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Das Buch der Könige

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Der König der Belgier

Er ist der Enkel jenes geschäftsklugen Louis Philipp, der vor allem die grosse Brieftasche zu retten wusste, als er die Krone Frankreichs verlor. Und er ist der Sohn jenes Leopold von Sachsen-Koburg, der im Napoleon-Krieg ein braver Soldat gewesen, der dann in England als Prinz-Gemahl diente, der sich zuletzt in Belgien selbständig etablieren durfte, und der sich im übrigen immer anständig benommen hat. Es gibt noch andere, interessante Verwandtschaften. Da geht zum Beispiel in Paris ein Bruder spazieren, ein ganz natürlicher Bruder. Er trägt jetzt auch einen langen weissen Vollbart und einen langen schwarzen Salonrock, und er sieht überhaupt dem König der Belgier so ähnlich, als stamme er nicht bloss vom selben Vater, sondern auch von der gleichen Mutter. Es ist selbstverständlich nur ein reiner Zufall, dass nicht er im Palast zu Brüssel herrscht. Weil er nun kein König werden konnte, wurde er ein Taugenichts, denn zu den Glückspilzen, die beides zugleich sein dürfen, gehört er eben nicht. Aber er scheint Humor zu besitzen, und er hat ein Stückchen aufgeführt, das ebensoviel Frechheit als Witz verrät. Eines Tages wurde in irgendeinem Variété eine Revue gegeben, in der König Leopold auftreten sollte. Da liess sich nun der natürliche Sprössling des ersten Leopold einfach engagieren und spielte allabendlich unter dem Hallo der Zuschauer den Bruder König. Maske brauchte er keine. Er ging eben auf die Bühne, wie er war. Nur das Hinken musste er imitieren. Das tat er denn auch, und für das liebe Publikum blieb es egal, ob es den echten oder den halbechten Koburger vor sich mimen sah. Beissender kann die Legitimität gar nicht verspottet werden. Schärfer vermag der natürlich Geborene am Hochgeborenen sich nicht zu rächen. Und satirischer kann die moderne Bühne nicht mehr sein. Höchstens, dass ein spekulativer Impresario die illegitimen Sprösslinge einer Dynastie sammelt, ein historisches Schauspiel dazu anfertigen lässt, dessen Stoff der Vergangenheit eben jener Herrscherfamilie entnommen ist, und dann ankündigt, »alle Personen werden von wirklichen Abkömmlingen des betreffenden Herrscherhauses dargestellt«.

Was übrigens den König Leopold betrifft, so ist er oft genug verspottet worden, und es werden bis zum heutigen Tag viele Witze über ihn gerissen. Deswegen aber dürften die Leute, die den König von Belgien als eine komische Figur ansehen, doch im Irrtum sein. Die vielen Scherze kommen ja zunächst daher, dass die Belgier zur Ehrfurcht wenig Talent haben, dass sie republikanische Freiheiten geniessen und zu ihrem König recht zwanglose, oft ganz ungenierte Beziehungen unterhalten. Dann vielleicht auch, weil Leopold sehr gern und sehr häufig in Paris weilt. Dort haben sie seit fünfunddreissig Jahren keine eigene Majestät, und das geht ihnen doch manchmal ein bisschen ab. Da kommt denn Leopold hie und da auf ein Gastspiel hinüber, damit die guten Leute doch nicht ganz und gar vergessen, wie ein König eigentlich ausschaut. Dabei amüsieren sich die Pariser, und dabei amüsiert sich Leopold. Dabei legen sich die Pariser keinen Zwang auf, und auch Leopold geniert sich nicht. Dass er sein alterndes Herz an eine hübsche Tänzerin verschenkt hat, nehmen ihm die Franzosen gewiss nicht übel. Aber sie haben die Geschichte über alle Dächer geschrien, und alle Spatzen in Europa zwitschern jetzt den Namen des Königsliebchens tagaus tagein. Sehr geschmackvoll ist das freilich nicht. Wenn man es überlegt, ist es auch sehr unrecht, und der abgedroschen spasshaften Verkoppelung beider Namen wird man endlich überdrüssig. Schliesslich sind das doch ganz private Dinge, die nur König Leopold oder seine Familie angehen. Wenn's der alte Mann noch vermag, lustig zu sein, darf ihn deshalb jeder Spötter bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten öffentlich stäupen? Und wenn der angehende Siebziger zu galanten Verruchtheiten noch das nötige Animo besitzt, so beweist das gar nichts für oder gegen seine Majestät.

Jeder würde sich täuschen, der ihn als König Bobeche auffassen wollte. Dazu fehlt ihm vor allem die Dummheit und die Gutmütigkeit. Und beides sieht man ihm an. Seine Augen sind nicht gross und nicht liebenswürdig, aber ihr Blick ist klug und lauernd. Es ist ein Gesicht, auf dem viel Falschheit geschrieben steht, das mit der spitzen Nase einen boshaften und zornigen Ausdruck erhält, und die schmalen, eigensinnigen Lippen verbergen sich unter dem weissen Bart ganz vergeblich. Überhaupt dieser lange, ehrwürdige patriarchalische Silberbart, dieses Dekorationsstück der Gemütlichkeit, macht Leopold weder zum Patriarchen noch gemütlich. Einen trotzigen, willensstarken, zum Zorn und vielleicht sogar zur Brutalität neigenden Menschen erkennt man, wenn man Leopold II. anschaut; einen Menschen, auf dessen Antlitz das Leben so manche feine, beredsame, und verräterische Linie gezeichnet hat, der zu gewitzt und zu erfahren, zu kniffig und zu gescheit ist, als dass ihn ein rebellischer Humorist ohne weiteres in die Tasche stecken könnte. Sein Gang allerdings, dieser wackelnde, zappelnde Hinkeschritt, der die ganze lange, ungebeugte Gestalt ins Schaukeln und Schütteln bringt, ist operettenhaft. Wenn er noch eine Krone aufsetzen und am feierlichen Ornat einher kommen wollte, sähe er wie eine böse Karikatur aus, und die Leute müssten über ihn lachen. Aber Leopold geht nicht mit der Krone spazieren; er ist nicht feierlich und er trägt mit Vorliebe bürgerliche Kleider. Er ist ein moderner König. Und auch sein Wahlspruch könnte lauten: »Les affaires sont les affaires.« Er versteht sich auf sein Handwerk und weiss, dass man etwas gelernt haben, dass man ein intelligenter und fleissiger Mensch sein muss, um heutzutage selbst als König etwas zu erreichen. Ob sein Vater einst zu ihm nach berühmtem Muster gesagt hat: »Suche dir ein anderes Reich. Belgien ist für dich zu klein!« ist nicht bekannt geworden. Rührende offiziöse Anekdötchen aus der königlichen Kinderstube scheinen in Belgien nicht sonderlich beliebt zu sein. Sicher aber ist, dass König Leopold sich ein anderes Reich gesucht und gefunden hat. Der Kongostaat ist seine eigene Schöpfung, oder wenn man will, seine persönliche Spekulation. Und noch manch andere Gründungen sind von ihm ausgesonnen und von ihm ausgenützt worden. Man darf ihn als den gekrönten Geschäftsmann nehmen, wie man Eduard VII. als den gekrönten Bonvivant nimmt. Ein Geschäftsmann mit weitem Blick, mit grosser Weltauffassung, mit scharfer Intelligenz und mit hinlänglicher Gerissenheit, um überall seinen Profit zu finden. Er hätte es sicherlich zu etwas gebracht, auch wenn er nicht ein ganzes Land als Betriebskapital geerbt hätte, er wäre etwas geworden, auch wenn er nicht als König sein Brot verdienen müsste. Und nicht von allen seinen Kollegen lässt sich das mit so viel Gewissheit sagen. Er ist der Enkel jenes klugen Louis Philipp, der sich die Brieftasche zu retten wusste.

Mit diesem weissbärtigen König müsste man einmal über den König Lear sprechen und seine Meinung hören. Weil nämlich der König Lear auch drei Töchter und einen langen weissen Bart besitzt, und weil ja auch Leopold so eine Art Cordelia bei sich behält, indessen er die beiden anderen Töchter verstiess. Aber er hat sie nicht erst mit Wohltaten überhäuft, er hat sich ihnen zuliebe keines Titelchens seiner Macht und seines Vermögens begeben. Er hat sie nur verstossen, als sie ihm unangenehm wurden. Eine kräftige Gegenfigur zum alten Lear, mag er über den törichten Theaterkönig lächeln, der zum Narren eigener Güte geworden. Ob Leopolds Vaterherz sonderlich erschüttert war, als er, ohne zu zahlen, Louise ins Irrenhaus sperren, und ohne zu zucken, Stephanie vom Sarge der Mutter scheuchen liess, vermag niemand zu wissen. Eines aber weiss man, dass Leopold nie der Narr seiner Güte gewesen. Dergleichen kann ihm nicht passieren. Viel Freude mag er ja nicht erlebt und in seinem Hause so ziemlich als Einsamer sich gefühlt haben. Doch er ging nicht auf die Heide, um mit dem Sturmwind Zwiesprache zu halten. Er suchte geselligere Zirkel auf, wusste sich andere Vergnügungen und minder pathetischen Trost. Leopold wird seinen Bart niemals raufen wie Lear; aber er wird ihn immer sorgfältig pflegen und sich in dieser angenehmen Beschäftigung durch häusliches Ungemach nicht stören lassen. Eine harte, unbeugsame Natur liess er sich schelten und freute sich dabei ungestörten Besitzes und des guten Geschäftsganges. »Besser geschimpft als bedauert«, das ist ein gutes altes Egoistenwort, und so hat er's erreicht, dass auch der weichmütigste Mensch nicht Ursache findet, den König der Belgier zu bemitleiden. Vielleicht, dass er sich unterschätzt glaubt, und dass es ihm peinlich ist, seine Galanterie öfter gewürdigt zu sehen als seine Intelligenz, seine Bildung und seine Betriebsamkeit. Leopolds Untertanen aber kennen ihn besser, und wenn er dort auch nicht gerade abgöttisch geliebt wird, so achten sie doch seine Fähigkeiten und wissen, dass mehr in ihm steckt, als die Witzblätter von ihm erzählen.