Die Seepferdchen-Siedlung

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In aller Ruhe setzt er sich wieder hin und nimmt seine Zeitung auf.

Alf und Gernot sind bass erstaunt über ihres Vaters wehrhafte Aktivität und gleichzeitige Gelassenheit.

Martin nimmt murrend den Feudel und beugt sich herunter, um die kleine Kaffeepfütze aufzuwischen.

“Ob unser Bruderherz mit dem Knackarsch wohl Erfolg bei den Mädels hat?”, betrachtet Gernot Martins Kehrseite und sieht Alf grienend an.

“Oder bei der anderen Fakultät”, bemerkt Alf bissig und fängt sich einen zornigen Blick des Ältesten ein, der sich mit hochrotem Kopf aufrichtet.

“Was willst Du denn damit sagen?”, faucht Martin ihn an und sieht dabei aus, als wolle er sich gleich auf den Jüngsten stürzen.

“Nur, daß es zwei Möglichkeiten gibt, sich horizontal auszutoben”, grient Alf ihn an. “Du bist zwar ’n Arsch, aber warum sollst Du nicht auch Deinen Spaß haben, Arsch trifft Arsch und so, dann bist Du vielleicht nicht mehr so unausstehlich”, kartet Alf nach.

“Du kannst gleich …”, setzt Martin an.

“Jetzt is’ gut”, ertönt es mit fester Stimme hinter der Zeitung. “Ich muß mich auf die Nachrichten konzentrieren. Die sind schon schlecht genug. Da brauch’ ich nich’ noch Eure Stänkerei. Und Du, Martin, gehst jetzt hinauf und ziehst Dich um. Ich habe keine Lust, mir gleich noch die Meckerei Deiner Mutter anzuhören, daß Du nicht ordentlich angezogen bist”, schickt er seinen Erstgeborenen hinaus.

Der gehorcht wider Erwarten und pfeffert Alf vor dem Verlassen der Küche den feuchten Feudel an den Kopf.

“Nimm’s gelassen”, sieht ihn Gernot mit erhobenen Augenbrauen an. “Kalter Kaffee soll schöner machen”, schickt er lächelnd hinterher.

Alf steht auf, legt den Feudel an seinen Platz zurück, wischt sich das Gesicht mit einem Küchentuch ab und sucht den Blick seines Bruders.

Wortlos deutet er auf beider Vater, der nicht daran denkt, seine Zeitungslektüre weiter zu unterbrechen, und verzieht, mit “Daumen hoch”, anerkennend seinen Mund, was Gernot ebenso stumm erwidert.

Dann steht auch er auf, beide küssen ihren Vater auf die kahle Stelle seines Kopfes und verabschieden sich mit einem doppelten “Tschüß, Papa” in die Arbeit.

“Tschüß, Jungs”, legt Wilhelm Dröhn auch jetzt die Zeitung nicht ab. Aber soviel am Stück hat er schon lange nicht mehr geredet. Der Artikel ist so interessant, daß er das Abwischen seines Kopfes ganz vergißt.

*

“Torben! Torben!”, rüttelt Klein-Björn seinen Bruder wach, der sich gerade noch einmal umdrehen will. Er muß erst später zum Dienst.

“Was … was ist denn?” murmelt er und dreht sich zurück auf den Rücken − ohne die Augen zu öffnen.

“Torben! Mein Piselmann ist kaputt!”, rüttelt Björni ihn weiter.

“Was ist kaputt?”, richtet Torben sich leicht auf, stützt sich auf den Ellbogen ab und sieht den kleinen Störer verschlafen an.

“Guck mal”, stupft Björni ihn nochmals. “Er ist nicht groß geworden”, tritt er einen Schritt zurück und sein Kinn arbeitet. Torbens Minibruder ist kurz davor, in Tränen auszubrechen.

“Ach du meine Güte!”, läßt Torben sich wieder in die Kissen fallen. In dem Augenblick plärrt der Kleine los.

Torben prüft schnell unter der Bettdecke … und schlägt sie dann zurück.

“Sieh her, lütte Plärrbüx”, nimmt Torben ihn bei der Hand. “Lütt Torben Kliev ist heute auch nicht so groß wie sonst manchmal.”

Schniefend sieht Björni hin.

“Und warum ist das so?”

“Das hängt davon ab, was wir träumen und wie dringend wir Pipi machen müssen”, setzt Torben sich auf die Bettkante und wischt dem vorübergehend verwirrten Kleinen die Tränen ab. “Alles nicht so schlimm. Guten Morgen, mein Kleiner”, nimmt er den Nackedei tröstend in die Arme und krault ihm zur Beruhigung den Rücken.

“Ich will aber, daß Herr Piselmann wieder groß wird”, besteht der Lütte auf seinem Erfolgserlebnis.

“Das wird er, das wird er”, versichert Torben seinem Brüderchen mit einem Schmunzeln, steht auf und nimmt es bei der Hand. “Komm, jetzt gehen wir erst einmal ins Bad.”

“Wird Dein Herr Piselmann denn auch wieder groß?”, will Björni auf dem Weg dorthin wissen.

“Davon bin ich überzeugt”, versichert Torben. “Hoffentlich endlich mal ohne Wasserdruck, verflixt. Aber er ist sehr eigenwillig und macht oft, was er will.”

“Dann ist er auch so ein Schlingel wie meiner”, stellt Björni fest, wobei er tapfer lächelt.

“Und so wie Du”, tippt Torben ihm lachend auf die Nase.

*

Alf und Gernot sind beide nur wenige Minuten aus dem Haus, als ihre Mutter vom Bäckereieinkauf zurückkehrt. Vor dem Haus sind sie sich nicht mehr begegnet.

Sie betritt die Küche, wo sie ihren immer noch zeitunglesenden Mann und ihren “Sonnenschein” antrifft, der, umgezogen, mit einem frischen Topf Kaffee wieder am Tisch sitzt und auf die Bedienung durch seine Mutter wartet.

“Moin, mien Sünnschien!”, küßt sie ihn auf die Wange.

“Moin, Mama!”

“Hest noch keen beten to eten?”, fragt sie besorgt.

“Ne, blots ‘n Pott Kaffee.”

“Worüm hett Alf em keen Fröhstückt makt?”, fragt sie den immer noch hinter seiner Zeitung sitzenden Wilhelm.

“He hett wat üm de Hand hett.”

“Wat denn?”

“Eten. … Un Dien Sünn is utwussen!”, kommt als kurze, klare Antwort.

Leontine verzieht das Gesicht in Richtung ihres Ehemanns, lächelt aber gleich darauf milde ihren mit Frühstück-selber-machen überforderten Ältesten an.

“Ik maak Di glieks wat, mien Jung”, tätschelt sie ihn liebevoll auf die Schulter und der überverwöhnte Herr Diplommaschinenbauingenieur lächelt dankbar zurück.

*

Ennos Großmutter ist gerade zurückgekehrt und hat erfahren, daß sie Frühstücksgäste hat − was ihr Quantum an Brötchen für das geplante frische Stoßbrot am nächsten Tag deutlich verringern wird − als die drei Freunde auch schon fröhlich in die große Küche kommen.

“Da sind wir wieder”, verkündet Enno strahlend und zieht die Luft ein. “Moin, Großmama! Hast Du genug Brötchen bekommen?”

“Moin, mein Junge!”, gibt sie ihm einen Wangenkuß und begrüßt auch Arjan und Frerk mit einem freundlichen Lächeln, die es mit einem doppelten “Moin, Frau Rosenbaum” erwidern. Arjans Mutter ist schon wieder gegangen: sie hat sich mit Hausarbeit entschuldigt.

Auf dem Tisch stehen als Angebot eine Butterschale, ein Margarinetopf, dreierlei Konfitüre, weißer und brauner Zucker, Süßstoff, ein gepolstertes, abgedecktes Eierkörbchen mit fünf Acht-Minuten-Eiern und eine Kanne mit frischem Kaffee, dessen Duft den gesamten Raum erfüllt und von den Jungs schon vor dem Haus wahrgenommen worden war.

Nun füllt die Dame des Hauses zwölf der Brötchen in den Tischkorb, reicht ihn ihrem Enkel, der ihn sofort seiner Großmutter hinhält, die sich bedient, ehe sein Großvater, die Jungs und er selbst zugreifen.

*

An manchen Tagen staunt Wilhelm, daß echte Brötchen im Korb auf dem Tisch stehen und nicht nur ein Photo davon − mit der Bemerkung, er habe genug auf den Rippen.

Sein Ältester ist zwar gut in seinem Beruf, aber seine fast infantile Unfähigkeit, sich selbst im Haus zu versorgen, geht ihm gewaltig auf die Nerven.

Er ist froh, daß sich seine Fehlproduktion, wie er ihn insgeheim nennt, endlich zur Arbeit verabschiedet hat.

“Wie lange willst Du den Großen noch betüdeln wie ein kleines Kind?”, fragt Wilhelm mit ruhiger Stimme, während er das erste krosse Rundstück halbiert.

“Dat’s mien Saak”, kommt ungehalten, aber ruhig die knappe Antwort.

“Ik bün dat aver leed”, erwidert Wilhelm ebenso ruhig und beschmiert die erste Brötchenhälfte mit Margarine.

“Dat’s Dien Saak.”

Und wieder einmal überlegt Wilhelm Dröhn, wie man das Weiberregiment ohne großen Schaden absetzen könnte.

*

Isi dreht sich vom Bauch auf den Rücken und kratzt sich, wo er es besonders gern hat.

Er hält seine Augen noch geschlossen und denkt mit wohligen Gefühlen an die schöne Traumwelt, in der er sich in der vergangenen Nacht aufgehalten hat. Dabei genießt er das schöne Gefühl einer vollendeten “Morgenpracht” und bedauert, daß niemand bei ihm ist, der das bewundern und dessen Latte auch er mit Wohlgefallen betrachten könnte.

Thomas!

Isi holt sich dessen Bild vor sein geistiges Augen zurück, als sie am Nacktbadestrand Zweier-Beachvolleyball, Federball spielten und im ufernahen Wasser herumtobten. Wie gern teilte er mehr mit ihm als nur ein sportliches Zusammensein!

Thomas erfreut sich eines ähnlich schönen Körpers wie Arjan, bei dem er leider nicht landen kann, und er ist ein für ihn äußerst angenehmer Mensch.

Wenn er da an manche Arschgeigen am Gymnasium denkt, die es gern mal am “anderen Ufer” probierten, aber zu feige sind und durch abschätzige Bemerkungen davon ablenkten − und dann dieser auch für ihn nervige Kevin, der vermutlich zu oft die amerikanische Fassung von “Ein Käfig voller Narren” gesehen hat und sich für die norddeutsche Verkörperung der Rolle des Albert hält. Im Film ganz lustig, im wirklichen Leben − na ja!

Während Isi das alles durch den Kopf geht, wird ihm der Harndruck doch zuviel. Er rollt sich aus dem Bett, freut sich an seinem wippenden Viktor, wuschelt sich gähnend durch seine Mähne und schleicht hinüber in sein eigenes kleines Etagenbad, wo er sein Wasser der Einfachheit halber in der Duschwanne ablassen wird.

*

“Moin, Herr Admiral”, grüßt der Hausmeister dessen Mietshauses Ole Rondershaus, den er beim Wässern seines Vorgartens antrifft.

 

Aloisius Hiasl Otmar Ignaz Tramlmair, ein waschechter Oberbayer, hat sich durch den über dreißigjährigen Marinedienst schon lange die norddeutsche ganztägige Grußformel angewöhnt, auch in norddeutsch korrekter Sprachmelodie, aber er kann auch noch sehr “boarisch” werden, wenn ihn jemand ärgert. Dann fliegt dem Empfänger seines Zornes auch schon mal ein “Du Hirsch, staubiger, Malefizkerl, elendiger” um die Ohren. Aber an diesem Morgen ist er gut gelaunt, obwohl er “seinem Admiral” mit kostenträchtigen Reparaturnachrichten kommen muß.

“Moin, AHOI”, schaut Rondershaus auf und dreht das Wasser ab, ehe er den Gartenschlauch niederlegt und Tramlmair zum festen Druck die Hand reicht. Man kennt sich aus vielen gemeinsamen Dienstjahren, wurde zeitgleich pensioniert und der Admiral heuerte ihn sofort als Ersten Hausmeister für seine Liegenschaften an, als kurz danach die Stelle durch Verrentung vakant wurde. Er hat es seither nie bereut.

“Wie sieht es denn nun mit dem undichten Dachteil aus?”

“Leckabdichtung sofort nötig, Herr Admiral, sonst haben wir beim nächsten starken Sommerregen Hochwasser im Haus”, redet Tramlmair, wie gewohnt, nicht lange drum herum. “Schlage vor, komplett neu einzudecken. Dann is’ Ruhe bis zum letzten Appell.”

“Kostenfrage?”

“Schätze Vierzigtausend, Herr Admiral. Soll ich Angebote einholen?”

“Selbstverständlich. Die üblichen Firmen. Provisorische Leckabdichtung möglich?”

“Schon geschehen, Herr Admiral. Und die Wohnung Lumowski braucht eine neue WC-Schüssel.”

“Veranlassen Sie das Nötige. Gute Arbeit, AHOI. Ich erwarte dann Ihre Meldung. Tschüß, mein Lieber”, reicht Rondershaus ihm die Hand.

“Danke, Herr Admiral. Meine Empfehlung an die Frau Gemahlin.”

“Werde ich gern ausrichten. Grüßen Sie mir Ihre liebe Frau.”

“Verbindlichsten Dank, Herr Admiral.”

Tramlmair wendet sich zum Gehen …

“Und wie macht sich Ihr Junge?”

“Ausgezeichnet. Danke der Nachfrage, Herr Admiral. Steht kurz vorm Bootsmann.” Der Stolz auf seinen Sohn ist Tramlmair anzusehen. “Soll demnächst auf Torpedomeisterlehrgang. Und er ist heilfroh, daß auf U-Booten kein Weibervolk ist.”

Die Männer schmunzeln. Sie verstehen sich.

*

Isi sitzt auf der Bettkante und liest auf seinem Smartphone die in der Nacht geschriebene Nachricht von Thomas, auf die er aufmerksam geworden war, als er ihm nach erfolgreichem Abpiseln schreiben wollte.

“Moin, Isi. Sehen wir uns heute? Der Strandsport mit Dir gestern war cool. Isa hat deswegen gezickt, ist mir aber scheißegal. Hätte heute Bock auf mehr. Hoffentlich hält das Wetter. Hab gleich noch ein Gespräch mit Viktors Vetter Herrmann.☺ ☺ Schlaf gut oder wach gut auf, wann immer Du das liest. LG Thomas

Wie geht’s Viktor? ☺”

Isi grient über das ganze Gesicht. Das zu lesen, freut ihn sehr. Es ist mehr, als er zu erhoffen gewagt hat. Mit einem wohligen Gefühl in der Magengrube schreibt er zurück …

“Moin, Tommy. Habe sehr gut geschlafen. Ich hoffe, Du auch. Meinem Viktor geht es sehr gut, hatte vorhin einen geilen Leuchtturmauftritt☺. Lieb, daß Du fragst. War die Unterhaltung mit Herrmann interessant? Hätte auch Lust auf mehr. Treffen wir uns um 10 Uhr an der Seebrücke? LG Isi

Isi zieht die Vorhänge auf und öffnet das Fenster, um das Wetter zu prüfen.

“Na ja, strahlender Sonnenschein ist ‘was anderes, aber das wird sicher noch besser. Für Nakedunien wird’s reichen”, denkt er sich und läßt das Fenster einen Spalt offen, um zu lüften. Danach schwingt er sich bäuchlings aufs Bett, als auch schon Thomas’ Antwort kommt.

“10 Uhr ist gebongt. Ich bringe ‘was zu trinken mit und Du sorgst für die Fressalien − oder lieber umgekehrt? Unterhaltung mit Herrmann war genial. Hätte schon wieder Lust op ’n Klöönsnack ☺. Und Viktor?? LG Tommy”

Isi antwortet umgehend …

“Bring Apfelsaft und Mineralwasser, ich mache uns Wurst- und Käsebrote, dazu kalte Frankfurter und Senf. Holen wir uns Obst am Stand vom Alten Land? - Hatte noch keine Zeit, mich mit Viktor zu unterhalten. Was hältst Du von ’ner kleinen Gesprächsrunde? LG Isi”

Tommys Antwort läßt nicht auf sich warten …

“Obst ausm Alten Land geht klar. Gesprächsrunde auch. Bis nachher. LG Tommy”

Isi legt das Smartphone zur Seite, drückt sein Gesicht ins Kopfkissen und läßt einen so gedämpften Freudenschrei los. Als er sich auf den Rücken dreht, ertönt bei zwei geballten Fäusten mit gestreckten Armen ein triumphales “JA!”, und er springt endgültig aus dem Bett.

Mit dem Gedanken “Was ziehe ich bloß an, bevor ich mich ausziehe, damit ich ihm gefalle?” geht er zur Morgentoilette ins Bad.

*

Mareile blinzelt auf ihren Digitalwecker. Die Uhrzeit sagt ihr noch nicht zu, und so dreht sie sich noch einmal um und schlummert wieder ein.

*

Sandrine steigt der Duft von frischem Kaffee in die Nase. Sie dreht sich auf den Rücken, reckt und streckt sich mit niedlichen Tönen und öffnet schließlich die Augen.

Fast bedauert sie, daß die Nacht vorüber ist. Sie hat so wunderbar von einem schönen Jungen geträumt, der sie auf seinen starken Armen zum Baden in die Ostsee getragen hat, deren Wasser überhaupt nicht kalt war. Wie Nix und Nixe sind sie getaucht und um die Wette geschwommen, und an einem einsamen Strandabschnitt hat er sie heiß geliebt …

Da klopft es.

Ehe sie “Herein!” rufen kann, steckt ihre Mutter den Kopf durch Tür.

“Bist Du wach, mein Kind?” fragt sie leise.

“Morgen, Mama”, antwortet Sandrine − und rekelt sich nochmals.

“Frühstück ist fertig, mein Schatz. Steh auf. Du weißt, Dein Vater wartet nicht gerne. Und zieh’ Dir ‘was an“, lächelt Frau La Dottrière. Sie weiß, wie gern ihre Tochter nackt herumläuft, allein schon, um zu provozieren − und wie stolz sie auf ihren schönen Körper ist.

“Ich komme gleich, Mama.”

Damit wird die Zimmertür geschlossen.

Im nächsten Moment schlüpft Sandrine nackt aus dem Bett. Als sie sich im Türspiegel sieht, kommt ihr Arjan in den Sinn …

“Hoffentlich treffe ich ihn heute am Strand. Aber was ist, wenn ich ihn verpasse? Verflixt, ich habe ja gar nicht seine Handynummer!!”

*

Die Freunde haben sich nach dem Frühstück in Ennos Trainingsraum verzogen, den Arjan noch gar nicht gesehen hat.

“Junge, das ist aber gut ausgestattet. Kein Wunder, daß Du solch eine gute Figur hast, Enno”, staunt er über die verschiedenen Geräte. “Dafür müßte man in der Muckibude viel Monatsbeitrag bezahlen!”

“Danke für Deine gute Meinung”, freut Enno sich. “Aber Ihr seid ja auch gut im Training, woran sich meine Hände und mein geistiges Auge so erinnern”, schmunzelt er. Arjan und Frerk sehen sich grienend an. Magst Du ’was ausprobieren? Wir könnten noch ein wenig trainieren, ehe wir uns bei Eurer Freundin Svea wegen der Modelsache erkundigen. Sie wird ihren Laden jetzt noch nicht offen haben.”

“Gern. Vor zehn Uhr wird Svea sicher nicht im Geschäft sein“, beginnt Arjan sich zum Aufwärmen zu dehnen und strecken, macht zehn Kniebeugen und zehn Liegestütze, während Frerk bereits an der Sprossenwand hängt und Enno sich auf das Rudergerät setzt. Schließlich nimmt er zwei Hanteln …

*

Sandrine kommt in die kleine Küche der Ferienwohnung und will sich nach einem Wangenkuß mit ihrer Mutter und mit einem “Morgen, Papa” auf ihren Platz setzen, als ihr Vater sie nach seinem “Guten Morgen, mein Kind” kritisch betrachtet. “Hat Dir jemand Deinen Kleiderschrank ausgeräumt oder wie erklärt sich Dein spärlicher Aufzug?”

“Wieso?”, bleibt Sandrine stehen, sieht ihren Vater fragend an, dann achselzuckend ihre Mutter und an sich selbst herab. “Ich hab’ doch ’was an! Mein schönstes Höschen und mein Bauch ist auch bedeckt”, grient sie.

Ihr “Morgenanzug” besteht aus einem durchbrochenen Slip aus feinster Spitze und die “Bauchbedeckung” aus einer Hüftkette mit aneinandergereihten kleinen goldenen Seesternen.

“Und so setzt meine Tochter sich an den Frühstückstisch?”, runzelt der Herr Kriminaldirektor leicht die Stirn.

“Oh, Paps!”, ruft Sandrine aus. “Jetzt tu doch nicht so, als würdest Du mich zum ersten Mal nackt, na ja, fast nackt sehen! Gefalle ich Dir nicht?”

Ihren niedlichen Protest unterstützt sie, bei lässig in die Hüften gestemmten Händen, mit einem unwiderstehlichen Lächeln und einem dicken Wangenschmatz für ihren Vater.

“Mir ist warm, ich bin im Urlaub an der See, und ich gefalle mir so, Und Lady Godiva ist auch nackt auf ihrem Pferd in Coventry durch die Stadt geritten”, sagt sie an, daß sie an ihrem Bekleidungszustand zumindest beim Frühstück nichts zu ändern gedenkt. “Wenn ich einen Bruder hätte, würdest Du ja auch nichts sagen, säße er jetzt hier mit nacktem Oberkörper, oder?”, nimmt sie Platz und schüttet sich ihren ersten Kaffee ein.

“Erstens hast Du keinen Bruder und zweitens war das mit Lady Godiva im 11. Jahrhundert und nicht hier an der Ostsee, mein Schatz! Oder würdest Du so einkaufen oder spazieren gehen, nur weil Dir ,warm’ ist?”, fährt seine rechte Augenbraue hoch.

“Gute Idee, Paps! Das mache ich”, grient Sandrine. “Vielleicht stehe ich dann mal in der Zeitung!”, halbiert sie vergnügt ihr Frühstücksbrötchen.

Mit einem väterlichen Ich-gebe-auf-Seufzer läßt La Dottrière sich im Stuhl zurückfallen und sieht hilfesuchend seine Frau an, die mit einem Deine-Tochter-Lächeln antwortet.

*

Ellen Dollwitz klingelt, um ihr Kommen anzuzeigen, und schließt die Tür eines hübschen Hauses auf.

“Juhuu! Martha! Ich bin’s, Ellen!”, ruft sie laut im Korridor, nachdem sie die Tür ins Schloß gedrückt hat, und horcht ins Innere auf Antwort.

“Juhuu! Ich bin im Wohnzimmer!”, kommt es vernehmlich zurück.

Frau Dollwitz legt an der Garderobe ab, zieht ihre Straßenschuhe aus und folgt dem Ruf ihres derzeitigen Schützlings.

“Moin, Martha!”, begrüßt sie sie fröhlich nach einem Höflichkeitsanklopfen an der Zimmertür.

“Moin, Ellen”, legt eine grauhaarig gelockte alte Dame ihre Lektüre beiseite und lächelt ihrer Haushaltshilfe freudig entgegen. “Gut, daß Du kommst! Da kannst Du mir gleich mal auf die Toilette helfen.”

“Mit Krücke oder Rollstuhl?”

“Lieber Rollstuhl”, wählt Martha Bökensen, “das geht schneller. Sünst geit dat an’n End noch allens in’ne Büx! Uttrecken, antrecken − dat mut ik allens nich hebben.”

Flugs wird der Rolli bereitgestellt und die Hausherrin mit ihrem gebrochenen Bein zum Bad im Erdgeschoß bugsiert.

*

“Hast Du heute irgendetwas vor?”, fragt La Dottrière Sandrine, die gerade ihr letztes Stück Brötchen heruntergeschluckt und den letzten Rest ihres Kaffees ausgetrunken hat. “Ich meine, außer weiter den Gedanken zu verfolgen, die Lady Godiva von Ostholstein zu werden”, fügt er mit einem leisen Schmunzeln hinzu. Selbstverständlich ist er sehr stolz auf seine bildhübsche Tochter und die Tatsache, daß sie sich einer ungezwungenen Körperlichkeit erfreut, schätzt er nicht minder − wenn er da an diverse verklemmte Mädchen seiner Jugend und Vergangenheit denkt … Aber die vielen jungen Böcke, die allesamt nicht blind sind, stimmen ihn besorgt. Er will einfach nicht, daß sein Liebling nur und ausschließlich wegen der schönen Äußerlichkeit begehrt wird.

“Schenkst Du mir denn ein Pferd, Papa?”, grient Sandrine ihren Vater an und stützt auf dem Tisch ihren Kopf mit beiden Händen. Sie weiß genau, daß ihr Vater durch ihr Lächeln zum Schmelzen gebracht werden kann, während ein Sohn eher ein Armdrücken mit ihm gewinnen müßte.

“Na, so weit kommt es noch!”, poltert die Antwort aus ihm heraus, und er lehnt sich auf dem Stuhl zurück, um wenigstens ein wenig mehr Abstand von diesem Lächeln zu gewinnen. “Damit Du Dir den Hals brichst, wie anno 1910 Dein Urgroßonkel Alarich, als er genau hier in der Sommerfrische von seinem scheuenden Pferd ,Gotensohn’ abgeworfen wurde! Gerade einmal 19 war er und sollte im Herbst als Fahnenjunker zu den Schwarzen Husaren nach Danzig-Langfuhr in Westpreußen abgehen, wo der berühmte Mackensen Kommandeur war.”

“Davon hast Du mir ja noch nie erzählt, Papa. Hals gebrochen? Das hört sich ja schlimm an! Haben wir zu Hause ein Bild von ihm?”

“Von Alarich?”

“Eh-hm.”

“Natürlich. Mußt Du doch schon gesehen haben. Ein schönes Portrait und eine Aufnahme, die ihn auf ,Gotensohn’ zeigt. Ein hübscher Kerl war er und soll ein schneidiger Reiter gewesen sein. Damals hat keiner verstanden, wie der Unfall passieren konnte. Seine Mutter ist vor Gram fast gestorben. Sein Vater, Dein Ururgroßvater Heimdall, hat den Ersten Weltkrieg, wie Du wissen solltest, als Kavallerie-Generalmajor überstanden und sich dann auf sein Gut hier in der Nähe zurückgezogen. Dort ist er über dem Schreiben seiner Autobiographie gestorben, falls Du Dich meiner früheren Schilderung erinnerst, meine Süße, oder?”, sieht er seine Tochter fragend an und erntet nur ein achselzuckend zugeworfenes Lächeln. “Deine Ururgroßmutter Margarethe Dorothee hat in der Inflationszeit ,Blauensande’ nicht halten können, hat es verkauft und sich in Lübeck mit ihrem jüngeren Sohn Frithjof, Deinem Urgroßvater, und der kleinen Tochter Nanna, Deiner Urgroßtante, ins Privatleben verkrochen. Erst als Großmutter ist sie wieder aufgeblüht.”

 

Doch gefesselt von diesem kleinen Stück Familiengeschichte hat Sandrine zugehört.

“Und wer war dieser Mackensen?”

“Oh, August von Mackensen! Das lernt Ihr heute ja nicht mehr in der Schule. Ein berühmter preußischer Generalfeldmarschall und Heerführer im Ersten Weltkrieg. Trug zeitlebens die malerische Uniform der Leibhusaren. Leider ein bißchen nah an Hitler, obwohl er überzeugter Monarchist blieb und 1941 bei der Beisetzung Wilhelms II. in Doorn ein letztes Mal vor seinem aufgebahrten Kaiser und König niederkniete. Damals war er schon fast 92 Jahre alt. Starb Ende 1945 mit fast 96. Kannst Du alles nicht wissen, mein Schatz“, schließt La Dottrière seinen kleinen Vortrag. “Doch wer war Alarich?”, kann er sich eine kleine Wissensprüfung doch nicht verkneifen.

“Na, mein Urgroßonkel.”

“Und?”

“Ach so. König der Westgoten, geboren im heutigen Rumänien, hat Rom geplündert, und starb im heutigen Italien mit etwa 40 Jahren. Angeblich beigesetzt im Flußbett des Busento”, vermag Sandrine ihren Vater − und ihre Mutter − zu beeindrucken. “Und Heimdall war ein Gott der Asen, der die Regenbogenbrücke Bifröst zwischen Midgard und Asgard bewachte”, setzt sie noch eins drauf, aber … “Aber frag mich jetzt bitte nicht nach Asgard und Midgard, sonst sitze ich heute abend noch hier. Ich hab’ jetzt Ferien, mein Zeugnis mit sehr guten Noten in der Tasche und keinen Unterricht mit Abfragen, okay?” Damit steht sie auf und gibt zur Bekräftigung und aus Liebe ihrem Vater einen dicken Schmatz auf die Stirn, ehe sie ihr Frühstücksgeschirr abräumt und auf ihr Zimmer geht.

“Meine Tochter!”, sieht La Dottrière ihr bewundernd nach. “Kennt sich sogar in der nordischen Mythologie aus!”

“Unsere Tochter, mein Lieber! Ich war daran nicht ganz unbeteiligt”, ergänzt ihre Mutter und klopft ihrem geliebten Mann auf die Schulter.

“Ich erinnere mich, mein Süßes”, grient er und steht ebenfalls auf, als sie das Abräumen beginnt. “Vor allem an die Herstellung”, umarmt er sie von hinten und liebkost ihre festen Brüste.

“Du wirst doch wohl nicht?”, schmunzelt sie und ahnt, was er vorhat.

“Do-hoch! Genau DAS, geliebtes Weib! Ich warte nur noch, daß unsere schöne Kopie sich endlich an den Strand verzieht. Notfalls zahle ich ihr zur Beschleunigung eine 50-€uro-Tochter-entferne-dich-Gebühr!”

“Hab’ ich da ’was von fünfzig €uro gehört?”, steht Sandrine plötzlich neben ihren Eltern − lächelnd, bereits in einen süßen Zweiteiler gekleidet, und hält mit elegantem Schwung die Hand auf. Die amouröse Haltung ihrer Eltern entgeht ihr natürlich nicht. “Ich könnte einen neuen Bikini gebrauchen.”

“Und was ist das, was Du da als Ich-habe-keinen-Stoff-mehr-Schneiderergebnis trägst?”

“Ach, das alte Teil”, sieht Sandrine an sich herab. “Das ist ja uralt, vom letzten Jahr auf Sylt!”, winkt sie geringschätzig ab. “Und für hundert €uro bleibe ich auch den ganzen Tag weg. Versprochen!”, lächelt sie ihr unwiderstehliches Ich-bin-doch-dein-Liebling-Lächeln, das auch prompt wirkt.

La Dottrière löst sich von seiner Frau, holt seine Geldbörse und der grüne Geldschein wechselt den Besitzer.

“Danke, Papa! Du bist der beste Papa!”, küßt sie ihn auf die Wange,

“Kunststück! Ich bin ja der einzige, den Du hast! Und Rückzahlung, wenn ich Dich vor heute abend wiedersehe!”, sagt er mit einem Schmunzeln, nicht ganz ernstgemeint.

“Keine Sorge, Papa. Du kannst den Tiger freilassen”, grient sie frech und flitzt davon, ehe ihr Vater sie auskitzeln könnte, der ihr noch nachruft …

“Du-hu! Fußsohle …!”

Mit einem Lachkreischer verschwindet Sandrine im Bad.

*

Mit einem leisen Ächzer läßt Martha Bökensen sich nach dem Toilettengang wieder in ihrem Sessel nieder.

“Etwas Dümmeres kann ich mir kaum vorstellen, als sich mit 83 noch ein Bein zu brechen”, schüttelt sie ein ums andere Mal über ihr Ungemach den Kopf. “Rutsch ich auf Bohnerwachs aus wie eine Hauswirtschaftsanfängerin. Den ganzen Weg von Ostpreußen hab‘ ich zu Fuß geschafft, und jetzt das!”, schimpft sie mit sich selbst.

“Oh, sei froh, daß es nicht der Oberschenkelhals war!”, gibt ihr Ellen Dollwitz zu bedenken. “Jetzt wird wohl nichts nachbleiben, aber Oberschenkelhals is böös fies! Und sei bloß froh, daß Du den Notruf um den Hals hängen hattest!”

“Da bin ich Dir auch dankbar für, daß Du keine Ruhe gegeben hast, daß ich mir diesen unmodischen Halsschmuck besorgt habe. Ich wäre ja gar nicht mehr ans Telephon herangekommen, aber jetzt, mien Deern, habe ich Hunger! Bist Du so lieb und machst mir mein Frühstück? Der Pflegedienst hilft einem ja nur bei der Katzenwäsche und in die Kledaasch. Und tschüß und weg!”

“Kommt sofort, Martha. Kaffee oder Tee?”

“Earl Grey bitte, und vergiß meinen Armagnac nicht. Ohne den kleinen Lebergruß bin ich ja kein Mensch”, grient die alte Dame, und Ellen schmunzelt zurück.

“Kriegst Du, kriegst Du!” und verschwindet Richtung Küche.

*

Die drei Freunde beenden gerade ihr kurzes, kaltes Abduschen nach dem schweißtreibenden Krafttraining und trocknen sich ab.

“Das sollten wir öfter machen”, meint Arjan und hängt das Frotteehandtuch weg, ehe er in seine Shorts steigt und hochzieht.

“Kein Problem”, sagt Enno dazu, dessen Kaltduschen-Anzeige, die Arjan und Frerk erneut amüsierte, sich wieder auf 6 Uhr beruhigt hat. “Alle zwei bis drei Tage eine Stunde und wir bleiben perfekt als Badehosenmodels”, schätzt er das Ergebnis ein und zieht seine Sportshorts hoch.

“Ob Svea uns wirklich in der Sache weiterhelfen kann?”, ist sich Frerk noch im Zweifel. “Aber ein paar Fuffies im Monat wären schon toll”, hofft er auf die Zukunft und sperrt Tom Boogspriet wieder ein.

“Na, dann sollten wir uns auf die Socken machen, um das herauszufinden”, sagt Arjan. “Aber es wäre besser, dafür vielleicht eher erst einmal eigene Badehosen anziehen, oder? Svea ist nicht prüde, aber nackt können wir in ihrem Laden nicht herumlaufen. Und gleich ins Schaufenster wird sie uns auch nicht stellen”, vermutet er mit einem Achselzucken und Schmunzeln.

“Dann nehme ich meine neongelbe”, sagt Enno an, “und das T-Shirt mit dem blauen Seestern vorn. Holst Du mir bitte beides?”, wendet er sich Arjan zu, der mit einem “Geht klar”, kurz das Bad verläßt.

Während Enno seine Shorts wieder abstreift, sieht Frerk ihn ein ums andere Mal genau an.

“Sein Hein Ecker ist schon ein wunderlicher Schwanz. Andere schrumpfen in kaltem Wasser ein, er wächst. Cool.”

Und Enno bemerkt, daß er intensiv betrachtet wird.

“Warum Frerk mich wohl mustert? Ich muß scheints doch anziehend aussehen. Schade, daß ich nicht sehen kann, ob er jetzt …”

“So, da bin ich wieder”, unterbricht Arjan Ennos Gedanken und kniet nieder, um ihm beim Anlegen der knappen Badeseide behilflich zu sein. Das schließt das unkomplizierte “Verstauen” von Hein Ecker und Zubinden ein, bevor er Enno Shorts und T-Shirt reicht. Der genießt die soziale Nähe und Arjans Nonchalance sehr, die er selbst beim Kennenlernabtasten an den Tag gelegt hatte. Er wollte eben sofort wissen, welche Art Typen er vor sich hatte.

Als Arjan Frerk kurz ansieht, bemerkt er …

*

Sandrine hat sich ihre Jeans-Shorts angezogen, dazu ein rotes, bauchfreies Wickeltop mit Trompetenärmeln.

Sie packt ihre Strandtasche, schlüpft in ihre blauen Leinenhalbschuhe, setzt ihre Sonnenbrille und einen breitkrempigen Strohhut auf.