Die Seepferdchen-Siedlung

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Die Seepferdchen-Siedlung

oder

Das Leben weht aus allen Richtungen

Published by neobooks, Neopubli GmbH Berlin

Copyright: ©2020 by Georg von Rotthausen

Georg von Rotthausen

Die Seepferdchen-Siedlung

oder

Das Leben weht aus allen Richtungen

Chronik einer Nachbarschaft im Norden, Teil 4

Dieses Werk ist durch Urheberrecht geschützt. Es ist auf keinen Fall legal, Teile dieses Manuskripts auf elektronischem Weg oder gedruckt zu reproduzieren, zu vervielfältigen oder zu übermitteln. Die Aufnahme dieser Publikation ist strikt verboten und jedwede Speicherung dieses Dokuments ist ohne schriftliche Erlaubnis des Autors nicht erlaubt. Alle Rechte vorbehalten. Jede Zuwiderhandlung führt zu zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verfolgung, im In- und Ausland, ohne Ansehen der Person oder Institution.

Die Personen, Orte und Ereignisse, die in diese Buch dargestellt werden, sind sämtlich fiktiv, außer historische Personen und Ereignisse. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebend oder tot, wäre rein zufällig und in keiner Weise vom Autor beabsichtigt. Einzige Ausnahme: Historische Personen, lebend oder tot.

This work is protected by copyright. In no way it is legal to reproduce, duplicate or transmit any part of this manuscript in either electronic means or in printed format. Recording of this publication is strictly prohibited and any storage of this document is not allowed unless with written permission of the author. All rights reserved. Any violation will lead to civil liability and criminal prosecution, domestic and abroad, without distinction of person or institution.

The characters, locations and events portrayed in this book are entirely fictitious save for historical individuals and events. Any other similarity to real persons, living or dead, is entirely coincidental and not intended in any way whatsoever by the author. Sole exception: Historical individuals, living or dead.

Kontakt zum Autor:

georg.v.rotthausen@gmx.net

Dienstag, 2. Juli 2019

Am Morgen gegen 2 Uhr …

“Gib’s mir! Gib’s mir!”, feuert Sandra Arnish an, während ihre Freundin Jolanda auf dem Teppichboden dabei ist, Deeraj endgültig zum Mann zu machen.

*

Gegen 4 Uhr rollt Frauke Thomsen sich aus dem Bett. Sie muß unbedingt etwas essen. Am liebsten wäre ihr jetzt ein Windbeutel, voll mit süßer Sahne, und ein großer Kübel mit frischer Schlagsahne dazu. Ihr ganzes System schreit danach.

“Was ist, Liebling?”, murmelt Harm und blinzelt ihr nach, die gerade, nur als Schemen im grünen Licht der Nachtleuchte zu erkennen, aus dem Schlafzimmer schleicht.

“Ich muß ‘was essen”, gibt sie zur Antwort und entschwindet seinen Blicken.

“Nich’ schon wieder”, stöhnt er auf und verbirgt sein Gesicht im Kopfkissen. Das Drama mit der Thunfisch-Pizza hat ihm eigentlich schon gereicht.

Kurz danach hört er das Zuschlagen des Kühlschrankes, seine Frauke würgend ins Bad stürzen, das Geräusch des Klodeckels und …

*

“Kommen heute neue Gäste?”, fragt Matthias Dokelsen seine Frau beim Frühstück.

“Nein, mein Schatz, erst morgen”, und sieht ihn dabei total verliebt an. Er hat ihr in der letzten Nacht sehr gut getan.

“Ist die Wohnung gerichtet?”, fragt er und beißt in sein Marmeladenbrot.

“Alles tiptop in Ordnung”, versichert sie ihm und wischt etwas Erdbeermarmelade von seiner Oberlippe ab, was sie sich betont genüßlich vom Finger leckt und ihm mit einem wissenden Schmunzeln natürlich auffällt. Die beiden verstehen sich wortlos.

“Ich glaube, ich gehe heute etwas früher”, schluckt er seinen gut durchgekauten Bissen herunter. “Ich habe doch einige Überstunden gut. Treffen wir uns um 15 Uhr am Strand? Ich esse heute eine Kleinigkeit in der Fischstube. Wir nutzen unseren Jahreskorb viel zu wenig.”

“Sehr gern, Schatz. Das Wetter verspricht wieder gut zu werden, und eine Runde zu schwimmen täte auch gut”, stimmt sie nur zu gern zu.

“Haben die Jungs etwas gesagt über ihre Tagespläne?”, fragt er noch und trinkt seinen restlichen Kaffee aus.

“Nein, bislang nicht. Ich lasse sie noch schlafen. Nach dem anstrengenden Schuljahr müssen sie erst einmal zur Ruhe kommen.”

“Wohl wahr”, nickt Dokelsen zustimmend. “Ich möchte heute nicht mehr zur Schule gehen müssen!”, nimmt er noch einen Apfel mit und verabschiedet sich von seiner Dörte mit einem besonders liebevollen Kuß. “Die Nacht mit Dir war wunderschön!”, lächelt er sie an.

Sie lächelt zurück und begleitet ihn zur Haustür, wo sie beim zweiten Abschiedskuß ihm kess den Po krault.

“Aber Frau Dokelsen! Sie sind ja unersättlich!”, grient er.

“Raus! Jetzt mach’ schon, daß Du wegkommst!”, schiebt sie ihn zur Haustür hinaus und winkt ihm nach.

Da hört sie das Anwerfen des Rasenmähers und geht neugierig ums Haus, um nachzusehen wer denn so früh mit der Gartenarbeit anfängt.

*

“Meine Güte!”, blinzelt Mareile mißmutig auf ihren kleinen Digitalwecker. “Wer mäht denn jetzt schon den Rasen?” − und “vergräbt” ihren Kopf wieder in den Kissen.

*

“Sagt mal, seid Ihr noch ganz gescheit?”, geht Dörte Dokelsen auf die Jungs zu. “Wenn Ihr schon aus dem Bett gefallen seid, dann müssen unsere Gäste und Nachbarn das ja nicht auch noch.”

Arjan bleibt stehen und sieht seine Mutter erstaunt an. Auch Frerk versteht nicht, was die Ansage soll.

“Mach’ sofort den Rasenmäher aus”, folgt das Kommando. Und als dem mit einem Achselzucken Folge geleistet wird, fort sie halblaut fort …

“Es ist ja lieb von Euch, daß Ihr den Rasen mähen wollt, aber das geht vor neun Uhr nicht. Ich habe keine Lust von unseren Gästen wegen Ruhestörung angegangen zu werden. Das ist ja bis zu Luise und den Pandiyars hin zu hören. Und der Kapitän ist ein lieber Nachbar, aber ob er den Krach um die Uhrzeit schon hinnimmt …”

“Moin, Dörte! Moin, Jungs!”, tritt Kapitän Rosenbaum an die Begrenzungshecke. “Schon so früh fleißig? Morgenstund’ hat Gold im Mund!”, schmunzelt er.

“Moin, Käppen!”, erwidern die Jungs den Morgengruß und winken fröhlich. “Ist Enno schon auf?”, ruft Arjan.

“Ich weiß nicht”, ruft Rosenbaum zurück. “Ihr könnt ja mal hochgehen und nachsehen.”

“Klar! Machen wir!”, lassen die Freunde den Rasen Rasen sein und eilen mit Sprüngen über das niedrige Verbindungstörchen hinüber. Ihre abgelegten T-Shirts haben sie liegenlassen.

Derweil tritt Dörte an die Hecke …

“Moin, Roderich”, erwidert nun auch sie den Gruß. “Ich hoffe, die Jungs haben Euch mit ihrem plötzlichen Arbeitseifer nicht aus dem Bett geholt?”

“Aber nicht doch, Dörte. Wir sind es gewohnt, früh aufzustehen. Was denkst Du, wie oft ich an Bord früh aus der Koje mußte und bei der Bundesmarine sowieso. Und Gerlinde ist auch keine Langschläferin. Hast Du schon gefrühstückt?”

“Gerade eben mit Matthias.”

“Na, für eine Tasse Kaffee ist sicher noch Platz, oder?”, deutet er eine Einladung an.

“Kaffee nicht, aber wenn Ihr einen Eurer Obstsäfte habt?”, deutet sie das Annehmen an.

“Na, dann komm’ ‘rüber, Frau Nachbarin”, macht Rosenbaum mit einem Lächeln die Einladung komplett.

*

Die Jungs waren derweil ins Haus gestürmt, legten drinnen ihre Sandalen ab und schlichen dann aber doch leise die Treppe hinauf zu Ennos Zimmer und öffneten ebenso leise die Tür, wobei sich Arjan den Zeigefinger auf die

Lippen legte. Frerk nickte verstehend.

Der Raum ist noch ziemlich dunkel, die Vorhänge zugezogen.

Als sie vorsichtig eintreten, bekräftigt Arjan ihr Schweigen durch nochmaliges Fingerauflegen − dabei grienen sich beide schelmisch an.

Sie horchen ins Zimmer hinein, gehen näher an Ennos Bett und wollen gerade das Zudeck hochheben, als sie vor Schreck total zusammenfahren.

*

“Nimm bitte Platz”, zieht Kapitän Rosenbaum einen der Stühle unter dem Küchentisch hervor und bedeutet Dörte Dokelsen mit einer einladenden Handbewegung, sich zu setzen.

“Dankeschön! Wo ist denn Gerlinde?”, fragt sie nach der Hausherrin.

“Oh, sie ist heute dran mit dem Brötchenholen. Dafür habe ich Eindeck- und Kaffeedienst”, schmunzelt der Kapitän. “Was möchtest Du haben? Apfel trüb, Birne, Möhren, Orange? Oder hättest Du gern einen dieser neumodischen Smoothies? Enno steht total drauf.”

“Ach nein, laß mal. Heute morgen tut’s ein ganz normaler Apfelsaft naturtrüb.”

“Gern. Kommt sofort.”

*

“Ha! Erwischt!”, ruft Enno, schaltet gleichzeitig das Oberlicht ein, obwohl das für ihn natürlich keinen Unterschied macht, und lacht in Richtung der einen Moment lang völlig verdatterten Jungs.

Die tauschen zunächst überraschte Blicke, verständigen sich in Sekundenschnelle und stürzen sich auf ihn …

*

Dörte schaut ob des Lärms im Obergeschoß gen Küchendecke …

“Was ist denn da los?”, setzt sie ihr Apfelsaftglas ab und macht Anstalten, aufzustehen.

“Bleib sitzen, Liebe. Das sind doch nur die Jungs. Enno hat sich vermutlich nicht so überraschen lassen, wie sie sich das gedacht haben. Er hat ein verdammt gutes Gehör, das sich durch den Verlust seines Augenlichts noch geschärft hat.”

*

Arjan und Frerk bugsieren den ohnehin noch oder schon nackten Enno, bei geringem Widerstand, aus dessen Zimmer hinüber ins Bad, stellen ihn unter die Dusche und Arjan dreht zunächst nur das kalte Wasser an, was Enno nicht nur augenblicklich hellwach macht, sondern auch lauthals kreischen und protestieren läßt.

 

“Scheiße, ist das kalt! Mann, eh, ist der Warmwasserhahn abgeschraubt worden? Verdammt, Ihr verrückten Kerle”, tastet er nach oben, bekommt den Duschkopf zu fassen und richtet ihn gegen sein Weckkommando.

“Eh, wir haben schon geduscht!”, protestiert nun Arjan, den es, im Gegensatz zu Frerk, voll erwischt und der Arjan ob seines Mißgeschicks auslacht − bis der Enno den Duschkopf entreißt und gegen Frerk richtet, dessen schadenfrohes Lachen augenblicklich “ertrinkt”.

*

“Moin, mein kleiner Liebling. Bist Du auch schon wach?”, betrachtet Frauke Thomsen mit einem liebevollen Lächeln ihren kleinen Hans, der ihr sogleich seine Ärmchen entgegenstreckt. Das hellblau-geblümt bezogene Zudeck hat der Lütte bereits zur Seite gestrampelt.

Sie hebt ihn aus seinem Bettchen, nimmt eine Geruchsprobe …

“Na, da hat meine kleine Stinkbombe aber wieder ordentlich abgeliefert” … und trägt ihren Sohnemann zum Wickeltisch.

Frauke selbst fühlt sich nach der für ihren Mann mit anstrengenden Essenswünschen angefüllten Nacht pudelwohl.

*

… und als Enno nochmals eiskalt abgeduscht wird, ist der Schreckeffekt völlig verflogen, er dreht sich genußvoll und die Jungs machen große Augen. Bei ihrem blinden Freund ist es plötzlich “9 Uhr” …

*

Klein-Hans hat in der Tat einen weiteren Beweis seiner perfekten Verdauung abgeliefert und dazu noch eine Probe, mit welch kräftigem Bogenstrahl ein solcher Mini-Mann zu pinkeln in der Lage ist, kaum daß die Windel es nicht mehr behindert. Aber seine Mutter war vorbereitet und hat vorsorglich eine Gummi-Latzschürze umgebunden. Am Boden lag zudem ein saugfähiges Tuch ausgebreitet … Erfahrung macht klug und vorsichtig − manchmal.

Ihr Hänschen jedenfalls strampelt vor Vergnügen − eine geleerte Blase, ein sauberer Hintern, verpackt in einer sauberen Windel, vermittelt ein enormes Wohlfühlgefühl, wie jeder nachvollziehen kann, der schon einmal volle Hosen hatte …

Mit einem Bauchpruster, der den Kleinen vergnügt lachen läßt, leitet seine Mutter das Anziehen eines Mini-Jogginganzugs ein und trägt ihn schließlich in die Küche.

*

“Passiert Dir das immer, wenn Du kalt duschst?”, will Arjan von Enno wissen, als er seine Shorts hochzieht.

“Immer!”, antwortet er schmunzelnd und läßt Hein Ecker in seinem Stoffgefängnis verschwinden. “Witzig nicht? Ich fand das schon lustig, als ich es noch selber sehen und nicht nur spüren konnte. Nach dem Sportunterricht habe ich deshalb eiskaltes Duschen tunlichst vermieden.”

“Na, wir müssen dabei immer nachhelfen”, grient Arjan, und Frerk nickt zustimmend.

“Für mich war es mit 13 die Initialzündung, unter der Dusche …”, macht Enno eine eindeutige Handbewegung und lächelt breit dabei. “Wann ging’s denn bei Euch los?”

“Auch in dem Alter”, erinnert sich Arjan gut an diese erste autoerotische Erfahrung in seinem Leben. “Erst allein und dann auch gemeinsam”, gibt er ungefragt freimütig zu. “Das war recht lustig”, ergänzt Frerk.

“Und jetzt nicht mehr?”, will Enno neugierig wissen.

“Ja klar doch, wann immer es sich ergibt. Macht doch Spaß”, antwortet Arjan erfrischend offen.

“Jetzt wohl weniger, nachdem du …”, denkt Frerk sich und beneidet seinen engsten Freund erneut um sein jüngstes Sexerlebnis.

“Und wie weit?”, ist Enno nun wirklich neugierig.

“Bis einen Meter”, läßt Arjan auch das nicht unbeantwortet.

“Cool“, staunt Enno.

“Hast Du Bock auf ’nen Wettbewerb?”, wird Frerk mutig und tauscht mit Arjan grinsende Blicke.

“Ja klar, warum nicht?”, geht Enno sofort darauf ein. “Aber jetzt möchte ich erst einmal eine Runde joggen, da Ihr schon mal da seid”, hebt er seine rechte Hand und es wird zur “hohen Fünf” abgeklatscht.

*

“… und die Vermietung läuft gut?”, fragt Rosenbaum aus ehrlichem Interesse.

“Wir sind sehr zufrieden, danke. Wenn wir die nächsten Jahre auch so gut gebucht werden, können wir uns wirklich nicht beklagen. Manche im Dorf jammern ja auf hohem Niveau, wenn eine Ferienwohnung mal zwei Wochen leerstehen sollte …”, antwortet Dörte Dokelsen, als sie unterbrochen wird.

“Moin, Großpapa. Moin, Frau Dokelsen”, geht Enno zielgenau auf Arjans Mutter zu und streckt ihr die Hand hin, die sie mit “Moin, Enno! Haben die Jungs Dich leben lassen?” ergreift.

“Ja, klar. Ich bin nicht so leicht zu versenken”, schmunzelt er.

Dann spürt er seinen Großvater vor sich stehen und beide umarmen sich.

“Moin, mein Junge. Wollt Ihr frühstücken? Deine Großmutter ist aber noch nicht vom Bäcker zurück.”

“Wir wollen ohnehin erst eine Runde laufen. Dann schmecken die frischen Brötchen um so besser”, sagt Enno an.

“Na gut”, antwortet der Kapitän. “Dann bis gleich. Aber sagt schon mal, wollt Ihr es süß oder salzig?”

“Sü-hüüß!”, kommt die dreifache Antwort und lachend sind die Jungs draußen.

*

Frauke Thomsen stellt die Kaffeemaschine an, setzt Hänschen in dessen Hochstuhl und sich selbst daneben an den Küchentisch, wo sie beginnt, den kleinen Stammhalter zu füttern.

“Moin”, kommt verschlafen sein Vater Harm herein, mit Rändern unter den Augen. Gähnend kratzt er sich durch seine verwuschelten Haare am Kopf, am Bauch und … “Frühstück fertig?”

“Der Brotkasten steht an seinem üblichen Platz, alles andere ist im Kühlschrank, das Besteck ist auch nicht verräumt worden”, reicht sie ihrem Söhnchen, das recht munter in seinem Hochstuhl sitzt, den nächsten kleinen Happen.

“Guten Morgen, mein Kleiner”, küßt Harm seinen Erstgeborenen auf die Stirn, der angesichts seines Vaters kurz aufgeregt auf die schmale Abstellfläche vor sich mit seinen kleinen Händen klopft, aber dann ist das nächste Häppchen im Anmarsch viel interessanter.

“Erst darf ich die halbe Nacht Deine Essensgelüste bedienen und jetzt mein Frühstück selber machen”, reagiert Harm nun mißmutig auf die Mach-dir-dein-Frühstück-selber-Ansage seiner Frau, und sein Gesicht wirkt nach verknautschter.

“Du kannst aber auch gern unseren Sohn füttern, Dir seinen Tee ins Gesicht spucken lassen, wenn er Schluckauf bekommt, oder die Brotstückchen aufsammeln, wenn es bei ihm aus einer kessen Laune heraus mal wieder alles rückwärts kommt, mein Schatz. Im übrigen entknautsche mal Dein Gesicht, Liebling. Du siehst gerade aus, als wolltest Du auf Deinen 90. Geburtstag schon mal die Mimik und das Faltenspiel üben”, grient sie.

“Na, der Tag fängt ja gut an!”, brummt er und macht lieber sein Frühstück als das seines Söhnchens entgegengespuckt zu bekommen.

*

Arjan, Enno und Frerk traben im Gänsemarsch über die Straße, die kaum befahren ist, während sie auf dem Bürgersteig immer wieder ersten Feriengästen ausweichen müßten, die auf dem Weg zum Brötchenkauf sind oder gerade von einem der Bäcker zurückkommen.

“Auto von vorn”, ruft Arjan.

“Danke! Schon gehört!”, erwidert Enno.

Der Hamburger fährt langsam an ihnen vorbei − 30-km-Zone.

“Warum rufe ich dann überhaupt noch?”

“Weil Du ein lieber Kerl und mein Freund bist!”

Arjan lächelt und freut sich.

Da kommt ihnen auf der anderen Seite ein anderes Trio entgegen, dem Arjan sogleich zuwinkt, was dreifach erwidert wird − und auch Enno grüßt hinüber, um nicht unfreundlich zu wirken.

Als man auf gleicher Höhe angekommen ist, bleiben beide Gruppen stehen.

“Moin, Onkel Martin! Moin, Alexander, moin, Christoph!”, ruft Arjan herüber.

“Moin zusammen”, winkt auch Frerk.

“Moin!”, schallt es dreifach zurück.

Die Jungs wollen die Straßenseite wechseln, aber der großgewachsene Mann mit Schnurrbart und Spanischem Dreieck hält sie mit kurzem Kommando zurück.

“Halt! Habt Ihr Euch schon nach dem Verkehr umgesehen?”, fährt seine rechte Augenbraue hoch.

“Welcher Verkehr, Papa?”, sieht ihn einer der offensichtlich eineiigen Zwillinge fragend an. “Da ist kein Verkehr”, sagt der andere.

“Es ist immer mit Verkehr zu rechnen”, setzt ihr Vater mit ruhiger Stimme seine Ermahnung an. “Ein blitzschneller Fahrradbote kann angeschossen kommen, ein Motorradfahrer, dem die 30-Kilometer-Regel egal ist, und habt Ihr vergessen, wie plötzlich ein Auto da sein kann, wo Sekunden vorher noch keines war?”, legt er beiden seine Hände auf die Schultern.

“Haben wir nicht vergessen, Papa, aber hier ist eine gerade Strecke, da kann man doch sehen, ob jemand angefahren kommt”, verteidigt einer der beiden Jungs sich und seinen Bruder. “Dürfen wir jetzt zu Arjan und Frerk?”

“Ja, dürft Ihr, und begrüßt auch den anderen jungen Mann”, schickt er sie schmunzelnd los und folgt ihnen.

Auf der anderen Straßenseite begrüßen die achtjährigen Zwillinge lebhaft ihre älteren Freunde mit “hoher Fünf” und Umarmungen.

Ehe sie fragen können, wer denn “der Neue” sei, schließt ihr Vater auf und die Begrüßung wird mit weiteren Umarmungen und Wangenküssen fortgesetzt.

“Schön, daß wir Euch hier treffen”, sagt Martin. “Ward Ihr die letzten Tage nicht am Strand?”

“Doch”, erwidert Arjan. “Textil und Nakedunien. Da müssen wir uns aber ganz blöd verpaßt haben!”

“Und wer ist der junge Mann hier in Eurer Mitte?”, mustert er Enno, der ihn fast punktgenau “ansieht”. Es fällt auf …

“Der Junge ist ja blind. Und die Tätowierung. Das muß …”

“Onkel Martin, das ist unser neuer Freund und Nachbar Enno Rosenbaum und das, Enno, sind Martin Malvoisin und seine Zwillinge Alexander und Christoph”, stellt Arjan die Vier einander vor.

“Guten Morgen, Herr von Malvoisin”, streckt Enno Malvoisin die Hand hin, und es wird ein fester Griff. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Meine Großeltern haben mir schon von Ihnen erzählt, dem legendären Hauptkommissar der Lübecker Mordkommission”, lächelt er ihn an. “Tragen Sie auch Ihren berühmten ,Rembrandt’?”

“Den hat Papa beim Joggen nie auf, sonst schon, auch in Nakedunien”, plappert Alexander fröhlich dazwischen. “Und wir freuen uns auch, Dich kennenzulernen, Enno”, ergänzt Christoph. Beide nehmen nacheinander Ennos Hand.

Malvoisins rechte Augenbraue fährt wieder hoch …

“Es wäre schön, wenn meine Herren Söhne mich jetzt wieder zu Wort kommen ließen”, sieht er seine Jungs ermahnend an, wobei aber ein mildes Lächeln seine Mundwinkel umspielt. Schließlich kennt er die beiden seit ihrer Geburt.

“Dann sind Sie der Enkel von Roderich Rosenbaum-Eichen?”

“Ja, der bin ich. Und Sie dürfen ruhig ,Du’ zu mir sagen. Ich bin noch nicht einmal 20. Und dann wissen Sie auch, daß ich blind bin.”

Die Zwillinge sehen sich erschrocken an.

“Kannst Du uns gar nicht sehen?”, fragt Alexander.

“Nein, aber wenn ich Eure Gesichter abtasten darf, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie Ihr ausseht. Seid Ihr ein- oder zweieiig?”

“Mama sagt immer, für uns habe sie nur eine Eizelle liefern müssen, Papa aber zwei schnelle kleine Freunde, die gleichzeitig mit Mamas Ei geschmust haben”, lacht Christoph. “Wir sehen uns zum Verwechseln ähnlich, aber wir haben nichts dagegen, wenn Du uns beide mit den Fingern einscannst”, nimmt er Ennos Hände und führt sie zu seinem Gesicht.

Geduldig lassen sie zu, wie Enno sie auf seine Weise vorsichtig “betrachtet”.

“Dankeschön! Ihr seid wirklich nette Jungs.” Dann faßt er den links stehenden bei den Schultern, beugt sich zu ihm hin … und schnüffelt.

“Wer bist Du?”

“Alexander”, grient der.

“Aha, dann bist Du Christoph”, zieht Enno dessen Körpergeruch ein, was auch den anderen Zwilling zum Grinsen bringt. “Wunderbar. Jetzt kann ich Euch auseinanderhalten”, richtet er sich wieder auf.

“So”, unterbricht Malvoisin das Kennenlernen. “Wir müssen jetzt weiter. Auf dem Rückweg Brötchen holen und dann habe ich auch ein wenig”, wie er euphemistisch betont, “in Lübeck zu tun. Schön, Euch getroffen und Dich kennengelernt zu haben”, klopft er Enno auf die Schulter, der mit einem Lächeln seine eigene Freude zeigt. “Seid Ihr am Wochenende am Strand, wenn sich das Wetter hält?”

“Klar, Onkel Martin. Nakedunien”, antwortet Arjan.

“Prima! Dann schließen wir uns kurz und sehen uns dort. Kommt Ihr mit, Jungs?”, sieht Malvoisin seine Zwillinge an.

 

“Wenn Arjan und Frerk mit uns um die Wette tauchen?”, antwortet Alexander für beide und sieht den zum Wettkampf herausgeforderten fragend an.

“Aber selbstverständlich”, klatscht der mit beiden die “hohe Fünf”.

“Wir sind dabei, Papa”, bestätigt Christoph.

“Also, abgemacht”, küßt Malvoisin Arjan auf die Wangen − mit Erwiderung, schüttelt mit Frerk und Enno die Hand. “Tschüß, wir sehen uns.”

Damit traben die Malvoisins weiter. Die Freunde hören noch …

“… und vergeßt nicht, Eurer Mutter nachher im Garten zu helfen, verstanden!”

“Oh, Papa! Wir haben doch Ferien!”, protestiert Alexander.

“Ihr wollt doch an den Strand, oder?”

“Ja, Papa …”

Schmunzelnd wenden die Freunde ihnen noch einige Augenblicke die Köpfe zu, ehe auch sie ihren Weg fortsetzen.

“Mann, das kenne ich von irgendwo her”, sagt Arjan, und die anderen stimmend stumm lächelnd zu. Und ihm fällt ein, daß er seinen Patenonkel gar nicht nach beiden Christians gefragt hat.

*

Vor der Bäckerei in der Ortsmitte hat sich bereits eine kleine Warteschlange gebildet − einige Einheimische, die ihre Vorbestellungen abholen wollen, aber in der Mehrzahl doch früh aufgestandene Feriengäste, die zumeist zusätzlich die Zeitung mit den großen Buchstaben oder die größte Regionalzeitung kaufen.

Die vier Verkäuferinnen haben flott zu tun, die Wünsche abzufragen oder ein Frühstück bereitzustellen.

“Moin, Frau Baronin”, bemerkt Leontine Dröhn Ennos Großmutter hinter sich und damit auch die Möglichkeit, Neuigkeiten über den “armen Blinden” zu erfahren und grüßt sie übertrieben freundlich. “Das ist aber schön, daß wir uns mal treffen, nich’?”

“Guten Morgen, Frau Dröhn”, antwortet Gerlinde Rosenbaum mit einem freundlichen Lächeln. “Man sollte meinen, auf dem Dorf sähe man sich häufiger, nicht wahr? Wie geht’s denn mit der Familie? Alles gesund und munter?”

“Och ja, wir können nich’ klagen, nich’. Der Mann lebt noch …

“… den du am liebsten vergiften würdest …”

“… die Söhne stehen in gutem Lohn und Brot …”

“… und müssen zu Hause gut abliefern, sonst würdest du alle an die frische Luft setzen. Na ja, Alf und Gernot zumindest, Martin ist ja dein Sonnenschein …”

“… und selbst kommt man ja gar nicht dazu, sich mal krank hinzulegen, was es im und am Haus alles zu tun gibt. Und wenn’s mal arg zwackt, dann reibt man sich eben mal mit ’n beten Franzbranntwein ein un’ gut is’. Man muß ja nich’ gleich wegen jedem Klöterkraam zum Doktor rennen.”

“Da haben Sie wohl recht. Na, du behandelst dich ja eher mit Kööm inwärts.”

“Un’ nu, da wir die neue Doktersche haben, mag ich sowieso nich’. Wer weiß, was das für eine is’”, verzieht die Dröhnsche den Mund.

“Oh, das soll eine sehr fähige Klinikärztin aus Oldenburg sein, wie man hört. Als wenn du dich nicht schon genau umgehört hättest und nicht demnächst mit einem Neugierzipperlein vorsprechen würdest.”

“Waren Sie denn schon bei ihr?”, erkündigt sich Leontine, die den Halbsatz “… wie man hört” überhört hat.

“Mir fehlt glücklicherweise nichts. Außer manchmal die Geduld, deine Neugier und Tratscherei zu ertragen.”

“Nee, was’n Glück, Frau Baronin”, entgeht Frau Rosenbaum nur deshalb einem bekräftigenden Glückwunschknuff, da die Warteschlange aufrücken muß. “Eine gute Gesundheit is’ ja man Gold wert, nich’. Wie geht es denn Ihrem Enno? Hat der Junge sich schon ein wenig eingelebt?”

“Meinem Enkel geht es ausgezeichnet. Und da ihm hier alles von klein auf vertraut ist, muß er sich nicht einleben.”

“Aber is’ das nicht schlimm, daß der arme Jung’ blind ist? Kommt er damit nu’ zurecht? Is’ ja man so hochherzig von Ihnen und dem Herrn Kapitän, daß Sie ihn aufgenommen haben, nich’?”

“Familienliebe und Zusammenhalt, Frau Dröhn, das ist für uns ganz normal. Hochherzigkeit könnte man das unter Nichtverwandten nennen. Du böses Weib hast davon allerdings keine Ahnung.”

“Is’ ja man auch wahr, nich’? Blut is’ ja doch dicker als Wasser.”

“Sie sagen es, Frau Dröhn. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Einen schönen Tag noch, Frau Dröhn.”

“Denn tschüß auch”, grüßt Leontine ein wenig säuerlich zurück.

“Moin, Frau Baronin”, wird Gerlinde Rosenbaum von einer der Verkäuferinnen angesprochen. “Was darf’s heute sein?”

“Zwanzig Normale bitte, Frau Stokelsen.”

“Verköstigt die blaublütige Madam jetzt die ganze Straße? Wahrscheinlich muß sie nu’ die Nachbarjungs mit durchfüttern, die sich an den blinden Enkel gehängt haben. Na ja, wenn deren Eltern sich auch mit Ferienwohnungen übernehmen”, hat die Dröhnsche gleich als Erklärung parat.

*

Alf und Gernot Dröhn sitzen beim gemeinsamen Frühstück.

Ihr Vater liest seine Tageszeitung und begnügt sich zunächst mit einem Topf frischen Kaffees, den ihm Alf hingestellt hat − Kaffee, der endlich mal wieder die Bezeichnung verdient, dazu mit braunem Zucker und einem Schuß Milch, und nicht die Plöör, die ihm von seinem Ehegespons für gewöhnlich hingestellt wird. Sie will damit sein Herz und seinen Magen schonen, sagt sie, und in Wahrheit ihre Haushaltskasse entlasten.

“Ist der Kaffee so richtig, Papa?”, hat Alf nach dem ersten Trinken gefragt.

“Jou. Der von Eurer Mutter ist ja so schwach, der kommt allein gar nicht aus der Kanne heraus”, kam von Wilhelm Dröhn als ungewöhnlich lange Antwort, ehe er hinter seiner Zeitungslektüre verschwunden war. Die Brüder grienten sich danach stumm, aber vielsagend, an.

“Und heute abend gehen wir schwimmen, so wie gestern angesprochen?”, will Alf von Gernot wissen und trinkt den letzten Schluck seines Kaffees aus.

“Klar. Die letzte Nacht war ‘n bißchen arg wild. Fiete und ich müssen uns wenigstens mal einen Abend etwas erholen.

“Werde ich endlich mal Großvater?”, wird hinter der Zeitung gefragt.

Die Brüder sehen sich überrascht an.

“Das ließe sich schon machen, Papa”, übernimmt Gernot die Antwort. “Aber welche junge Frau würde Mama als Schwiegermutter ertragen, ohne mir gleich vorzuschlagen, nach Kanada auszuwandern?”, steckt er sich den letzten Bissen Wurstbrot in den Mund und spült mit Kaffee nach.

“Da sag’s ‘was, mein Jung‘! Kanada hätte ich mir auch früher überlegen sollen, und Euch gleich mitnehmen. Seit Jahren hätten wir unsere Ruhe.”

Die Brüder staunen nicht nur über die unerwartete Redseligkeit ihres Vaters, sondern auch den Inhalt seiner Antwort.

“Und Martin?”, fragt Alf nach.

“Den kann sie behalten.”

“Habe ich da meinen Namen gehört?”, kommt Leontines “Sonnenschein” in die Küche, wie aus dem Ei gepellt. “Guten Morgen zusammen.”

“Moin”, bekommt er den dreifachen Gruß zurück, aber mehr auch nicht.

“Wo ist denn mein Frühstück?”, setzt Martin sich ans andere Kopfende des Tisches, seinem Vater gegenüber, der nicht daran denkt, die Zeitung zur Blickbegrüßung seines Erstgeborenen herunterzunehmen.

“Haben die Heinzelmännchen vergessen”, knurrt Alf, “aber Mama wird Dich sicher gleich mit frischen Brötchen vor dem Hungertod bewahren”, sieht er Martin nur kurz an.

“Ist denn noch Kaffee da?”

“Selbstbedienung”, deutet Alf mit knapper Kopfbewegung an.

Martin steht auf, nimmt einen Topf aus dem Schrank und gießt sich selber ein.

“Warum so mürrisch, Kleiner? Hast Du wieder keinen Sex gehabt? Nein, natürlich nicht. Welches Mädchen läßt sich auch von ungepflegten Gärtnerhänden anfassen”, geht Martin mit spöttischem Grinsen und dem vollen Kaffeetopf hinter Gernot vorbei, der blitzschnell ein Bein ausstellt.

Martin kann sich zwar fangen, aber der halbe Topfinhalt schwappt auf den blanken Küchenboden.

“Sag mal, spinnst Du?”, schreit Martin ihn an, denn ein Teil ist auch auf seiner Kleidung “gelandet“.

“Nee, ich bin ganz normal, aber wenn Du weiter auf Alf herumhackst, kann ich mit meinen Mechanikerhänden Deinem Zahnarzt etwas Arbeit verschaffen”, sieht Gernot ihn ruhig, aber entschlossen an.

“Du drohst mir Schläge an?”, bemüht Martin sich − vergeblich, natürlich − den auf Hemd und Hose verkleckerten Kaffee abzuwischen.

“Versuch’s”, warnt Gernot ihn, den Rest des Kaffees in seine Richtung zu entleeren.

“Du bist solch ein Arschloch!”, faucht Martin ihn an und stellt den Kaffeetopf ab.

“Hool Dien Muul!”, wirft Wilhelm ihm ein Aufwischtuch zu. “Feudel, ehr Dien Moder vun ’n Inkoop torüch is.” Sein Tonfall läßt keinen Widerspruch zu.