Tatort Bodensee

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24

Mit leicht erhöhtem Puls bog Horst in Nußdorf um die Kurve, hinter der sich das Gelände des Bauernhofes befand, in dem Frieder seinen Wohnwagen abgestellt hatte. Hoffentlich hatte der sich in der Zwischenzeit einigermaßen beruhigt und überdies seine Rostlaube wieder her­stellen können. In einem Überlinger Ge­tränke­handel am Burg­berg hatten sie extra noch drei Flaschen Rotwein besorgt, Frieders Lieblingsmarke, um sich den gefrusteten Wohnwagenbesitzer damit wenigstens wieder ein wenig gewogen zu machen.

»Mit Speck fängt man bekanntlich Mäuse!«, hatte Claudia verlauten lassen und ihrem Gatten gleichzeitig einen strengen Blick zugeworfen, als der nach einem Überprüfen der Preisschilder am Rotweinregal des Getränkemark­tes zu bemerken gewagt hatte, dass er eigentlich schon zu Beginn seines Aufenthaltes am Bodensee in weiser Voraussicht eine ganze Batterie Lemberger trocken im Wohnwagen gelagert hätte. Und seiner Meinung nach brauche man sich da doch bloß aus dem bestehenden Vorrat zu bedienen und dem Frieder drei Flaschen davon in die Hand zu drücken. »Kommt überhaupt nicht infrage, die Sparaktion da! Was ist das denn für ein Bild, wenn wir mit leeren Händen vor dem Frieder auftauchen!«

»Aber der hat doch im Wohnwagen …«, ein weiterer Blick von Claudia genügte, um Horst verstummen zu lassen. Ergeben fügte er sich fürderhin in sein Schicksal, auch wenn ihm die 49,90 Mark (Sonderangebot hatten die das genannt!) für drei Flaschen Lemberger trocken, Heilbronner Staufenberg Spätlese, doch reichlich heftig erschienen waren. Hätte er den Frieder doch vor Jahren bei seinem Trollinger im wahrsten Sinn des Wortes versauern lassen: die Literflasche um 4,50 Mark (und das auch noch inklusive Pfand)! Aber nein, er hatte ja im Überschwang seiner Heilbronner Lemberger-Begeisterung gemeint, ihn unbedingt bekehren zu müssen! Selber schuld! Das hatte er nun davon!

Sie stellten den Wagen am Haus des Bauernhofes ab und Horst nahm die drei Flaschen vom Rücksitz. In diesem Moment wurde die Tür des Hauses geöffnet und der Besitzer des Stellplatzes kam eilfertig auf die Meyers zu. »Herr Meyer, Herr Meyer! Da sind Sie ja endlich!« Aufgeregt wedelte er dabei mit einem Briefumschlag in der Luft herum.

Verdutzt schauten sich die beiden an. Hatten sie denn eine Verabredung mit dem Bauern gehabt oder weshalb hatte der es denn plötzlich so eilig?! Der war doch sonst nicht gerade von der schnellen Truppe!

»Da schauen Sie, das ist gestern für Sie abgegeben worden!« Hektisch deutete er dabei mit dem Zeigefinger auf den Briefumschlag. »Ein Brief für Sie! Und wenn ich nicht zufällig da gewesen wäre, dann hätte ihn der Briefträger wieder mitgenommen! Weil der doch Ihren Namen gar nicht gekannt und deshalb gemeint hat, er sei falsch adressiert gewesen! Aber da bin ich gerade noch rechtzeitig dazugekommen und habe ihm dann auch gleich sagen können …«

Horst unterbrach den Wortschwall seines Gegenübers: »Ein Brief? Für mich? Sind Sie sicher?«

Der Bauer nickte heftig. »Natürlich für Sie! Horst Meyer, Kriminalkommissar! Das sind Sie doch, oder?« Kum­pel­haft kniff er mehrfach sein rechtes Auge zu, wie um Horst Vertraulichkeit zu signalisieren.

Der jedoch war immer noch nicht überzeugt. »Komisch! Wer weiß denn schon, dass ich hier bin? Lassen Sie mal sehen!« Damit nahm er den Briefumschlag in die Hand und betrachtete ihn eingehend.

»Tatsächlich – Horst Meyer, Kriminalkommissar, zurzeit Nußdorf …«

»Von wem ist er denn?«, mischte sich nun auch Claudia in die Debatte ein.

»Keine Ahnung!« Horst drehte den Briefumschlag um, aber auch da war kein Absender zu finden. »Hmm«, schnaubte er ärgerlich. »Das haben wir ja gern! Auch noch ein anonymer Absender!«

»Vielleicht steht der drin, lassen Sie mal sehen!« Der Bauer schien gespannt zu sein wie ein Flitzebogen und machte Anstalten, Horst den Brief wieder aus der Hand zu nehmen.

Der Kommissar bemerkte das Vorhaben noch rechtzeitig und drehte sich mit dem Oberkörper rasch in Richtung Claudia. »Mal sehen«, brummte er und riss den Briefumschlag mit dem Zeigefinger auf. Angestrengt starrte er auf das zusammengefaltete Briefpapier, auf dessen linker oberer Ecke der Absender in kaum leserlicher winziger Kursivschrift eingedruckt war. Er musste das Blatt näher an die Augen halten, um die Schrift entziffern zu können. Wahrscheinlich war es allmählich doch so weit, dass er eine Brille brauchte! Er stieß ein ärgerliches Grunzen aus, aber da war halt wohl nichts zu machen.

»Oh!« Claudia hatte den überraschten Ausruf von sich gegeben. Sie und Horst hatten praktisch gleichzeitig registriert, um wen es sich beim Absender des Briefes handelte.

»Das ist doch der, den ihr gestern …«

Gerade noch rechtzeitig legte Horst den Zeigefinger an die Lippen und ließ Claudia einen warnenden Blick zukommen.

Ein eiskaltes Grausen überfiel ihn. Der Brief eines Toten, adressiert an ihn, Horst Meyer. Ein Brief von gestern oder vorgestern, obwohl sie noch vorgestern ausgemacht hatten, sich gestern treffen zu wollen. Doch da war es schon zu spät gewesen! Der Brief stammte von Alex Winter, dem Journalisten, der offenbar mehr gewusst hatte, als seiner Gesundheit zuträglich gewesen war …

Hastig überflog er den mit engem Zeilenabstand in sichtlicher Zeitnot geschriebenen Brief. Danach ließ er die Hand, in der er den Brief gehalten hatte, sinken und atmete tief durch. Claudia schaute ihn betroffen an, sagte aber nichts, sondern ließ ihm Zeit, um das gerade Gelesene zu verarbeiten.

»Na, Herr Meyer, alles klar?« Forschend blickte ihm der Bauer ins Gesicht und schreckte Horst so aus seinen Gedanken.

Ohne auf die Frage einzugehen, nickte er Claudia eine stumme Aufforderung zu und drehte sich um. Nur Sekunden später schoss der Wagen der Meyers mit aufheulendem Motor um die Kurve zurück in Richtung Überlingen, gefolgt von einem verwunderten Kopfschütteln des Stellplatzvermieters. »Leute gibt’s …« Na ja, der sollte bloß noch einmal kommen und irgendwas von ihm wollen! Damit schlurfte der Bauer ins Haus zurück! Und dem Frieder mit seinem Wohnwagen, mit dem würde er auch noch ein Hühnchen zu rupfen haben: also solche Typen, unfreundlich und außerdem noch schlampig – man musste ja bloß an das kaputte Fenster denken – die brauchte der einem nicht mehr anzuschleppen! Nicht auf seinem eigenen Grund und Boden! Sonst war Schluss mit der Wohnwagenherrlichkeit, aber ruckzuck!

Wenige Hundert Meter hinter dem Bauernhof brachte Horst den Wagen wieder zum Stehen. »So ein neugieriges Aas aber auch! Der hätte mir glatt den Brief aus der Hand genommen und hinterher im ganzen Dorf herumerzählt, was da drinsteht!« Mit einer entschiedenen Handbewegung holte er das Handy aus dem Handschuhfach und sah Claudia entschuldigend an. »Tut mir leid, aber jetzt muss ich die Lawine ins Rollen bringen. Okay?«

Claudia nickte. »Verstehe ich! Das muss jetzt schnell gehen! Aber unter einer Bedingung: Ich lasse mich nicht wieder absetzen wie gestern, wie einen nassen Sack! Ich komme mit!«

»Aber …« Doch Horsts Widerspruch wurde schon im Keime erstickt.

»Ich komme mit und damit basta!« Da war nichts mehr zu machen – und ehrlich gesagt – warum denn eigentlich nicht?

Horst tastete nach einem Zettel, der ebenfalls im Handschuhfach deponiert war. »Also gut, abgemacht! Dann sag mir doch gleich mal die Nummer, die auf dem Zettel steht!«

Er tippte die Ziffern, die Claudia ihm nannte, in sein Handy. Dann drückte er die grüne Wähltaste. Es dauerte nur Sekunden, bis sich am anderen Ende der Leitung die Vermittlung der Polizeidirektion Konstanz meldete. »Ihren Chef, bitte, den Herrn Ströbel! Oder seinen Stellvertreter! Und schnell, bitte! Es ist dringend!«

25

Als Horst und Claudia eine knappe Stunde später vor dem Büro des Kiesunternehmens in Gottmadingen eintrafen, erfassten sie mit einem Blick, dass hier schon seit geraumer Zeit ganz offensichtlich die Hölle los war. Die Polizei in Konstanz hatte nach Horsts Gespräch mit Polizeioberrat Ströbel anscheinend blitzschnell reagiert. Ein halbes Dutzend Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern, flankiert von gut noch einmal einem halben Dutzend ziviler Einsatzfahrzeuge, standen kreuz und quer auf der Straße vor der Firma und hatten die Einfahrt zum Bürotrakt der »Bodenseekies« hoffnungslos blockiert.

»Das war aber Maßarbeit!«, murmelte Horst überrascht, nachdem er sich einen ersten Überblick über die Situation verschafft hatte. Er deutete auf uniformierte Polizeibeamte, die, bis unter das Kinn beladen, Hunderte von Aktenordnern aus dem Büro herausschleppten und sie in ihren Fahrzeugen verstauten. »Die scheinen ja einen Staatsanwalt von der ganz fixen Truppe gehabt zu haben, wenn der innerhalb von nicht mal einer Stunde einen Durchsuchungsbefehl unterschreibt und sich die Truppe dann auch schon in Marsch setzt! Donnerwetter!«

Auch Claudia schien beeindruckt. »Donnerwetter! Als wenn sie regelrecht in den Startlöchern gestanden und nur auf deinen Anruf gewartet hätten!«

»Stimmt! Das ist mir als Erstes auch durch den Kopf geschossen, als ich das hier gesehen habe. Also eines wird mir immer klarer: Da stinkt es irgendwo ganz gewaltig und ich fürchte«, damit drehte sich Horst zu Claudia herum und musterte sie ernst, »ich fürchte, der Gestank kommt nicht nur aus dieser Tür heraus!«

Claudia nickte zustimmend. »Da scheinst du recht zu haben. Aber ich bin gespannt, was jetzt als Nächstes passiert!«

Sie erfuhr es augenblicklich: Im selben Moment nämlich stürmte der Preisboxer, der Horst und Protnik gestern Abend nach allen Regeln der Kunst einen Kopf kürzer gemacht hatte, aus der Tür des Bürogebäudes, gefolgt vom inzwischen wohlbekannten Duo Hofer/Schlot­terbeck, und musterte die beiden Neuankömmlinge finster.

 

»Na, da haben Sie schwer etwas losgetreten«, bellte er Horst ins Gesicht, ohne sich auch nur im Geringsten um irgendeine Begrüßungsfloskel zu bemühen. »Ich kann Ihnen sagen: Wenn das alles eine Ente gewesen ist, dann Gnade Ihnen Gott, dann können Sie künftig Mülltonnen leeren oder Gehwege fegen!« Böse glotzte er ihm in die Augen.

»… oder dann doch Bergsteiger auf den Malediven werden!«, murmelte Horst leise vor sich hin.

»Wie? Was werden?«, irritiert stierten die drei anderen in seine Richtung.

Horst hob abwehrend die Arme. »Nichts! Schon gut! Übrigens Claudia«, damit drehte er sich leicht seiner Frau entgegen und wies dann mit einer leichten Handbewegung auf die vor ihm stehenden Beamten, »das hier ist der Herr Ströbel von der Polizeidirektion Konstanz und die beiden anderen Herren sind die Kollegen Hofer und Schlot­ter­beck.« Er deutete mit einer leichten Bewegung seines Oberkörpers eine Verbeugung an. »Gestatten die Herren, meine Frau, Frau Dr. Meyer!«

Ein leichtes Flackern in Ströbels Augen verriet Horst die Überraschung, die er beim Konstanzer Polizeichef mit dieser Bemerkung hervorgerufen hatte. Doch Ströbel war Profi genug, um sofort wieder zur Tagesordnung übergehen zu können. »Angenehm! Also, Meyer, eines ist Ihnen doch hoffentlich klar: Wenn auch nur …«

Doch weiter kam er nicht. Im selben Moment nämlich wurde die Tür des Bürogebäudes ein weiteres Mal geöffnet und ein untersetzter Endfünfziger mit Froschgesicht, das durch sein knallbuntes grünes Hemd nachdrücklich unterstrichen wurde, kam heraus. »Ströbel! Herr Ströbel! Da stecken Sie also!«

Die Gesprächsrunde drehte sich um. »So, nun kann’s ja losgehen«, zischte Ströbel leise, während er laut erwiderte: »Ja – ich habe hier einen Kollegen begrüßen müssen. Darf ich vorstellen: Herr Dr. Hefter!«

Der so Vorgestellte senkte zur Begrüßung kurz den Kopf und musterte die Fremden mit unverhohlener Neugier, während ein leicht zynisches Lächeln seine Mundwinkel umspielte: »Hefter, Dr. Hubert Hefter. Inhaber der ›Bodenseekies‹. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

Horst schluckte trocken. Der Kerl schien ja mit allen Wassern gewaschen! Nicht die Spur von Aufregung, keinerlei Anzeichen von Nervosität! Was, wenn die Spuren und Hinweise, die Winter in seinem Brief so detailliert aufgelistet hatte, doch ins Leere stießen?! Was, wenn Winter einer absichtlich ausgelegten falschen Fährte gefolgt war, die ein für allemal von den wirklichen Vorkommnissen und den wahren Hintermännern ablenken sollte?! Nein! Horst gab sich innerlich einen Ruck und straffte den Oberkörper: Das durfte einfach nicht sein – wieso hatten sie denn dann auch Alex Winter ermordet? Wenn er sich nicht doch … Nein, Schluss jetzt! »Mein Name ist Meyer, Horst Meyer«, stieß er heiser hervor. »Und das ist meine Frau, Frau Dr. Meyer!«

Hefter pfiff leise durch die Zähne. »Ach, so ist das! Sie sind also der Herr Meyer, dem ich das alles hier zu verdanken habe!« Er vollführte eine weit ausladende Handbewegung. »Na, wenn sie sich da nur nicht verhoben haben!« Zu Horsts Überraschung donnerte er ihm kumpelhaft-jovial seine schwere Pranke auf die Schulter. »Na, dann kommen Sie erst mal rein und stärken Sie sich bei einer Tasse Kaffee, bevor das Spießrutenlaufen losgeht. Na bitte, da kommt auch schon die Presse!« Heftig gestikulierend winkte er einem jungen schmächtigen Mann zu, der gerade eben aufgetaucht war.

»Grüß Gott, Herr Mägerle! Sie kommen grade recht zu einer Tasse Kaffee!« Immer noch dieses unangenehme Dauerlächeln im Gesicht, begrüßte er den Neuankömmling mit einem kräftigen Händedruck. Der Reporter vom Privatradio lächelte Horst einen gequälten Gruß zu und umklammerte mit der freien Hand krampfhaft sein Aufnahmegerät, auf dem ein großer Aufkleber mit dem Logo des »Mehrfunk« prangte. Horst spürte es deutlich: Auch Reporter schienen ihren Beruf in bestimmten Situationen zu hassen!

»Ach ja, das wollte ich Ihnen vorhin noch sagen«, wandte sich das Froschgesicht dem Polizeichef zu. »Unser Freund Roland wird auch gleich hier sein.«

Ströbel nickte stumm. Als er den irritierten Ausdruck in Horsts Augen bemerkte, fühlte er sich anscheinend zu einer Erklärung genötigt: »Roland Bär, der Landrat!«

Der auch noch, das konnte ja heiter werden! Hilfesuchend warf Horst dem Radioreporter einen Blick zu, doch der stierte nur in tiefer Resignation auf den Boden. Er schien bereits zu wissen, was er zu berichten hatte, und war nur deshalb hierherzitiert worden, um die für den Bericht notwendigen Originalzitate der Beteiligten aufzunehmen.

»Also dann, meine Herren! Und natürlich auch meine Dame«, setzte der offenbar bestens gelaunte Kiesbaron mit einem entschuldigenden Blick auf Claudia hinzu, »gehen wir hinein und trinken wir einen Kaffee zusammen!« Damit breitete er die Arme aus und schob die ganze Versammlung vor sich her zum Eingang des Büros der »Bodenseekies«.

Die Szene war ja geradezu unwirklich-grotesk! Kaffeekränzchen beim Hauptverdächtigen! Horst schickte ein Stoßgebet zum Himmel! Bitte, bitte lass es wahr sein! Lass die Behauptungen von Alex Winter zu Beweisen werden!

26

»Ich sage dir, da ist es zugegangen wie im Taubenschlag! Und der Kiesbaron mittendrin und lächelt selig, während die Polizei ihm den ganzen Laden auf den Kopf stellt! Ich hab geglaubt, ich bin im falschen Film!« Immer noch musste Horst unwillkürlich den Kopf schütteln, wenn er an den heutigen Mittag im Büro der »Bodenseekies« in Gottmadingen dachte. »Und dann noch der Landrat und der Polizeichef: übrigens alles gute alte Rotary-Freunde! Da weiß anscheinend jeder von jedem alles – oder zumindest so viel, dass er mühelos die richtige Leiche aus dem Keller holen kann, wenn’s ungemütlich wird! Und deshalb wird da keiner dem anderen wehtun! In hundert Jahren nicht!« Horst stierte unglücklich vor sich auf den Tisch. »Und dann noch mittendrin unser Reporter, der ganz genau weiß, was da abgeht! Aber wenn er auch nur ansatzweise den Mund aufmacht oder wenn sein Bericht im Radio anders ausfällt, als es dem Hauptanteilseigner am »Mehrfunk«, also dem Kiesbaron, zusagt, dann kann er seinen Job vergessen! Das weiß der ganz genau, das habe ich dem auf zehn Kilometer Entfernung angesehen! Scheiß Privatfunk!« Zornig hieb Horst so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass sich die Gäste an den Nachbartischen verwundert umdrehten.

»Aber trotzdem!« Protnik schüttelte säuerlich den Kopf und bedachte die beiden Meyers mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ich finde trotzdem, dass ihr mir hättet Bescheid sagen müssen, als ihr da hingefahren seid! Also, das hätte ich schon von euch erwartet!« Beleidigt zog er sich wieder in sein Schneckenhaus zurück.

Während Claudia sich geschickt aus der Affäre zog, indem sie sich wieder in die Lektüre des »Seekuriers« vertiefte – sie hatten das alles vor einer Viertelstunde schon einmal durchgekaut, als sie sich bei der längeren Suche nach einem freien Platz in einem der Eiscafés auf der Meers­burger Seepromenade getroffen hatten –, versuchte Horst mit einem neuen Anlauf, den so sehr verschnupften Kollegen zu besänftigen.

»Also, Sputnik, jetzt glaub mir doch endlich: Ich wollte dich ja anrufen, aber dein Handy war ausgeschaltet!«

»Wozu gibt’s für solche Fälle eine Mailbox?«, brum­melte Protnik in sich hinein.

So ganz allmählich wurde es Horst zu dumm. »Weil ich so eine Geschichte als Polizeibeamter nie und nimmer auf eine Mailbox sprechen würde! Und so viel Polizist bist du auch, dass du das verstehst!«

Überrascht schaute Protnik auf, versuchte aber noch ein letztes Mal, sein Schneckenhaus zu verteidigen: »Und was ist mit dem Telefon auf dem Wildenstein? Dann hättest du halt direkt da angerufen und mich holen lassen!«

»Ich habe aber in meinem Auto kein Telefonbuch!« Wieder ließ Horst seine Faust auf den Tisch niederfahren und wiederum handelte er sich damit erboste Blicke der anderen Gäste ein. »Und ich bin auch kein solches Genie wie offensichtlich du und kann mir alle Telefonnummern auswendig merken! Außerdem haben wir es eilig gehabt, zu Recht, wie ich dir ja bereits erzählt habe. Fast die ganze Gesellschaft war ja schon versammelt, als wir angekommen sind. Glaub das jetzt oder lass es bleiben!« Verstimmt wandte er sich ab und starrte auf den See hinaus.

Protnik merkte, dass es jetzt an der Zeit war, sich aus dem Schmollwinkel heraus zu begeben. »Also gut, ist schon recht so!« Er blickte sich suchend um. »Aber was machen die hier eigentlich mit dem Eis? Müssen die erst zum Bauern und eine Kuh melken, oder was? Also, so lange …«

Ein überraschter Ausruf Claudias unterbrach ihn. »Na, schau mal einer an! Der hat ja wirklich überall die Finger im Spiel!« Damit breitete sie die Zeitung auf dem Tisch vor ihnen aus und deutete auf ein Foto im Lokalteil. Da­rauf waren zwei Strahlemänner abgebildet, die sich offensichtlich kräftig die Hände zu schütteln schienen. Über den beiden prangte an der Wand ein stilisierter Lorbeerkranz, der die Zahl 25 umrahmte: Es handelte sich um das 25-jährige Jubiläum der Tauchschule »Devil Divers« aus Konstanz. Die Bildunterschrift klärte die Leser über die bedeutungsvolle Tatsache auf, dass der eine Strahlemann (der stolze Besitzer der Tauchschule) vom anderen Strahlemann neben den herzlichsten Glückwünschen zum 25-Jährigen auch noch einen Scheck über 5.000 Mark überreicht bekommen hatte, mit denen er die schon lange geplante Ausbildung seiner Schüler zu Rettungstauchern im Interesse der Allgemeinheit intensivieren konnte.

Auch Horst hatte sich interessiert über die Zeitung gebeugt. »Na, da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!« Wieder hieb er mit der Faust auf den Tisch, doch die Nachbarn schienen sich allmählich daran gewöhnt zu haben, dass da einer neben ihnen saß, der von einer seltenen Nervenkrankheit geplagt war, die ihn offenbar alle 60 Sekunden zu unkontrollierten Faustschlägen auf die Tischplatten von Eiscafés trieb. »Das ist er, Protnik, da, guck: Das ist der Hefter, der Kiesbaron!«

Protnik griff sich die Zeitung. »Aha – also so schaut der aus! Der Sonnyboy in Person!«

Horst nickte heftig. »Sag ich doch! Der würde wahrscheinlich auch noch lächeln, wenn er dir das Messer zwischen die Rippen stoßen würde, da wette ich! Und jetzt ist er also auch noch großartiger Mäzen im Tauchsport! Ich bin gespannt, wie lange noch …« Damit lehnte er sich zurück und ließ seinen Blick gedankenverloren über die Promenade schweifen.

Claudia nahm den Gesprächsfaden auf. »Du hättest den sehen müssen, als der Polizist mit der Akte angekommen ist!«

Irritiert blickte Protnik von der Zeitung auf: »Welche Akte?«

»Na die, aus der klar hervorgeht, dass die Firma ›Bodenseekies‹ insgeheim wieder mal – wie schon öfter – ihre Kiesgrube ganz einfach zehn Meter tiefer ausgebaggert hat, als das vom Landratsamt erlaubt worden ist!«

Protnik zuckte die Achseln. »Na und? Das kostet den doch höchstens ein Butterbrot, und außerdem sind der Hefter und der Landrat ja anscheinend ganz dicke Freunde – Rotary-Freunde!«, fügte er zynisch lächelnd noch hinzu.

»Abwarten! Ich bin noch nicht fertig.« Claudia atmete noch einmal tief durch, bevor sie weitersprach. »Also: Das mit dem viel zu tiefen Baggersee ist gar nicht das entscheidende Problem …«

Doch wieder wurde sie von Protnik unterbrochen. »Wie, Baggersee? Ich denke, es handelt sich um eine Kiesgrube? Was jetzt: Baggersee oder Kiesgrube?«

»Beides! Aus jeder Kiesgrube, kannst du im Großen und Ganzen sagen, wird hier unten ein Baggersee. Der Grundwasserspiegel ist so hoch, da läuft dir fast jedes Loch, das du ausbaggerst, zum Baggersee voll. Also – verstanden?«

Protnik nickte stumm.

»Gut!« Noch einmal holte sie tief Luft. »Der Baggersee ist zehn Meter tiefer als erlaubt, die ›Bodenseekies‹ hat also einen viel höheren Gewinn gemacht – und das wahrscheinlich an der Steuer vorbei –, als das ursprünglich geplant war. Aber jetzt kommt’s! Das alles war ein Klacks gegen den Gewinn, den sie mit der illegalen Beseitigung von Sonderabfall gemacht haben!« Claudia machte eine bedeutungsschwere Pause. »Dem Hefter gehört nämlich nicht bloß die Kiesfirma, sondern auch noch eine Ent­sorgungs­firma. Mit der bedient er den halben Landkreis!«

»Kunststück, bei den Beziehungen!«, brummte Protnik.

»Eben. Aber dass die Akte, die sie beschlagnahmt haben, beweist, dass der Thomas Grundler auf der richtigen Spur war, das ist jetzt der eigentliche Hammer. Die Ent­sorgungsfirma ›Seerein‹ hat nämlich nicht bloß die Mülltonnen vor dem Haus geleert, sondern auch noch eine Tochterfirma gehabt, wie das heute halt so üblich ist. So viele Firmen gründen, bis kein Steuerprüfer und kein Staatsanwalt mehr durchblickt!« Claudia sah auf. »So ist das eben! Alles klar bis dahin?«

 

Protnik hob auffordernd das Kinn. »Klar! Mach weiter!«

»Also: Bei dieser Tochterfirma der ›Seerein‹ handelt es sich um das Unternehmen ›Seaclean‹ …«

»Wie originell …«

»Eben! Auf jeden Fall hatte die ›Seaclean‹ einzig und allein den Zweck, Sonderabfälle einzusammeln: hauptsächlich wieder – man höre und staune – in Einrichtungen, die der Landkreis betreibt, also zum Beispiel in Krankenhäusern!«

»Na, fantastisch!«

»Ist ja zunächst mal nichts dagegen zu sagen und mit Sicherheit so leicht auch nichts zu beweisen, was da in Richtung Mauschelei und so weiter deuten könnte. Die ›Seaclean‹ befreite also das Krankenhaus in Konstanz in diesem Fall von seinen radioaktiven Abfallprodukten, wie sie beim Röntgen und so weiter halt anfallen. Diese Produkte sollten von der ›Seaclean‹ entsorgt werden, so wie es das Gesetz eben vorschreibt!«

»Aha! Da also liegt der Hase im Pfeffer!« Protnik schüttelte den Kopf. »Und da haben sie halt ein bisschen was falsch verstanden und aus Versehen halt die Soße in den Baggersee gekippt – richtig?«

»Richtig!« Claudia rieb Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand aneinander. »Und damit zufälligerweise halt auch ein bisschen mehr verdient! Und das seit ein paar Monaten schon!«

Horst stützte sich mit beiden Hände auf die Tischplatte. »Und genau dieser Sauerei ist Thomas Grundler auf die Spur gekommen, deshalb hat er auch dort im Baggersee getaucht – ganz allein übrigens, weil er keinem mehr getraut hat. Weil zum Beispiel die Wasserproben, die er dort gezogen hat, sich im Labor in ganz normales unbelastetes Bodenseewasser verwandelt hatten. Er hat es zwar nie beweisen können, dass die Proben vertauscht worden sind, aber er hatte eindeutige Anhaltspunkte, dass es so war. Und jetzt war er kurz davor, die Bombe hochgehen zu lassen! Als er gemerkt hat, dass auch Alex Winter hinter einer Story um den Kiesbaron herum dran war, da haben sie vorsichtig und misstrauisch, wie die beiden waren, die ersten Informationen ausgetauscht. Die wollten sie erst mal überprüfen und auf ihren Wahrheitsgehalt abklopfen. Es war ja wie gesagt ein Riesending! Leider haben sie sich zu viel Zeit gelassen«, bitter verzog Horst das Gesicht. »Und das hat sie ihr Leben gekostet!«

Eine Zeit lang blieben sie regungslos am Tisch sitzen, bis schließlich Protnik die Stille unterbrach. Suchend blickte er sich um. »Was ist denn jetzt mit den Eisbechern? Hallo, Bedienung! Aha, sie hat genickt! Na, hoffentlich wird das noch was heute!« Damit wandte er sich wieder Claudia zu und deutete mit dem Zeigefinger auf das Foto in der Lokalzeitung. »Immerhin wird der dann so schnell keine solchen schönen Spendenfotos mehr von sich machen lassen können, unser Kiesbaron!«

»Von wegen!« Claudia schnaubte empört. »Der ist, wie es den Anschein hat, völlig aus dem Schneider! Denn erstens gehören ihm noch eine ganze Reihe anderer Firmen, zweitens hat er natürlich von all dem überhaupt nichts gewusst und drittens geht aus der beschlagnahmten Akte klipp und klar hervor, dass sämtliche Unterschriften und Anweisungen nur von seinem Geschäftsführer – ein Kerl namens Wälder – vorgenommen worden sind. Und der ist momentan nicht aufzufinden!«

»Das glaube ich nicht! So einfach kann das doch nicht ausgehen!« Protnik schnappte nach Luft.

»Wird es aber!«, beruhigend legte ihm Horst die Hand auf den Unterarm. »Da kannst du Gift drauf nehmen. Schließlich ist der arme Dr. Hefter jetzt völlig außer sich vor Empörung und hat als Erstes seinen Geschäftsführer gefeuert, in dessen Abwesenheit! Und natürlich wird er den Schaden – wenn es sein muss auch aus der eigenen Tasche – unverzüglich wiedergutmachen. Er ist ja schließlich ein Ehrenmann!« Auch in Horst stieg Bitterkeit auf, wenn er daran dachte, wie schnell sich der Kreis wieder geschlossen hatte und Landrat samt Polizeichef verständnisinnig ihren Rotary-Freund beschwichtigt hatten. »Und selbstverständlich darf nichts nach außen dringen – ist ja klar! Das wäre dann Geschäftsschädigung, wo der Arme doch nichts dafür kann und nur sein verbrecherischer Geschäftsführer, der wahrscheinlich längst auf der Flucht ist, Kenntnisse über die Umweltsauerei gehabt hat!« Missmutig ballte er die Fäuste.

»Ist ja nicht zu fassen«, murmelte Protnik erschüttert. »Das kann es doch wohl nicht gewesen sein!«

»Ich fürchte doch! Ich sehe nur noch einen einzigen Strohhalm, aber der ist mehr als mickrig!« Horst wagte es kaum, seine Beobachtung, vielleicht den allerletzten Trumpf, über den sie verfügten, auszusprechen.

»Und was ist das?« Neugierig starrte ihn sein Kollege an. »Na komm, sag schon, mach’s nicht so spannend!«

»Na ja, Michael. Du erinnerst dich ja noch an unsere Höllenfahrt da auf der Heiligenberger Steige!« Horst begann leise, als fürchte er, allein durch allzu große Lautstärke könne er die letzte Hoffnung, doch noch zu einer Lösung des Falls zu kommen, in den Wind blasen.

»Allerdings – und wie! Diese Fahrt werde ich mein Leben lang nicht vergessen!«

»Eben – ich auch nicht! Diese Bilder haben sich in meinem Kopf festgebrannt wie auf einer CD! Und du hast mich doch noch gefragt, ob ich den Fahrer habe erkennen können!«

»Richtig«, nickte Protnik. »Du hast da etwas von einem dunklen Schnauzbart erzählt, aber sonst …«

»Na ja, wenn du jemanden noch nie vorher gesehen hast! Aber jetzt habe ich ja das Bild im Kopf und deshalb …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, während die anderen ihn ungeduldig musterten. »Da war so ein Foto im Büro der »Bodenseekies«, so ein ganz großes, gerahmtes. Und da war die ganze Belegschaft abgebildet – vor ihren sämtlichen Fahrzeugen. Und der Typ, der da vor einem dieser LKW gestanden hat, also ich war mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube fast, das könnte unser Mann gewesen sein …«

»Na bitte!«, begeistert hieb nun Protnik mit der Faust auf den Tisch. »Also schauen wir uns die ganze Belegschaft durch und schnappen das Schwein!«

»Einverstanden! Nur dass das sicher nicht an einem einzigen Tag gehen wird und Mithilfe bei den Kollegen würde ich eigentlich eher nicht wollen, denn sonst ist ja sofort wieder unser Preisboxer bei der Direktion informiert und dann der Landrat und danach: Man kann sich’s ja leider denken …«

»Sei’s drum, dann schieben wir halt noch ein paar freie Tage nach«, Protnik war in seinem Tatendrang kaum noch zu bremsen. »Die werden zwar vor Begeisterung Purzelbäume schlagen, bei dir und bei mir in der Direktion! Aber wenn wir die Geschichte dann wasserdicht gemacht haben, dann lassen sie’s uns wohl durchgehen, wenn wir …« Sein Redeschwall wurde von der Bedienung unterbrochen, die mit drei Gläsern auf einem Serviertablett an den Tisch kam.

»Entschuldigung …, darf ich?« Damit stellte sie die hübsch dekorierten Gläser mit buntem Inhalt vor ihre überraschten Gäste.

»Ja schon, aber das haben wir gar nicht bestellt! Eigentlich wollten wir drei Eisbecher …«, stellte Claudia den offensichtlichen Irrtum richtig.

»Und auf die warten wir schon seit einer Ewigkeit«, setzte Protnik noch hinzu.

»Eben!«, die Bedienung, ein zierliches dunkelhaariges Mädchen von vielleicht 17 Jahren, lächelte schüchtern. »Eine Entschuldigung des Hauses, weil es so lange gedauert hat. Ein Glas Zitronensaft auf Eis mit unserem Hauslikör auf Rechnung des Chefs. Ich bitte nochmals um Entschuldigung! Die Eisbecher sind ebenfalls fertig, ich werde sie Ihnen jetzt sofort bringen. Entschuldigung!« Und damit huschte sie von dannen.

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