Tatort Bodensee

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21

Kurz vor 19 Uhr stellte Protnik seinen verbeulten Blechhaufen, der einmal ein Auto gewesen war, vor dem Parkplatz der Polizeidirektion Konstanz ab. »Also, dann auf zum letzten Gefecht«, knurrte er zynisch und hievte sich aus dem Wagen. Horst folgte ihm schicksalergeben und ohne jegliche Illusionen. Die würden sie jetzt nach Strich und Faden auseinandernehmen und fertigmachen, darüber war er sich völlig im Klaren. Aber wenigstens hatte das mit dem Zimmer im Parkhotel geklappt und Claudia war wieder einigermaßen besänftigt! Erstaunlich ruhig und gelassen hatte sie sich seine Erklärungen angehört: wie das mit dem Unfall beim Tauchen gewesen war und weshalb er sich erst so spät bei ihr gemeldet hatte. Dass er sie nicht habe beunruhigen wollen und so weiter. Na bitte, es ging doch! Nicht auch noch Krach in der Ehe – das wäre dann wirklich zu viel gewesen! Zu beider Überraschung hatte sie auch anstandslos eingewilligt, sich in der Konstanzer Altstadt noch eine Stunde lang die Füße zu vertreten und ein bisschen einkaufen zu gehen, während Horst und Prot­nik sich um eine Überraschung kümmern wollten, von der sie jetzt noch nichts erzählen könnten. Sie hatte erwartungsvoll gelächelt und sich dann am Schnetztor absetzen lassen, in der Nähe des Juweliers, wo sie vor Jahren in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub am Bodensee damals ihre Trauringe gekauft hatten.

»Schöne Überraschung!«, brummelte Horst missmutig vor sich hin. »In Konstanz haben schon ganz andere Leute ihr Waterloo erlebt!«

Unsicher sah Protnik auf. »Was meinst du damit?«

»Ach nichts, nur so! Aber jedes Mal, wenn ich nach Konstanz komme, dann muss ich daran denken, dass sie hier damals den Hus verbrannt haben.«

»Den wen?« Protniks Miene war ein einziges Fragezeichen.

Typisch Protnik! Dem waren sein Hefeweizen, der Sportteil der Zeitung und das aktuelle Fernseh-Programmheft wichtiger als jegliche Form von Kultur und Geschichte. »Na, den Jan Hus, den böhmischen Reformator!«

Protnik wiegte bedächtig den Kopf. »Na ja, den einen ist ein Erdgrab lieber, den anderen mehr die Feuerbestattung … Also ich persönlich tendiere da auch mehr …«

»Also jetzt mach aber mal einen Punkt, Sputnik!« Horst war sich einen Moment lang nicht sicher gewesen, ob Protnik ihn nicht auf die Schippe nahm. Aber nach dessen einfältig-ahnungsloser Miene zu schließen, war der tatsächlich so völlig unbefleckt von jeglicher historischen Erkenntnis. »Der Hus, den kennt doch jedes Kind!«

Protnik begriff, dass er wieder einmal einen Schuss voll danebengesetzt hatte. »Der Kerl hat sich mir jedenfalls nicht persönlich vorgestellt!«

Horst war dem Wahnsinn nahe! »Mensch, Sputnik, das war vor fast 600 Jahren!«

»Na also, dann geht’s ja auch gar nicht!«

»Was geht nicht?!«

»Dass der sich mir vorgestellt hat!«

»Oh, Protnik!« Horst stöhnte verzweifelt auf. »Also der Jan Hus war ein böhmischer Reformator, und den haben sie beim Konstanzer Konzil mit dem Versprechen auf freies Geleit hierhergelockt. Der Kaiser persönlich hat es ihm versprochen. Und dann haben sie ihn angeklagt, ins Gefängnis geworfen und schließlich sogar auf dem Scheiterhaufen verbrannt! Die Stelle kann man noch heute besichtigen und das Konzil, also der Ort, wo die Versammlung stattfand und wo man sogar – zum einzigen Mal in der Geschichte übrigens – einen Papst auf deutschem Boden gewählt hat, das steht noch heute. Da drüben in der Nähe vom Bahnhof, das hast du doch gesehen, als wir dran vorbeigefahren sind in Richtung Schnetztor! So war das nämlich – und das sollte man eigentlich wissen!«

»Ich weiß nur, dass wir jetzt die Nächsten sind, die sie ans Kreuz nageln werden«, brummelte Protnik säuerlich und zog die Tür der Polizeidirektion auf. »Also dann, bringen wir’s hinter uns!«

»Halt, Moment mal!« Ein junger schmächtiger Mann kam auf sie zugelaufen. »Sind Sie nicht die beiden Polizisten aus Heilbronn und Ulm, die hier einen Termin beim Polizeichef haben?«

Verwundert sahen die beiden Kommissare sich an. »Scheinen ja lauter Hellseher hier zu wohnen«, knurrte Protnik ärgerlich. Herausfordernd glotzte er den anderen an. »Und wer sind Sie bitte, wenn ich fragen darf?«

Der Mann nickte eifrig. »Dürfen Sie! Hier ist meine Visitenkarte, bitte schön! Mike Mägerle vom Mehrfunk ist mein Name!«

»Auch das noch!« Horst stöhnte gequält auf. »Ist das in Konstanz eigentlich üblich, dass da die Journalisten offenbar immer mehr wissen als die Polizei?«

Sein Gegenüber lächelte überlegen. »Schon möglich!«

»Und woher wissen Sie also, dass wir heute Abend einen Termin hier haben?«

Der Typ vom Privatradio lächelte immer noch: »Berufsgeheimnis! Aber so viel kann ich sagen: Konstanz ist ein Dorf, zumindest was die Informationsbeschaffung angeht! Ich weiß also alles – fast alles«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu.

»Und den Rest möchten Sie jetzt von uns erfahren, stimmt’s?« Protnik trommelte ärgerlich an die Scheibe der Eingangstür.

Mägerle vom Mehrfunk nickte zustimmend. »Richtig! Zum Beispiel, weshalb Sie anscheinend nicht an einen Selbstmord bei ihrem Kollegen Grundler glauben!«

»Und Sie denken, dass wir Ihnen das auf die Nase binden?« Horst fühlte, wie allmählich der Ärger in ihm aufstieg. Was glaubte der Radiofritze denn eigentlich?! Das war kein Sandkastenspiel im Privatfernsehen – das war bittere Realität, die sich hier abspielte!

»Weiß ich nicht! Ich weiß nur, dass Ihr Kollege Grundler und mein Kollege Winter da an einem ganz dicken Ding dran waren und dass jetzt beide tot sind! Und dann weiß ich noch, dass es um irgendeinen Baggersee geht und dass die Pressestelle der Polizeidirektion auf Durchzug gestellt hat und permanent behauptet, das stimme nicht, da wäre nichts! Und dann«, er setzte eine bedeutungsvolle Miene auf, »dann weiß ich noch, dass der Polizeichef hier mit dem Landrat gut befreundet ist und der Landrat wiederum kennt einen der mächtigsten Kiesbarone im Kreis ganz hervorragend!« Vielsagend sah er sich um und senkte die Stimme: »Und außerdem ist der Kiesbaron wiederum Anteilseigner beim Mehrfunk, also bei meiner Radiostation. Was glauben Sie, was mir neulich unser Geschäftsführer erzählt hat, als ich eine Geschichte über den Kiesabbau bei uns im Landkreis machen wollte! Und wie er mich gewarnt hat, weiter mit ihrem Kollegen Grund­ler zu sprechen, als er mitgekriegte, dass ich mit dem telefoniert habe!« Wieder ließ er seinen Blick durch die Empfangshalle schweifen: »Sie sehen, auch ich muss vorsichtig sein! Und falls Sie mir nicht glauben, dass mir’s ernst ist: Ich habe kein Aufnahmegerät dabei!« Damit lüftete er die Schöße seiner Jacke: »Also – ob sie’s glauben oder nicht, mir geht es wirklich um etwas ganz anderes! Das, was da gerade auf höchster Ebene gespielt wird, ist eine Riesensauerei! Aber mir sind die Hände gebunden – journalistisch, meine ich. Und nachdem ich nun über meine Verbindungen in die Direktion hinein erfahren habe, dass Sie mittlerweile auch irgendwie drinhängen und überdies noch mit dem Grundler befreundet waren, da hab ich mir gedacht, ich muss Ihnen zumindest noch kurz vorher sagen, was Sache ist, bevor die Sie da oben fertigmachen! Und jetzt aber noch eine Frage«, damit sah er Protnik und Horst durchdringend an. »Glauben Sie allen Ernstes an diese Selbstmorde – an alle beide? Also ich glaube an keinen einzigen, dass das nur klar ist!!«

Horst war verblüfft. All diese Informationen und jetzt diese entschiedene Feststellung! Donnerwetter! Gerade wollte er zu einer Antwort ansetzen, da legte ihm Mägerle die Hand an den Oberarm: »Da hinten kommt jemand! Besser für meinen Job, wenn man uns nicht zusammen sieht!« Und schon war er verschwunden!

Die Stimme, die von ferne an sein Ohr drang, kam Horst bekannt vor: »Ach; da sind Sie! Und wir warten bereits seit fünf Minuten auf Sie!« Aha – Hofer war also auch mit von der Partie beim fröhlichen Schlachtfest! Er hätte es sich ja eigentlich denken können!

Aufmunternd versetzte er Protnik, der mit sorgenvoll-zerfurchter Stirn neben ihm stand, einen Klaps auf die Schulter: »Komm, Kollege! Bringen wir’s also hinter uns!«

22

Nach dem genauso exzellenten wie sündhaft teuren Abendessen (das würde kein billiger Urlaub werden, dessen war sich Horst mittlerweile schmerzhaft bewusst geworden!) waren sie mit der Autofähre von Konstanz nach Meersburg über den Bodensee zurückgefahren. Die verwunderten Blicke, mit denen Protniks verbeulter Astra mehr als einmal bedacht worden war, hatten sie geflissentlich ignoriert.

Stumm hingen sie ihren Gedanken nach, während sie über die von einem leuchtenden, gelblich-weißen Vollmond beschienene, beinahe glatte schwarze Fläche des Bodensees dahinglitten. Das Donnerwetter in der Chefetage der Polizei war genauso verlaufen, wie sie das erwartet hatten: laut, heftig und unangenehm. Der Konstanzer PD-Chef – ein unangenehmer Zeitgenosse namens Ströbel mit stechenden, gelbgrünen Augen und dem massigen Körperbau eines Preisboxers – hatte zur Begrüßung nur kurz und kühl mit dem Kopf genickt, bevor er dem an der Telefonanlage neben dem Schreibtisch lauernden Schlotterbeck einen Wink gab: »Wir können also!«

Der drückte grinsend auf einen Knopf an der Anlage und legte den Hörer auf. »Sie sind da, meine Herren!«

Aha, schoss es Horst durch den Kopf, offensichtlich hatte man eine Telefonkonferenz geschaltet! Bevor er jedoch über die möglichen Teilnehmer hatte spekulieren können, war das Gewitter via Telefon auch schon losgebrochen. Steiner und Krauter, die beiden Chefs der Polizeidirektionen, in denen Horst und Protnik beschäftigt waren, meldeten sich in einer anscheinend vorher bereits festgelegten Reihenfolge nacheinander zu Wort und brachten ihr Missfallen über die Vorgänge der letzten Woche derart unmissverständlich zum Ausdruck, dass Horst sich fragte, ob man sich nicht die Telefongebühren hätte sparen können. Bei der Lautstärke müsste jetzt eigentlich halb Baden-Württemberg darüber Bescheid wissen, dass Horst und Protnik in diesem Augenblick nach allen Regeln der Kunst von ihren Chefs abgewatscht wurden!

 

Die beiden an den Pranger gestellten Kommissare blieben während der gesamten Prozedur erstaunlich gelassen, was sicherlich mit der Tatsache zusammenhing, dass sie durch den hastig anberaumten Freitagabend-Termin im Prinzip ja schon auf die Abreibung vorbereitet waren. Und ändern konnte man an den Tatsachen sowieso nichts! Außerdem war klar: Jeder Versuch einer Verteidigung würde beim jetzigen Stand der Dinge als Meutereiversuch gewertet und dementsprechend abgestraft werden! Also bewahrte man besser die Ruhe und stellte die Ohren auf Durchzug, soweit das angesichts der enormen Phonzahl, die da durch den Lautsprecher der Telefonanlage dröhnte, überhaupt möglich war. Das waren die Momente, in denen sich Horst zum wiederholten Mal fragte, welcher Teufel ihn denn damals geritten hatte, die Polizisten- beziehungsweise damit auch die Beamtenlaufbahn einzuschlagen! Irgendwann, das schwor er sich in solchen Augenblicken, irgendwann würde er den Bettel hinwerfen und seinen Lebenstraum verwirklichen: Bergsteiger auf den Malediven werden. Unwillkürlich musste er bei dem Gedanken daran, wie hoch der höchste Berg der Inselgruppe wohl sein mochte, fünf Meter, zehn Meter oder womöglich gar 20 Meter, lächeln. Die Reaktion darauf folgte auf dem Fuß: »Sie brauchen gar nicht so zu grinsen, Meyer!«, hatte ihm der Chef der Konstanzer Direktion mit hochrotem Kopf ins Gesicht geschleudert, »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen!«

In der Tat war der Eintrag in die Personalakte und die damit verbundene Abmahnung ein gravierender Tatbestand. Und die beiden Kollegen wussten: Jetzt genügte der geringste Anlass, dann folgte die nächste Abmahnung und das konnte bedeuten, dass Horst seinem Lebenstraum schneller näher rückte, als er das eigentlich vermutet hätte. Es war sicherlich kein Fehler, erst einmal den Personalrat einzuschalten, wenn er wieder in Heilbronn zurück war. Und Protnik wäre gut beraten, dasselbe zu tun. Außerdem musste der bei der Polizeigewerkschaft nachfragen, ob die das überhaupt so einfach …

»So, alter Knabe«, Protnik war zu ihm an die Reling getreten und hatte ihm mit seiner Pranke einen aufmunternden Klaps auf die Schulter versetzt, »dann wollen wir mal den Tag zu Ende bringen!« Und damit deutete er auf die direkt vor ihnen auftauchenden Lichter der Hafeneinfahrt des Meersburger Fährhafens. »Kommt!«, wandte er sich auch an die neben ihnen stehende Claudia. »Wir müssen wieder ins Auto zurück, die legen gleich an! Würde mich übrigens nicht wundern, wenn wir bei der Ausfahrt gleich von der Polizei in Empfang genommen werden«, setzte er mit einem frustrierten Blick auf die zerbeulten Reste dessen, was einmal seinen blitzblank gewienerten und gepflegten Wagen dargestellt hatte, hinzu. »Habt ihr gesehen, wie die anderen uns angeglotzt haben, als wir ausgestiegen sind? Die haben sicher gleich die Polizei angerufen und gesagt, da sind ein paar Typen auf dem Schiff, die haben grade einen Crash gebaut!«

Horst rollte die Augen. »Also ehrlich gesagt habe ich für heute und für die ganze Woche Polizei genug genossen! Ich glaube, das war mehr als eine Überdosis! Mir reicht’s jetzt wirklich!«

Damit setzte sich der Wagen in Bewegung und rumpelte langsam über den stählernen Bug der Fähre auf die Straße.

»Sag mal«, Claudia sah ihren Mann fragend an und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Meersburger Unterstadt direkt neben dem Fährhafen. »Hat der Thomas nicht da drüben gewohnt?«

Horst durchlief ein eisiger Schauder. Thomas! Schon bei der bloßen Erwähnung des Namens zuckte er zusammen. Traurig nickte er mit dem Kopf. »Stimmt! Da drüben, in der Wohnung neben dem Torbogen. Da, wo das Licht noch brennt!« Er spähte hinüber zu dem Fenster, hinter dem noch vor ein paar Tagen sein Freund Thomas Grundler gewohnt hatte.

»Arme Susanne!«, murmelte Claudia. »Was sie wohl gerade macht? Anscheinend kann sie nicht schlafen! Du«, damit drehte sie sich wieder zu Horst hinüber. »Sollten wir sie nicht morgen einmal besuchen? Was meinst du?«

Horst streckte abwehrend die Hände von sich. »Lieber nicht! Ehrlich gesagt habe ich immer nur Kontakt zu Thomas gehabt. Mit Susanne bin ich nie so richtig warm geworden. Und seitdem die ihre Ehekrise hatten, habe ich sie sowieso nicht mehr gesehen. Im Nachhinein ist mir schon klar, weshalb sie nie zu Hause war, wenn ich Thomas mal besucht habe. Aber der ist erst bei unserem letzten Treffen mit der Sprache rausgerückt und jetzt«, er schüttelte betrübt den Kopf, »jetzt ist es ja sowieso zu spät!«

»Na ja, dann lassen wir’s eben!« Claudia nickte. »So angenehm sind Kondolenzbesuche auch wieder nicht! Ich habe nur gedacht, falls du sie näher gekannt hättest … Ich selber habe sie ja nur ein einziges Mal getroffen …«

Horst nahm Claudias Hand und drückte sie sanft. »Ist schon recht! Ist ja nett von dir! Aber mir wird’s, ehrlich gesagt, ganz anders im Magen, wenn ich nur an die Beerdigung denke …«

Claudia erwiderte den Händedruck leicht. »Klar! Das verstehe ich! Steht denn schon ein Termin fest?«

Horst wiegte den Kopf. »Also gelesen habe ich noch nichts. Ich denke aber, das müsste am Dienstag oder am Mittwoch sein! Jetzt, wo sie die Leiche freigegeben haben, wie man uns heute erzählt hat. Nachdem es offiziell ein Selbstmord war …«, fügte er bitter hinzu.

Protnik musterte ihn fragend aus dem Rückspiegel. »Sag mal, Horst! Hat der Thomas eigentlich Kinder gehabt?«

»Nein! Er wollte zwar immer Kinder, aber Susanne war offenbar dagegen. Im Nachhinein: Gott sei Dank! Nicht das auch noch!«

Der Wagen verlangsamte seine Fahrt und stoppte kurz darauf vor dem Eingang des Parkhotels. Überrascht sah Horst auf. »Wir sind ja schon da! Das ist aber schnell gegangen!«

»Na ja«, Protnik machte eine abschätzende Handbewegung. »Für mich ist der Abend noch nicht ganz vorbei. Ich muss noch ein gutes halbes Stündchen weiterfahren – zurück zum Wildenstein!«

»Blödsinn!«, widersprach Horst. »Du kommst jetzt mit und wir schauen, ob die noch ein Zimmer für dich haben. Und wenn nicht, dann schmuggeln wir dich zu uns mit rein und legen dich halt bei uns aufs Sofa! Du fährst mir nach dem Tag jetzt nicht mehr!« Energisch winkte er Protnik mitzukommen.

Doch der schüttelte entschieden den Kopf. »Kommt gar nicht infrage! Die paar Kilometer schaffe ich schon noch und Millionär bin ich auch keiner«, lächelte er mit einem vielsagenden Blick auf die mit dickem rotem Teppich ausgelegte Eingangshalle des Parkhotels. »Und als Bettwurst bin ich wahrscheinlich auch nicht unbedingt zu gebrauchen! Nein, danke fürs Angebot, aber das schaffe ich schon noch!« Wie zur Unterstützung seiner Worte ließ er den Motor kurz aufheulen.

Claudia, die bei dem Gedanken an eine Nacht zu dritt, mit Protnik in einem Zimmer, leicht zusammengezuckt war, schien erleichtert. »Na gut, dann eben nicht!«, erwiderte sie. »Wann sehen wir dich dann wieder?«

Protnik wiegte den Kopf. »Wie wär’s mit morgen am späten Nachmittag? Dann könnte ich nämlich vorher mal richtig ausschlafen – sofern das auf einer Jugendherberge wie dem Wildenstein überhaupt möglich ist«, setzte er hinzu. Nach Horsts Meinung durchaus zu Recht: in Sachen Ausschlafen wäre er vorsichtshalber skeptisch! Prot­nik schien zu überlegen. »Aber wie gesagt: so gegen Nachmittag, sagen wir 16 Uhr? Wie wär’s da mit einem Eis auf der Meersburger Promenade?«

»Einverstanden!« Claudia fand den Vorschlag akzeptabel. »Aber lass es uns um eine Stunde nach hinten verschieben, dann können der Horst und ich vorher noch schön ins Ostbad gehen. Da war ich schließlich schon ewig nimmer. Da freue ich mich schon die ganze Woche darauf!«

»Meinetwegen – ist mir auch recht! Dann kann ich vorher noch eine Runde mit dem Fahrrad im Donautal drehen! Gut – also 17 Uhr! Und wo treffen wir uns?«

»Ach, das ergibt sich! So groß ist die Promenade in Meersburg auch wieder nicht. Ich würde sagen, wer zuerst da ist und einen Platz findet, reserviert für die anderen. Wir werden einander schon finden!«

Protnik war überzeugt. »Also gut. So machen wir’s. Morgen Nachmittag um 17 Uhr irgendwo in irgendeinem Eiscafé in Meersburg, vorne am Wasser! Also: jetzt muss ich aber los! Macht’s gut, ihr beiden!« Damit legte er den Gang ein und fuhr los.

»Armer Protnik!« Claudia warf dem zerbeulten Wagen einen mitfühlenden Blick hinterher. »Wo er doch immer so stolz auf sein Auto war und jeden Zentimeter poliert hat! Tja …«, Horst wusste, was jetzt kommen würde – und es kam: »… wenn man euch beide einmal alleine lässt!« Kopfschüttelnd nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich in die Eingangshalle des Parkhotels.

23

Der nächste Morgen begann vielversprechend. Gleißend heller Sonnenschein drang durch die Vorhänge in das Hotelzimmer. Zufrieden gähnend streckte sich Horst auf dem Bett aus. »War das schön! Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier!« Er drehte sich in Claudias Richtung und tastete mit dem Arm auf die andere Seite. Doch außer der Bettdecke spürte er nichts. Verdutzt richtete er sich auf und stierte auf das leere Bett neben ihm. Claudia war anscheinend schon längst aufgestanden.

»Na, du Siebenschläfer!« Grinsend kam sie aus dem Badezimmer – fix und fertig angekleidet, geschminkt und frisiert. »Das wird ein wunderschöner Tag heute – Zeit zum Aufstehen!« Energisch ging sie zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.

Horst blinzelte seiner Frau unsicher zu. »Du meine Güte, bist du aber ungemütlich. Da habe ich mich auf ein entspanntes, stressfreies, gemütliches Aufwachen gefreut, und jetzt tobst du schon im Zimmer herum wie aufgedreht!« Er streckte die Arme weit auseinander. »Komm doch erst mal zu mir und lass dich drücken!«

Doch Claudia schüttelte energisch den Kopf. »Kommt überhaupt nicht infrage! Jetzt wird aufgestanden, aber zack-zack! Der Tag ist viel zu schön, als dass man ihn im Bett verbringen sollte! Außerdem ist heute Samstag, da ist sicher nachher im Strandbad die Hölle los. Also, wenn wir nicht um spätestens 11 Uhr dort sind, dann kriegen wir mit Sicherheit keinen Parkplatz mehr.« Sie warf einen kritischen Blick auf ihre Armbanduhr. »Da, bitte. Jetzt ist es schon halb neun. Höchste Zeit, aufzustehen! Das Frühstück wartet!« Damit packte sie Horsts Bettdecke und zog sie auf den Boden.

Der stöhnte gequält. »Halb neun! Ich fasse es nicht! Und das mitten im Urlaub!« Wieder streckte er die Arme aus. »Komm doch erst mal zu mir und gib mir einen Guten-Morgen-Kuss!«

Doch da war nichts zu machen! Wieder Kopfschütteln! »Nichts da! Raus aus den Federn! Außerdem habe ich mir heute Nacht überlegt, dass wir nach dem Frühstück noch zu Frieder nach Nußdorf fahren müssen! Dem sollten wir eine gute Flasche Wein mitbringen, um den Schaden, den du da angerichtet hast, wenigstens einigermaßen wiedergutzumachen! Und dann können wir ja auch nicht gleich wieder verschwinden, das heißt: Das alles kostet eine Menge Zeit! Und ums Rumgucken ist es dann 11 Uhr und der Strandbad-Parkplatz ist megavoll!« Streng blickte sie auf ihren Ehemann herunter und verzog leicht ihre Mundwinkel. »Mein Mann, das unbekannte Wesen! Kaum allein, schon demoliert er Autos und Wohnwagen, vergrault seinen besten Freund und lässt sich eine Abmahnung verpassen: mitten im Urlaub! Und nebenbei ersäuft er auch noch fast im Bodensee! Also!«, sie machte eine energische Handbewegung, »raus jetzt zum Essenfassen! Auf, zu neuen Taten!«

Mit einem Seufzer ergab sich Horst in sein Schicksal und schwang sich aus dem Bett. »Damit die arme Seele Ruhe hat!«

Wenn er gewusst hätte, wie stürmisch dieser Tag verlaufen würde – keine zehn Pferde hätten ihn dann aus der Koje gebracht!

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