonders wenn, wie in »Anarchy in the U.K.«, ein Zwanzigjähriger namens Johnny Rotten eine Gesellschaftskritik neu formulierte, von Leuten erdacht, die es, wenn man ihn fragte, nie gegeben hatte. Wer wusste denn, was sonst noch zu dieser Geschichte gehörte? Wenn man, statt weiter auf die Vergangenheit zu starren, ihr stattdessen zuhörte, könnte man eventuell den Widerhall eines neuen Gesprächs hören; dann wäre der Kritiker damit beschäftigt, Sprecher und Zuhörer, die von der Existenz des anderen nichts wissen, zu einem gemeinsamen Gespräch zu führen. Aufgabe des Kritikers wäre es dann, seine Fähigkeit zu bewahren, über den Fortgang des Gesprächs überrascht zu sein und dieses Gefühl der Überraschung anderen Menschen mitzuteilen, da ein Leben mit Überraschung besser ist als ein Leben ohne.

Mein Wunsch, aus dem anfänglichen Entwurf schlau zu werden, wandelte sich zum Wunsch, aus der Verwirrung schlau zu werden, die der Entwurf umgehend bewirkte – aus kryptischen Erklärungen schlau zu werden, die ungeniert das ganze Gewicht der Geschichte für sich reklamierten, wie jene des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre aus dem Jahr 1975:

wenn der Begriff Modernität überhaupt eine Bedeutung hat, ist es diese: von Anfang an trägt er eine radikale Negation in sich … Dada, jenes Ereignis, das in einem Züricher Café stattfand.

Oder die der Situationisten aus dem Jahr 1963: »Der Moment der wirklichen Poesie … bringt die nicht beglichenen Schulden der Geschichte noch einmal ins Spiel.« War diese Zeile, so fragte ich mich, wohl ein Hinweis auf das Versprechen der Berliner Dadaisten von 1919?

dada ist die einzige Sparkasse, die in der Ewigkeit Zins zahlt.

Oder auf den Reiz von »NO FUTURE«, dem berühmtesten Slogan der Sex Pistols? Auf die No-future-Kälte im Gesicht des Lettristen Serge Berna, als er 1952 für die Kamera posierte? Auf das ein paar Seiten starke Manifest eines gewissen Guy-Ernest Debord, das sich in demselben obskuren Band fand, der auch Bernas Porträtfoto enthielt: »Die Kunst der Zukunft wird der Umsturz von Situationen sein, oder sie wird nichts sein«? Oder auf die 1964 von den Situationisten hinterlassene Prahlerei:

Während die zeitgenössische Unfähigkeit sich in diesen Jahren am verspäteten Projekt weidet, »ins XX. Jahrhundert einzutreten«, muss man unseres Erachtens so bald wie möglich diesem Leerlauf ein Ende setzen, der das Jahrhundert beherrscht hat – so wie übrigens bei derselben Gelegenheit auch das christliche Zeitalter. Hier wie anderswo handelt es sich darum, das Maß zu überschreiten. Unser Unternehmen ist das Beste, was bisher gemacht wurde, um das XX. Jahrhundert zu verlassen.

Nun sind wir bei etwas ganz anderem als einem Popsong angelangt … aber ein Popsong war schließlich auch etwas ganz anderes als »I am an antichrist«. Wir sind bereits an einem Punkt, wo wir beinahe nichts Wissenswertes erfahren werden, wenn wir den Rock ’n’ Roll befragen, obwohl es sich hierbei letzten Endes um eine Rock ’n’ Roll-Story handelt. Echte Rätsel lassen sich nicht lösen, aber sie lassen sich in bessere Rätsel verwandeln.


DAS LETZTE KONZERT DER SEX PISTOLS

Seine Zähne waren nadelspitz geschliffen. Das hörte man, wenn Johnny Rotten seine Rs rollte; als der Kriegsdienstverweigerer Richard Huelsenbeck 1918 einem höflichen Berliner Publikum, das sich eingefunden hatte, um einen Vortrag über eine neue Kunstrichtung zu hören, erzählte: »Wir waren für den Krieg, und der Dadaismus ist heute noch für Krieg. Die Dinge müssen sich stoßen: es geht noch lange nicht grausam genug zu«; als 1649 der Ranter Abiezer Coppe seine Feurige Fliegende Rolle entfaltete (»So spricht der HERR, Ich sage Euch, ich werde umstürzen alles, was da besteht«); als 1961 die Situationistische Internationale eine Prophezeiung veröffentlichte, eine »Bekanntmachung an die Ruinenbauer: auf die Urbanisten werden die letzten Höhlenbewohner von Wellblechbaracken und Elendsquartieren folgen. Sie werden bauen können. Die Privilegierten der Schlafstädte werden nur zerstören können. Von einem solchen Zusammentreffen ist viel zu erwarten: es definiert die Revolution.«

Das hörte man, als Johnny Rotten seine Rs rollte; das hätte man jedenfalls hören können.

1975 VERWANDELTE

sich ein Teenager, der sich später Johnny Rotten nannte, in ein lebendes Plakat und stolzierte die Londoner King’s Road hinunter bis nach World’s End, dem Ende der Straße; auf sein mit einem Pink-Floyd-Logo bedrucktes T-Shirt hatte er »I HATE« gekritzelt. Die Reste seiner gerupften Haare hatte er grün gefärbt, und während er sich durch die Touristenmassen schob, spuckte er Hippies an, die ihn zu ignorieren versuchten. Eines Tages machte man einen Geschäftsmann auf ihn aufmerksam, der gerade eine Band zusammenstellte. Der Drummer erinnerte sich an das Vorsingen dieses Burschen, das sich vor einer Jukebox abspielte, wobei der Junge so tat, als sänge er den Text zu Alice Coopers »Eighteen« mit: »Wir dachten, er hat das, was wir wollen. Leicht irre, ein front man. Danach suchten wir: nach einem front man, der genaue Vorstellungen davon hatte, was er tun wollte, und die hatte er ohne Frage. Und wir wussten sofort Bescheid. Auch wenn er nicht singen konnte. Das interessierte uns nicht besonders, weil wir damals gerade erst lernten, auf unseren Instrumenten zu spielen.«

Möglich, dass die Sex Pistols nach den Plänen ihres selbsternannten Impresarios Malcolm McLaren, des Besitzers einer Boutique an der King’s Road, nie mehr sein sollten als ein kurzer Erfolg, ein billiges Vehikel zum schnellen Geldverdienen, gut für ein paar Lacher, für einen Touch des alten épater la bourgeoisie. Er hatte sie aus seinem Laden rekrutiert, ihnen einen Übungsraum beschafft, ihnen einen lachhaft anstößigen Namen gegeben, ihnen von der Hohlheit der Popmusik sowie den Möglichkeiten von Hässlichkeit und Konfrontation gepredigt, ihnen erzählt, sie hätten eine ebenso große Chance wie jeder andere auch, Aufsehen zu erregen, und es sei ihr gutes Recht. Falls alles andere schiefginge, könnten sie immer noch ein lebendes Schild für seinen Laden sein, der ein neues Ladenschild immer gebrauchen konnte: Bevor er sich 1977 für »Seditionaries« entschied, nannte Malcolm McLaren sein Geschäft »Let It Rock«, als er 1971 Teddy-Boy-Klamotten und alte Singles verkaufte; »Too Fast to Live Too Young to Die« 1973, als er Rockerklamotten und diverses Zubehör für Jugendgangs im Angebot hatte, »Sex« war 1974 angesagt, als Ketten, Sexpräparate sowie »God Save Myra Hindley«-T-Shirts verkauft wurden, letztere zum Gedenken an die Frau, die zusammen mit Ian Brady 1965 die Moormorde begangen hatte – Morde an Kindern, die Hindley und Brady als künstlerisches Statement auf Band festgehalten hatten. Gut möglich, dass die Sex Pistols in den Plänen ihres führenden Theoretikers und Propagandisten, des Kunststudenten der sechziger Jahre und ehemaligen sowie Möchtegern-Anarchisten und Provokateurs Malcolm McLaren, dazu bestimmt waren, das Land in Staunen zu versetzen, jene Intensität zu neuem Leben zu erwecken, die McLaren zuerst bei Jerry Lee Lewis’ Song »Great Balls of Fire« erlebt hatte (»So etwas hatte ich noch nie gesehen«, sagte er einmal, als er berichtete, wie ein Mitschüler diesen Song bei einem Talentwettbewerb seines Gymnasiums vorgetragen hatte. »Ich dachte, ihm fiele jeden Moment der Kopf ab«), und schließlich Musik und Politik zu vereinen, um die Welt zu verändern. Der von der französischen Mai-Revolte 1968 begeisterte McLaren hatte in London Solidaritätsdemonstrationen mitorganisiert und später T-Shirts mit aufgedruckten Mai-68-Slogans verkauft, auch wenn »ICH HALTE MEINE SEHNSÜCHTE FÜR REALITÄT, WEIL ICH AN DIE REALITÄT MEINER SEHNSÜCHTE GLAUBE«, der Wahlspruch einer winzigen Studentenclique, der Enragés, die den Aufstand begannen, in dem Laden lediglich verklemmte Geschäftsleute ermutigen sollte, McLarens Gummianzüge zu kaufen. McLaren verkaufte alles; Ende 1978, als der ehemalige Sex Pistols-Bassist Sid Vicious wegen Mordes an seiner Freundin Nancy Spungen verhaftet worden war, warf McLaren Sid Vicious-T-Shirts mit der Aufschrift »I’M ALIVE – SHE’S DEAD – I’M YOURS« auf den Markt (angeblich, um Geld für Vicious’ Verteidigung aufzutreiben). Doch kurz zuvor war er noch mit Exemplaren von Christopher Grays Leaving the 20th Century herumgelaufen, der ersten englischsprachigen Anthologie situationistischer Schriften, an deren Veröffentlichung er und Jamie Reid 1974 beteiligt gewesen waren.

Amerikanische Variante von Malcolm McLarens Laden

Er versuchte, andere zum Lesen des Buches zu bewegen. »Es ist wenig mehr als eine moderne Interpretation marxistischer Essays über entfremdete Arbeit«, sagte Peter Urban, Manager der Dils, einer Punkband aus Los Angeles, die »auf Klassenkampf stand« (der Haupterfolg ihrer ersten Single, »I Hate the Rich«, bestand darin, dass die rivalisierende Gruppe Vom ein »I Hate the Dils« betiteltes Stück herausbrachte). »Damit hat es auch zu tun«, meinte McLaren, »aber es ist sehr, sehr intensiv. Das Gute daran waren die vielen Parolen, die man übernehmen konnte, ohne irgendeiner Bewegung anzugehören. Einer Bewegung anzugehören erstickt oft kreatives Denken sowie, von der Warte eines Jugendlichen aus gesehen, die Fähigkeit, sich selbst auszudrücken … Das Größte an dem Buch ist, dass es dir das erlaubt. Es enthält eine gewisse erregende Aggression und Arroganz …« Ein alter Hut, sagte Urban und schenkte McLarens interessanten Folgerungen ebenso wenig Beachtung wie einem Sticker auf dem Buchumschlag, den ein Zitat aus einer Rezension John Bergers zierte: »… eine der hellsichtigsten und ehrlichsten politischen Aussagen der sechziger Jahre«. »Verlorene Propheten« war Bergers Besprechung überschrieben; wäre der Rest auch noch irgendwie auf den Sticker gequetscht worden, hätte er das Gespräch noch weiter auf Abwege oder mehr auf den Punkt bringen können.

Das Gespräch erschien 1978 in der Mai-Ausgabe von Slash, einem Punk-Magazin aus L.A. Die Nummer, besagte ein Hinweis auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis, war »der Handvoll enragés (französisch für Irre, Fanatiker oder Wahnsinnige) gewidmet, die vor zehn Jahren versuchten, das Leben zu verändern«. Zu der Widmung gehörte die Illustration »une jeunesse que l’avenir inquiète trop souvent« (eine zu oft von der Zukunft beunruhigte Jugend), ein ehemals berühmtes Poster des 68er Kunststudentenkollektivs Atelier populaire; es zeigte eine junge Frau, den Kopf mit Verbandmull umwickelt und die Lippen von einer Sicherheitsnadel durchbohrt. Zehn Jahre später, den Mai 68 hatte man in den USA fast vergessen, war das ein wahrhaft archäologisches Unterfangen, eine merkwürdige Rückkehr in seltsame Zeiten, als scheinbar belanglose Störungen auf einem am Stadtrand von Paris gelegenen Universitätsgelände eine Kettenreaktion von Verweigerungen ausgelöst hatten; als zunächst Studenten, dann Fabrikarbeiter, dann Angestellte, Professoren, Krankenschwestern, Ärzte, Sportler, Busfahrer und Künstler die Arbeit verweigerten, auf die Straßen gingen, Barrikaden bauten und die Polizei bekämpften oder an ihre Arbeit zurückkehrten, ihre Gewerkschaften bekämpften, ihre Arbeitsplätze besetzten und in Brutstätten der Diskussion und Kritik verwandelten, als in Paris ausgefallene Parolen von den Mauern troffen … als zehn Millionen Menschen eine Musterversion der modernen Gesellschaft lahmlegten. »In der Verwirrung und dem Tumult der Mai-Revolte«, schrieb Bernard E. Brown in Protest in Paris, seinem einzigartigen wissenschaftlichen Bericht über den Mai 68, »hielt man die Parolen und Rufe der Studenten für den Ausdruck von Massenspontaneität und individuellem Einfallsreichtum. Erst später stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Parolen …«

 

REVOLUTION HÖRT IN DEM AUGENBLICK AUF ZU EXISTIEREN, WO ES NOTWENDIG WIRD, SICH FÜR SIE OPFERN ZU LASSEN ES IST VERBOTEN ZU VERBIETEN WEDER GÖTTER NOCH HERREN NIEDER MIT DEM ABSTRAKTEN, LANG LEBE DAS FLÜCHTIGE DURCH DIE KUNST STARB GOTT NIEDER MIT EINER WELT, WO DIE GARANTIE, DASS WIR NICHT HUNGERS STERBEN, MIT DER GARANTIE ERKAUFT WURDE, DASS WIR AN LANGEWEILE STERBEN CLUB MED, EIN BILLIGER URLAUB IM ELEND ANDERER LEUTE WECHSELT NICHT DIE ARBEITGEBER, WECHSELT DIE TÄTIGKEIT DES LEBENS ARBEITET NIE DER ZUFALL MUSS SYSTEMATISCH ERFORSCHT WERDEN LAUF, GENOSSE, DIE ALTE WELT IST DIR AUF DEN FERSEN SEI GRAUSAM JE MEHR MAN KONSUMIERT, DESTO WENIGER LEBT MAN LEBE OHNE TOTE ZEIT, GENIESSE UNGEHINDERTE LEIDENSCHAFT WER ÜBER REVOLUTION UND KLASSENKAMPF REDET, OHNE SICH AUSDRÜCKLICH AUF DAS TÄGLICHE LEBEN ZU BEZIEHEN, OHNE ZU BEGREIFEN, WAS AN DER LIEBE SUBVERSIV UND WAS AN DER ABLEHNUNG VON ZWÄNGEN POSITIV IST, HAT LEICHEN IM MUND UNTER DEM PFLASTER LIEGT DER STRAND!

»…um Fragmente einer einheitlichen und verführerischen Ideologie handelte, die praktisch alle in situationistischen Traktaten und Veröffentlichungen erschienen waren … Vor allem durch ihr Zutun entstand in der Mai-Revolte ein ungeheures Protestreservoir gegen die moderne Welt und all ihre Werke, das Leidenschaft, Rätselhaftes und Urzeitliches vereinte.« »Dieser Ausbruch«, sagte Präsident Charles de Gaulle in seiner Rede im Juni, als er die Macht wieder übernahm, »wurde von einigen Gruppen provoziert, die gegen die moderne Gesellschaft revoltieren, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die technologische Gesellschaft, ob kommunistisch im Osten oder kapitalistisch im Westen … von Gruppen, die ansonsten nicht wissen, was sie an die Stelle dieser Gesellschaft setzen würden, sondern an der Negation Vergnügen finden«. »Der Beginn einer Epoche«, verkündete 1969 der Leitartikel in der zwölften und letzten Nummer des Blattes internationale situationniste. »Das Todesröcheln des historisch Irrelevanten«, befand Zbigniew Brzezinski.

1978, als Brzezinski Nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten und »Der Beginn einer Epoche« ein im englischen Sprachraum längst vergriffenes, schlecht übersetztes Pamphlet war, konnte man erwarten, dass sich die Leser von Slash an den unvorhergesehenen Feiertag des Mai 1968 ungefähr so schwach erinnerten wie vielleicht an »Seven Day Weekend«, Gary »U.S.« Bonds’ kleineren Hit aus dem Jahr 1965. Vom Leser wurde erwartet, dass er sich den blinden Verweis auf das Atelier-populaire-Poster ansah und sich dann darübergeblendet die bestens bekannte Sex Pistols-Grafik vorstellte, Jamie Reids Fotocollage für »God Save the Queen«, auf der Königin Elizabeth II. mit einer Sicherheitsnadel durch die Lippen zu sehen war; aus dem Dunst nicht gelebter Geschichte sollten Assoziationen purzeln wie Münzen aus einem Spielautomaten. »Die revolutionären Hoffnungen der sechziger Jahre, die 1968 ihren Höhepunkt fanden«, schrieb John Berger 1975,

sind heute blockiert oder abgeschrieben. Eines Tages werden sie wieder hervorbrechen, verändert und mit anderen Ergebnissen von neuem gelebt werden. Das ist alles, was ich glaube, die Unterschiede will ich nicht vorhersagen. Wenn dies geschieht, wird man erkennen, dass das Situationistische Programm (oder Anti-Programm) wahrscheinlich zu den visionärsten und reinsten politischen Formulierungen dieses historischen Jahrzehnts gehört und in ihm auf extreme Art und Weise seine verzweifelte Kraft und privilegierte Schwäche ihren Niederschlag fand.

Als Manager der Dils hätten Peter Urban solche sentimentalen Abschweifungen nicht interessiert. Es gelte eine Welt zu erobern, sagte er zu McLaren, eine Taktik zu formulieren, eine Ideologie festzulegen, und überhaupt … McLaren schnitt ihm das Wort ab. »Wie kommt es dann, Peter, dass du eine Band mit einem Namen wie eine Gurke vertrittst? Oder wie ein Dildo. Was ist daran kontrovers?«

Die Sex Pistols hatten die Dils erst ermöglicht; als ich letztere 1979 spielen sah, waren sie ein hilfloser Abklatsch, mehr nicht. Zu der Zeit, als Nancy Spungen erstochen wurde, hatten die Sex Pistols weltweit neue Bands inspiriert, von denen ungezählte Dinge taten, die es vorher im Rock ’n’ Roll nie gegeben hatte. Doch als »Übergrund-Band«, als kommerzielles Potential, als internationale Skandal-Gruppe, gab es die Sex Pistols kaum länger als neun Monate: Sie erlebten die Veröffentlichung ihrer ersten Platte am 4. November 1976 und hörten am 14. Januar 1978 auf, mehr als Verhandlungsmasse bei einem Gerichtsprozess zu sein, als Johnny Rotten im Anschluss nach dem letzten Auftritt bei ihrer einzigen amerikanischen Tournee die Band verließ und behauptete, McLaren habe in seiner Gier nach Ruhm und Geld alles verraten, was die Sex Pistols je bedeutet hätten. Doch was war das? Für den Gitarristen Steve Jones, einen Analphabeten und Kleinkriminellen, und Paul Cook, Aushilfe eines Elektrikers, waren es Mädchen und Spaß. Für den ersten Bassisten Glen Matlock, einen ehemaligen Kunststudenten und Verkäufer im Sex-Shop, war es Popmusik. Für Sid Vicious, den Junkie, der seinen Platz einnahm, war es der Status eines Popstars. Was Johnny Rotten betraf, der erzählte so viel Verschiedenes (unter anderem, nach Auflösung der Gruppe: »Steve kann abhauen und Peter Frampton werden« – was er nicht tat; »Sid kann abhauen und sich umbringen« – was er tat; »Paul kann wieder Elektriker werden« – was er vielleicht noch tun wird) und musste wohl erst noch erklären, was er meinte.